Ein neurobiologisch inspirierter Nachtrag zum Aufsatz "Humes Metaphysik" des Verfassers in der vorhergehenden Tabula rasa
In der Tabula rasa 7, 22-29, Jan.1995 argumentierte ich, daß der "natürliche Glaube" bei David Hume nur vordergründig das leistet, was er leisten soll, nämlich plausibel zu machen, warum wir (und alle anderen Angehörigen der im "struggle for life" erfolgreichen Arten) dem Kausalprinzip vertrauen und bei unserer Handlungsplanung darauf bauen, wo es doch mit logischen Mitteln nicht zu rechtfertigen ist - was allerdings eine Einsicht ist, die bisher allein den Menschen beunruhigte.
Zur Erinnerung: Hume betrachtete kausale Verknüpfungen als Produkte der menschlichen Einbildungskraft. Von wiederholt als zusammen aufgetreten beobachteten Ereignissen bilden wir uns irgendwann ein, sie seien kausal verbunden. Das eine sei die Ursache des anderen (der Wirkung) und diese Beziehung zwischen beiden sei dadurch dauerhaft fixiert und gelte beispielsweise auch für die Zukunft. Diese induktive Verallgemeinerung aber ist unzulässig. Denn sie setzte den Glauben an die Konstanz des Naturverlaufs voraus, der selbst aber induktiv nicht beweisbar ist. Den Ausweg sah Hume darin, diesen speziellen Glauben als "natürlich" auszuzeichnen - als ein Geschenk der Natur an ihre Geschöpfe, ohne welches diese nicht lebensfähig wären. In der Tat macht die Übung eines Pferdes, mit dem Huf die Festigkeit des Eises zu prüfen, bevor es sich daraufwagt, nur Sinn, wenn dieses Verhalten tatsächlich Auskunft über die Festigkeit des Eises gibt und das Pferd dem auch vertrauen kann. Der zugrundeliegende Lernprozeß (sei er nun individueller Art oder ein kollektiver, in dem die Erfahrungen vergangener Pferdegenerationen in die Instinktausstattung unseres Beispielpferdes Eingang fanden) kann nur vor dem Hintergrund einer konstanten Natur zu verläßlichen Ergebnissen führen.
So scheint der natürliche Glaube als Antwort auf das Induktionsproblem zunächst ganz brauchbar zu sein. Auf die Frage "Warum läßt uns das Induktionsproblem kalt?" bekommen wir von Hume die Antwort "Weil die Natur es so eingerichtet hat". Daran schließt sich aber sofort unsere neugierige Frage "Und wie hat sie das gemacht?" an, und auf diese bleibt uns Hume eine Antwort schuldig. Das aber ist fatal, denn so bleibt der natürliche Glaube ein leerer Begriff, durch nichts anderes bestimmt als durch seine Funktion, das Induktionsproblem aufzuheben. Aber daß wir für diese Schwierigkeit eine Lösung suchen, das wußten wir ja schon.
Abb. 1: Nachbildeffekt
Muß Humes Antwort allerdings defizitär bleiben? Moderne Neurobiologie und Hirnforschung könnten auf gutem Wege sein, dem Problem abzuhelfen. Am 9. Februar 1995 war in Weimar ein bedeutender Vertreter dieser Zunft zu Gast: der Neurobiologe Ernst Pöppel sprach über "Aufbau und Zerstörung von Wirklichkeit(en)". (Äußeres Insignium des Ruhms war ein dicker Dienstwagen mit Fahrer.) Pöppel thematisierte die Informationsverarbeitung im Gehirn - mit der zentralen Aussage, daß aus dem Zusammenwirken von Sinnesorganen (z.B. Augen) und schwabbeliger grauer Masse kein getreues Abbild der Außenwelt erwächst, sondern stets ein gerüttelt Maß an Interpretation der ankommenden Signale durch das Gehirn mit dabei ist, die "Wirklichkeit" mithin erst konstruiert wird. Dazu gehören z.B. die verzerrten Nachbilder farbiger Quadrate. Ursache ist dabei die Ermüdung der für das Farbensehen zuständigen Sinneszellen (Zäpfchen) in der Netzhaut. Im Nachbild erkennt man also den Gegenstand so, wie er auf die Netzhaut abgebildet wurde - was nicht mit dem Bild, das wir uns von dem Gegenstand machen, übereinstimmen muß. Der Leser ist aufgerufen, das mit der nebenstehenden Abbildung im Selbstversuch zu erproben. Dazu muß aber erst die umrandete Fläche rot ausgemalt werden. (Leider wird die Tabula rasa noch nicht in Farbe gedruckt. Bei schwarzen Objekten ist der Nachbildeffekt aber aufgrund der geringeren Ermüdung der für das Hell/Dunkel-Sehen verantwortlichen Sinneszellen zu gering.) Halten Sie die Zeitschrift mit der Abbildung seitlich vor sich hin und betrachten Sie ca. zwanzig Sekunden konzentriert den roten Rahmen. Richtet man den Blick dann unmittelbar auf die freie weiße Fläche, so erscheint im Zentrum leicht rötlich das Nachbild und zeigt an, was nach den Gesetzen der geometrischen Optik auf die Netzhaut abgebildet wurde.
Ein anderes Beispiel ist der Craik-O'Brien-Effekt (vgl. von Randow: Der versteckte Teddybär, Zeitmagazin Nr. 10 vom 3.3.95): zwei Hälften einer Graufläche, die durch einen schattierten Strich geteilt wird, erscheinen unterschiedlich hell. Erst nach Abdecken des Strichs erkennt man die Täuschung. Und was passiert im Kino? Tatsächlich bekommt man dort eine schnelle Folge von einzelnen Standbildern (24 pro Sekunde?) gezeigt. Weil das aber das zeitliche Auflösungsvermögen des Gehirns übersteigt, entsteht der Eindruck kontinuierlicher Bewegung. Ob das mit dem Zeittakt von etwa zwei bis drei Sekunden zusammenhängt, innerhalb dessen das Gehirn die verschiedenen Sinneswahrnehmungen von Auge, Ohr, Tastsinn, Geruch zu einem Gesamtbild zusammenzubauen scheint (vgl. Pöppel), bleibt vorerst Spekulation.
Wie können diese Beispiele für Wirklichkeitsinterpretation und -konstruktion nun dazu benutzt werden, um das Konzept des Natürlichen Glauben mit Inhalt zu füllen? Was wir brauchen sind empirische Belege dafür, daß äußere Einflüsse unser Erkenntnisvermögen, unsere Kategorien der Weltwahrnehmung mitgestalten. Das war schließlich die, unbelegte, Behauptung David Humes. Die Natur soll es so eingerichtet haben, daß wir dem Kausalprinzip vertrauen. Von einer neurobiologischen Begründung, warum Menschen so gerne Ursache-Wirkung-Ketten basteln, kann zwar noch längst keine Rede sein (und möglicherweise bekommen wir die auch nie). Aber immerhin gibt es starke qualitative Hinweise auf die gesuchte Beeinflussung unseres Denkapparates durch die Umwelt. Da wären z.B. die armen Katzen, die in einer monotonen längsgestreiften Umgebung aufwachsen mußten und später in einer quergestreiften orientierungslos umhertorkelten. Oder die Entdeckung, daß Ratten mit Gehirnen geboren werden, in denen die Zahl der Nervenzellen bereits fast so hoch wie bei erwachsenen Ratten ist. Jede Nervenzelle allerdings erst etwa vierzehn Kontakte mit Nachbarzellen hat. Sobald die Ratten die Augen öffnen (Ratten werden blind geboren), schnellt diese Zahl explosionsartig innerhalb von etwa zwei Wochen auf 8000 pro Zelle hoch. Hält man die Ratten künstlich blind, indem man ihnen die Augen zubindet, so bleibt die Zahl der Verschaltungen niedrig. Und nach mehreren "dunklen" Monaten ist das Defizit nicht mehr aufzuholen. Die Ratten blieben blind. (Die Beispiele stammen aus dem Buch von Frederic Vester "Denken, Lernen, Vergessen", DVA, Stuttgart 1975, basierend auf der gleichnamigen Fernsehsendung, die 1973 in Deutschland Furore machte.) Ähnliches ist von menschlichen Säuglingen bekannt. Das Gehirn des Neugeborenen enthält bereits annähernd so viele Nervenzellen wie das eines Erwachsenen. Aber die Verbindungen zwischen ihnen über Axone und Synapsen bilden sich explosionsartig in den ersten Lebensmonaten aus - und zwar in Abhängigkeit von der von außen eingespeisten Information. Das Gehirn richtet sich auf eine effektive Verarbeitung der in der ersten Zeit ankommenden Signale ein (vgl. die gestreiften Katzen). Da haben wir die gesuchte Beeinflussung des Erkenntnisapparates durch die Umwelt (Natur)!
Der Prozeß - die Entwicklung der "Hardware" - hält abgeschwächt einige Jahre an und ist spätestens mit fünfzehn beendet (vgl. Pöppel). Danach ändert sich nichts mehr. Die Nervenzellen teilen sich nicht; es kommen keine mehr hinzu und die Verbindungen werden auch nicht umstrukturiert. Unser Gehirn - ein treuer Freund, der mit uns unverändert durchs Leben geht. Das muß auch so sein. Würde das Gehirn via Zellteilung ständig umgebaut, dann ginge das in der neuronalen Verschaltung konservierte Gelernte immer wieder verloren und auch das Langzeitgedächtnis, das mit dauerhaften chemischen Veränderungen in den Hirnzellen arbeitet, könnte nicht funktionieren. Nur ab und an gehen Zellen kaputt - schlechte Nachrichten für Freunde des Vollrauschs.
Mehr als qualitative und sehr pauschale Aussagen über den Aufbau des neuronalen Netzes in Abhängigkeit von Umwelteindrücken sind nicht möglich. Ob auch je eine Art Kochrezept für kleine Einsteins aus diesen Forschungen herausspringt, etwa "Nehmen sie ihren Säugling stündlich auf den Arm und drehen sich fünfmal um sich selbst. Das erhöht die Netzdichte im Geniezentrum.", ist doch überaus fraglich. Immerhin scheint sich als Erziehungsmaxime zu ergeben, den Säugling möglichst vielfältigen Sinneseindrücken auszusetzen, um ihm das Schicksal der unter sensorischer Deprivation leidenden Ratten und Katzen zu ersparen.
Der Versuch, Humes Konzept ein klein wenig mit Inhalt zu füllen und an moderne empirische Forschungen, und umgekehrt diese an das Konzept, anzupassen, war also erfolgreich. Das ist doch ein schönes Ergebnis und durchaus nicht selbstverständlich. Kants Erkenntnistheorie mit ihren apriorischen kategorialen Setzungen zeigt sich da um einiges spröder. Vielleicht ist dieser Vergleich aber auch einigermaßen unfair. Schließlich gilt Hume, wenn auch weder ganz zu Recht bzw. Unrecht (vgl. meinen Artikel im letzten Heft), als Empirist. Und so muß das Zusammenstimmen seiner Erkenntnistheorie mit dem Weltbild der modernen empirischen Naturwissenschaft (hier: Hirnforschung) nicht unbedingt überraschen.
Auf jeden Fall müßte aber dem Eindruck widersprochen werden, philosophische Fragen würden, wenn überhaupt, im Labor entschieden, auch wenn im konkreten besprochenen Fall die Hilfestellung für einen großen Philosophen von dort kommt. Aber auch über diesen letzten Punkt herrscht, wie so oft, selbst unter den Philosophen keine Einigkeit.