Christian Schäufler
Es gibt eine bestimmte Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes betrachtet und das, was diesem an ihm selbst von Grund auf zukommt. (Aristoteles, Metaphysik, Γ 1:1003a 21)
Die von Aristoteles beschriebene Wissenschaft des Seienden wird heute unter der auf Goclenius zurückgehenden Bezeichnung Ontologie geführt (Goclenius: 1613, vgl. Kremer: 1984). Unter diesem Namen ist im Laufe der Zeit einer Vielzahl von unterschiedlichen Fragestellungen nachgegangen worden. Wie das Wort ‚Ontologie‘ (vom griechischen on seiend und logos, der Lehre) andeutet, beinhalten alle eine Untersuchung der allgemeinen Natur oder der Kategorien des Seins. Betrachtet man wiederum die Gesetze, die eine solche Wissenschaft hervorbringt, läßt sich die Frage stellen, von welcher Art diese selbst sind. Der Gesichtspunkt unter dem ontologische Gesetze in diesem Aufsatz beleuchtet werden sollen, knüpft an eine Unterscheidung an, die G. Frege auf die Gesetze der Logik anwendete (Frege: 1967, 342). Er unterscheidet Gesetze „die befolgt werden sollen, mit denen das Geschehen nicht immer im Einklang steht“ und jene die „das Allgemeine des Naturgeschehens“ widerspiegeln. Diese Unterscheidung zwischen präskriptiven und deskriptiven Gesetzen soll um eine weitere Kategorie ergänzt werden, die des konstruktiven Gesetzes. Konstruktiv sind solche Gesetze, die als Anleitung zur Gestaltung der Wirklichkeit dienen. Die Einflußnahme auf die Wirklichkeit braucht dabei nicht nur – radikal konstruktivistisch – epistemisch verstanden zu werden, indem die Welt qua anderer Kategorien verändert wirkt, sie kann vielmehr – im Sinne eines Bauplans – real sein. Konstruktive Ontologien zielen damit auf ein gestaltendes und kreatives Erschaffen von Artefakten und eine Veränderung der Umwelt ab.
Ontologische Aussagen können in zwei Arten unterschieden werden: 1) Zum einen solche, die anführen, was in der Welt ist und in welchem Verhältnis die Arten des Seienden zueinander stehen. J. Sowa trägt verschiedene solcher Ontologien von Aristoteles über Leibniz, Kant, Heidegger bis Peirce und Whitehead zusammen und rekonstruiert diese mitunter als Taxonomie (Sowa: 2000). 2) Zum anderen solche, die das Wesen des Seins selbst zu explizieren versuchen. Mit der Verwendung im Plural sowie im englischsprachigen mit kleinem ‚o‘ – Ontologien (ontologies) – wird mitunter eine Fragestellung der ersten Art adressiert, während die Verwendung im Singular und im englischen mit großem ‚O‘ Untersuchungen der zweiten Art andeutet (Guarino: 1998, 2). Der Fokus dieser Arbeit liegt auf einer Charakterisierung von Ontologien. Da solche auch außerhalb der Philosophie, namentlich in der Informatik sowie den Life-sciences anzutreffen sind, kommt ihnen eine besondere Stellung zu. Die in verschiedenen Disziplinen entstammenden Ontologien in einem gemeinsamen Rahmen betrachtet, soll in dieser Arbeit die Entwicklung, einer neuen Qualität von Ontologien herausgestellt werden.
In Abschnitt 2 wird zunächst der Hintergrund der Verwendung des Ontologiebegriffes außerhalb der Philosophie beleuchtet. In Abschnitt 3 sollen orientiert an (Smith: 2001) drei Konzepte vorgestellt werden, welche die verschiedenen, vermeintlich weit auseinanderliegenden Verwendungsweisen im Erstellen von Ontologien unter einen Begriff zu bringen versuchen. Im abschließenden Abschnitt 4 werden Ontologien dann bezüglich des Charakters ihrer Gesetze untersucht. Daraus wird schließlich eine These abgeleitet, wie sich der pragmatische Anspruch verschiedener Verständnisse des Ontologisierens über die Zeit entwickelt hat.
In der Informatik sind auf den Gebieten des Datenbankmanagements, der Softwareentwicklung sowie der Wissensrepräsentation unabhängig von der philosophischen Tradition und untereinander unabhängig, Verfahrenstechniken entwickelt worden, deren zentrale Instrumente heute als Ontologien bezeichnet werden. Entwickler von Datenbanken und Wissensrepräsentationssystemen befanden sich in einer Situation, die sich mit dem Turmbau zu Babel vergleichen läßt (Smith: 2008). Die Inhalte von Datenbanken und Wissensbasen verschiedener Parteien waren fest an ihren jeweiligen Anwendungen gebunden und nur schwer austauschbar. Datenbanken bedurften zunächst einer Beschreibung der Bedeutung ihrer Daten, in Wissensbasen hielt die Unterscheidung zwischen terminologischem und assertionalem Wissen Einzug. Auf explizit gemachten Terminologien aufbauendes Wissen gewann an Unabhängigkeit von Softwaresystemen, war leichter zu warten und besser wiederverwendbar. Vor das Sammeln von Faktenwissen rückte die Frage nach Begriffen und Eigenschaften für adäquate Beschreibungen innerhalb des Interessenbereichs, der sogenannten Domäne. Die Verwandtschaft zwischen dem Sammeln terminologischen Wissens und der Ontologie als philosophischer Disziplin wurde erst durch (McCarthy: 1980) aufgezeigt.
Zu den wichtigsten Anwendungsgebieten der Wissensrepräsentation zählt die moderne Biologie. Biologen stehen vor dem Problem, daß in verschiedenen Teilbereichen, von der molekularen, über die genetische bis hin zur Ebene der Spezies, beständig neue Fachtermini und Namen Einzug halten, womit ein Austausch von Daten und Erkenntnissen über Fachgebietsgrenzen hinweg erschwert wird. Eine breit angelegte Initiative zur Schaffung eines vereinheitlichten Vokabulars für die Biowissenschaften ist die Gene Ontology. Die in ihrem Rahmen entstandene Ontologie umfaßt über 20.000 Terme und findet millionenfache Anwendung (GO: 2006, D323). Ein anderes Projekt zur terminologischen Vereinheitlichung in den Life-sciences ist die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD, engl.: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10). Die inzwischen 10. Ausgabe ICD-10 erlaubt eine Klassifikation von über 14.000 Diagnosen. In Deutschland ist die Diagnose nach ICD-10 für Einrichtungen der vertragsärztlichen Versorgung verpflichtend. Die ICD-10 dürfte eine der am weitesten verbreiteten Ontologien überhaupt sein.
Neben der Repräsentation von Wissen und von Daten gibt es in der Informatik einen dritten Bereich, in dem ‚Ontologie‘ betrieben wird. Innerhalb der Softwaretechnik hat sich – unabhängig von der Wissensrepräsentation – die Methodologie des Domain Modelings entwickelt. Deren Grundidee ist es, die Komplexität einer Aufgabenstellung zu reduzieren, indem das zunächst implizite Domänenwissen in Form eines konzeptuellen Modells expliziert wird (Arango: 1991). Dies beinhaltet die verschiedenen Entitäten der Domäne, deren Eigenschaften und Relationen sowie zusätzliche Aussagen in Form formal-logischer Nebenbedingungen – sogenannter Constraints. Der Softwareentwickler beginnt damit nicht mehr mit dem Erstellen von Programmcode, sondern mit der Beantwortung der Frage: „Was ist in der Welt?“ Das dadurch definierte Vokabular erleichtert die inhaltliche Kommunikation zwischen den verschiedenen, an großen Projekten beteiligten Parteien. Moderne Entwicklungsumgebungen erlauben darüber hinaus ein visuelles Bearbeiten von Domänen-Modellen sowie die direkte Generierung eines Programmcode-Grundgerüstes. Die Parallelen zur Ontologie sind erst im Bestreben nach der Definition einer Semantik für Domänen-Modell-Formalismen gewahr geworden. Eine Semantik, welche die klassischen Formalismen der Wissensrepräsentation, nämlich Beschreibungslogiken, bereits besitzen (Van Der Straeten: 2003).
Insgesamt läßt sich feststellen, daß auch außerhalb der Philosophie in großem Maßstab ‚Ontologie‘ betrieben wird.1 Als gemeinsamer Ausgangspunkt läßt sich in allen Fällen die Frage nach den Gegenständen und Eigenschaften in einem Ausschnitt der Welt feststellen. Ob darüberhinaus eine Verwandtschaft mit philosophischen Ontologien ausgemacht werden kann, soll im folgenden Abschnitt beleuchtet werden.
Um eine genaue Antwort auf die Frage geben zu können, ob der im vorhergehenden Abschnitt vorgestellte Sprachgebrauch von Ontologien in der Informatik mit dem der Philosophie vereinbar ist, müßte zunächst eine jeweils eine Definition angegeben werden. Da nicht zu erwarten ist, daß eine solche wenigstens innerhalb der Philosophie auf allgemeine Zustimmung stößt, soll ein anderer Weg verfolgt werden: Ontologien sollen anhand dreier unabhängiger Eigenschaften charakterisiert werden. Anstatt eine Grenze zu definieren, wird ein konzeptioneller Raum aufgespannt, in dem sich verschiedene Verständnisse von Ontologie in Teilbereichen widerspiegeln. Diese Methode zur Beschreibung von Bedeutung entspricht den conceptual spaces bei (Gärdenfors: 2004) und wird in ähnlicher Weise zur graduellen Charakterisierung naturwissenschaftlicher Gesetze bei (Mitchell: 2003, 146) gebraucht. Ontologien sollen hier in den Eigenschaften ihres metaphysischen Verständnisses, ihres Grads an Komplexität sowie des Abstraktheitsgrads der Domäne beschrieben werden.
Auf die Frage, worin die Geltung einer Antwort auf die ontologische Grundfrage „Was ist in der Welt?“ besteht, geben kontinentale Philosophen typischerweise eine andere Antwort als analytische. Carnap verallgemeinert dies in der Unterscheidung zwischen internen und externen Fragen, wobei die Beantwortung letzterer einen direkten, von Sprache und Erkenntnisvermögen unabhängigen Zugang zur – wie auch immer gearteten – Realität erfordert, während interne Fragen erst in einem sprachlichen Rahmen beantwortet werden können.
Für den kontinentalen Philosophen ist die ontologische Grundfrage in ihrem Wesen extern. Er sucht Auskunft über die Konstituenten der Welt – seien es in einer idealistischen Weltsicht geistige Entitäten, oder in einer realistischen, reale Gegenstände. Mehr noch – (Smith and Mark: 2003) bemerken, daß rein pragmatisch, kategorial verstandene Ontologien, wie sie in der Softwareentwicklung entstehen, über Existenz gar keine Aussage machen. So beziehen sich dort Existensaussagen höchstens auf Gegenstände, von denen ist in Ontologien als reinen Systemen von Begriffen jedoch gar keine Rede. Nicht zuletzt aus dieser Überlegung, erscheint die Vorstellung von interner Metaphysik für kontinentale Philosophen als ein ‚hölzernes Eisen‘.
Die dem gegenüberstehende anylytische Haltung von interner Metaphysik faßt (Moulines: 1994, 184) wie folgt zusammen:
Jede Zerlegung unserer Erfahrungswelt in ontologische Kategorien ist theorieabhängig. […] Wer bestimmt, was es gibt, ist weder Gott noch die Welt – es ist die Theorie. Mit anderen Worten: Was es gibt, hängt davon ab, welche Theorie wir angenommen haben, und nicht umgekehrt.
Eines seiner Argumente basiert auf einer Unterscheidung zwischen type- und token-ontologies (Moulines: 2001): type-ontologies beschreiben die in der Welt erkannten Arten von Dingen samt deren Eigenschaften, während token-ontologies aus einer Aufzählung individueller Gegenstände bestehen. Von philosophischem und praktischem Interesse sind die Arten von Dingen und deren Eigenschaften, also types und nicht, welche Einzelgegenstände in der Welt sind. Über Individuen, nicht über deren Arten machen jedoch (token-)Ontologien Aussagen, wie sie von Realisten wie (Quine: 1948) – „To be is to be the value of a bound variable.“ – verstandenn werden. Die extern-metaphysische Frage nach der Existenz von Kategorien (types) in der Welt wird davon jedoch garnicht beantwortet und ist letztlich sinnlos (Carnap: 1928, 36). Die am weitesten verbreitete intern metaphysische Ontologiedefinition stammt von (Gruber: 1993, 1):
An ontology is an explicit specification of a conceptualization.
So unvereinbar beide Ansichten sind, die Unterscheidung zwischen interner und externer Metaphysik hat sich in der neueren Ontologiedebatte eingebürgert (Smith: 2008, 3). Darüber hinaus liegt es im Wesen der Sache, daß das metaphysische Credo für eine Antwort auf die Frage „was ist?“, wiederum gar keine Rolle spielt. An großen Ontologien wie der Gene Ontology arbeiten sowohl Realisten als auch ‚Konzeptionalisten‘ gemeinsam.
Mit der Informatik kam ein neues Kriterium für die Gegebenheitsweise von Wissen hinzu, das vorher kaum eine Rolle gespielt hatte – das der computationalen Verarbeitbarkeit. Der Informatiker ist bereit, auf Ausdrucksmittel und damit Universalität seiner Wissensbasis zu verzichten, sofern damit eine traktable computationale Verarbeitung gewährleistet bleibt. Innerhalb der Philosophie dagegen scheint mitunter selbst die viel reichhaltigere natürliche Sprache als Ausdrucksmittel zu schwach.
Aus Sicht der formalen Komplexität hingegen sind philosophische Schriften paradoxerweise nur wenig komplexer als eine reine Aufzählung von Kategorien, liegen jedoch (in dieser Reihenfolge) hinter einem Glosar, einem Thesaurus, einer Taxonomie oder einer Frames-basierten Beschreibung (Chaudhri: 1998) zurück. In dieser formalen Sichtweise bieten Ontologien in Form einer logischen Theorie die potentiell höchste Komplexität (Smith: 2001).
Philosophische Ontologien und solche der Informatik unterscheiden sich nach diesem formalen Kriterium nur graduell, und nicht kategorial. Beide finden lediglich unterschiedliche Optima zwischen universellen aber nicht-formalen und ausdrucksschwachen aber formal komplexen Darstellungsformen. Es bleibt damit die pragmatischen Frage, an wen sich eine Ontologie richtet: An Erkenntnis interessierte Leser oder Ingenieuren von Wissensbasen oder Softwaresystemen.
Sofern sie nicht an Reduktionisten oder Kompositionalisten gestellt wird, resultiert die Frage nach dem was ist, in einer nicht enden wollenden Aufzählung von Kategorien, Unterkategorien, Unter-Unterkategorien usw.. Selbst eingeschränkt auf die allgemeinsten und universellen Arten von Dingen lassen sich immer noch unbegrenzt viele gleichwertige und vom Standpunkt abhängige Antworten erwarten – beispielsweise die des Materialisten, des Physikalisten, des Idealisten, des Alchemisten, des Psychologen, des Kosmologen, des Strukturalisten oder des Konstruktivisten. Anstatt bestimmte Ontologien anderen inhaltlich vorzuziehen, hat sich in der Informatik eine Einteilung nach ihrem Abstraktheitsgrad etabliert (Smith: 2008, 4). In der Mitte stehen Domain-level-ontologies, in denen Gegenstandsbereiche einzelner Fachdisziplinen ausgezeichnet werden, beispielsweise die bereits erwähnten GO oder ICD-10. Darüber stehen die Top-level-ontologies, in denen von der Domäne unabhängige, abstrakte Gegenstände und Relationen definiert werden, so z.B. Grundbegriffe der Arithmetik, der Topologie, der Mereologie oder der Zeit. Am unteren Ende der Skala stehen Application-ontologies in denen Domänen-Ontologien für konkrete Anwendungsfälle verfeinert werden. Disem modularen Aufbau folgend, kann eine top-level-Ontologie für topoligische Konzepte von einer Domänen-Ontologie zur geographischen Auszeichnung verwendet werden, welche wiederum die Basis für die application-ontology eines konkreten geoinformationssystems bildet. Der adressierte Anwenderkreis einer Ontologie verhält sich in seiner Größe umgekehrt proportional zum Grad der Abstraktion.
Insgesamt läßt sich feststellen, daß sich die Ontologien der Informatik und die der Philosophie in allen genannten Eigenschaften unterscheiden: Erstgenannte gehen von einer internen Metaphysik aus, sind – was die wichtigsten Vertreter angeht – Application-ontologies und sehr formal, in relativ ausdrucksschwachen Mitteln dargestellt. Dagegen sind die typischen philosophischen Ontologien mit dem extern metaphysischen Anspruch, die Welt ‚an sich‘ zu beschreiben und damit Upper-level-ontologies, die in einer sehr ausdrucksstarken Sprache – der natürlichen – verfaßt sind, welche jedoch kaum als formal gelten kann. Dennoch finden beide unter dem hier vorgeschlagenen Ontologiebegriff Platz. Dies soll im Folgenden an Hand zweier Top-level-ontologies aus Philosophie und Informatik veranschaulicht werden. Zu sehen ist eine Rekonstruktion der Aristotelischen Kategorien nach (Brentano: 1862; Sowa: 2000). Die Subsumtionsbeziehung zwischen zwei Begriffen ist durch eine Einrückung kenntlich gemacht.
- Being
- Accident
- Property
- Inherent
- Quality
- Quantity
- Directedness
- Containment
- Relation
- Substance
Man vergleiche dazu einen Ausschnitt aus dem Top-Level-Anteil der Cyg-Ontology, Teil eines Expertensystems von Alltagswissen (Lenat: 1995). Die gesamte Ontologie umfaßt 47000 Konzepte, welche durch 306000 Fakten in Bezug gesetzt werden (Lenat, 1995; Sowa: 2000):
- Thing
- Individual Object
- Event
- Stuff
- Intangible
- Collection
- Intangible Object
- Represented Thing
- Collection
- Relationship
- Slot
Während in Aristoteles' Modi des Seins ein extern metaphysisches Ontologieverständnis erkennbar ist, folgt Lenat einem an Frames angelegten Wissensmodell. Seine Frage lautet, in welchen Kategorien sich Wissen über die Welt adäquat repräsentieren läßt. Dennoch stößt man bei beiden auf sehr ähnliche Kategorien wie Materie (Substance, Stuff), Relation (Relationship, Relation), Eigenschaft (Property, Slot) oder komplexer Gegenständ (Containment, Collection).
Nachdem der Ontologiebegriff in den Charakterisierungen des vorigen Abschnitts eine Liberalisierung erfahren hat, wird in diesem Abschnitt eine Dimension herausgestellt, die ihm eine neue, starke Bedeutung beimißt – nämlich der Geltungs- und Wirkungsanspruch. Wie bereits eingangs erwähnt, soll jene Eigenschaft entlang drei Arten unterschieden werden: 1) deskriptive, 2) präskriptive (normative) und 3) konstruktive ontologische Gesetze.
1) Deskriptive Gesetze formulieren eine Beschreibung eines Gegenstandsbereichs, und stehen zu diesem in einem Abbildungsverhältnis. Das Urbild ist im Fall eines externen metaphysischen Verständnisses die Beschaffenheit der Realität, im Fall eines internen eine Konzeptionalisierung oder ein gängiger Sprachgebrauch. Da die in einer Ontologie spezifizierten Konzepte, bereits ein intuitives Vorverständnis mitbringen, handelt es sich in Begriffen der Definitionstheorie um Realdefinitionen, oder – um Verwechslungen mit (reinen) Nominaldefinitionen zu vermeiden – um Begriffsexplikationen. Deskriptive Gesetze finden sich auch im naturwissenschaftlichen Weltbild vor Kant, gemäß dem die Naturgesetze schon immer da gewesen sind und nur geschickt von der Welt abgelesen werden müssen. In ähnlicher Weise gehört es zum Selbstverständnis philosophischer Ontologie, die Dinge und Verhältnisse zu bestimmen, die bereits in der Welt sind.
2) In einem präskriptiven Verständnis dienen Gesetze dazu, Verhalten zu normieren oder vorzuschreiben. Wie es Frege bereits charakterisiert, müssen die tatsächlichen Verhaltensweisen nicht immer den Gesetzen entsprechen. Das unterscheidet sie von deskriptiven Gesetzen. Im Fall von ontologischen Gesetzen soll präskriptiv bzw. normativ bedeuten, daß – extern metaphysisch – ein Weltbild oder – intern metaphysisch – die Verwendungsweise von Wörtern bzw. eine Konzeptionalisierung normiert wird.
An ontology is a logical theory accounting for the intended meaning of a formal vocabulary, i.e. its ontological commitment to a particular conceptualization of the world. (Guarino: 1998, 7)
3) Präskriptiv verstandene Ontologien sind damit zum einen einer Wirklichkeitsbeschreibung qua einer Konzeptionalisierung verpflichtet, zum anderen stellen sie das Vokabular für eine erleichterte Kommunikation von Daten und Erkenntnissen innerhalb einer Sprechergemeinschaft.
Wenn auch in kleinerem Umfang und oft nur implizit, läßt sich die präskriptive Dimension auch in philosophischen Ontologien ausmachen. Betrachtet man Ontologien als kulturelles Artefakt, dienen sie – bewußt oder unbewußt – als ein Vehikel für das Weltbild, in welchem sich deren Urheber bewegt. Spätestens in der Systematisierung des Verhältnisses von Arten und deren Eigenschaften steckt ein kreatives Moment, welches als Vorschlag einer Ordnung normativ wirkt.
Die dritte ins Feld geführte und neue Graduierung ist der konstruktive Wirkungsanspruch. Konstruktive Gesetze sollen nicht nur das Verhalten lenken, sie bewirken einen Einfluß auf die Welt. Die Umsetzung konstruktiver Gesetze zieht eine veränderte Welt nach sich, der man sich nicht mehr – wie im Fall präskriptiver Gesetze – entziehen kann. Während deskriptive Gesetze die natürliche Welt beschreiben, formen konstruktive Gesetze die kulturelle Welt.
Wie durchschlagend dieser Einfluß bei Ontologien sein kann, wird am Beispiel medizinischer Ontologien wie der ICD-10 deutlich. Bis 1992 wurde Homosexualität als psychisches Leiden geführt und – was über die normative Dimension hinausgeht – auch therapeutisch behandelt. Auch in jüngster Zeit finden sich zahlreiche Syndrome, denen ein mehr oder weniger konstruktiver Charakter zukommt: Hypertonie, Hypercholesterinämie, Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung ADHS oder die metabolische Störung (Law: 2007). Selbst als krank oder gesund zu gelten, geht weit über ein Beschreiben durch Ontologie hinaus. Noch wirkungsmächtiger zeigen sich Ontologien in Systemen, welche vollständig künstlich geschaffen worden sind und die nicht nur als Anschauungsobjekt dienen, sondern die zu einem Teil der Lebenswirklichkeit geworden sind. Dazu zählen Kassen- und Warenwirtschaftssysteme, Bankautomaten oder Internet-basierte Verwaltungssysteme zur Studienführung, zum Einkauf oder zur Steuererklärung und nicht zuletzt Computerspiele oder soziale Netzwerke. Diese sind künstliche Systeme, deren erster Entwicklungsschritt im Erstellen eines domain models besteht. Bewegt man sich in den so entstandenen künstlichen Räumen, begegnen einem nur solche Gegenstände, die zuvor im domain model bedacht worden sind. So kann es heutzutage vorkommen, daß in einem Restaurant der Tisch nicht gewechselt werden oder ein speziellerer Wunsch nicht aufgegeben werden kann, da dies im Kassensystem nicht vorgesehen ist. Ähnliches läßt sich in der Abrechenbarkeit von Reisekosten oder der Steuererklärung erfahren. Der verantwortliche Ontologe beschreibt nicht nur, welche Handlungs- und Auswahlmöglichkeiten es gibt, er läßt sie Kraft einer Ontologie entstehen oder verschwinden.
Die im geschichtlichen Verlauf erst relativ spät entstandenen und in der Philosophie wenig beachteten Ontologien der Wissensrepräsentation und der Softwareentwicklung besitzen mit ihrem kreativen, konstruktivem Potential einen Einfluß auf unsere Lebenswirklichkeit, der denjenigen philosophischer Ontologien möglicher Weise weit übersteigt.
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1 Buchtitel wie Ontological Engineering, Workshops zu ontology matching oder Forschungsprojekte zum Einsatz von Ontologien in der Medizin gehören inzwischen zum etablierten Standard.