von Thomas Rießinger
Obwohl vermutlich jeder Leser im Laufe seines Lebens mehr als einmal mit Mathematik konfrontiert wurde – sei es als Schüler, der sich mit mehr oder weniger Begeisterung an mathematischen Aufgaben abmüht, oder als Benutzer von Technik, bei deren Entwicklung ein gewisses Maß an Mathematik unverzichtbar ist –, so kann doch kaum jemand auf die Frage, was Mathematik eigentlich sei, eine klare und möglichst überschaubare Antwort geben. Selbst eine von Mathematikern verfasste Arbeit wie das „Lexikon der Mathematik“ beginnt den Artikel über die Mathematik selbst mit dem Satz: „Der Versuch, das Wesen der Mathematik im Rahmen eines Lexikon-Stichwortes zu definieren, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“[1] Während man die Mathematik in früheren Zeiten gern als die Wissenschaft von Zahlen und Figuren bezeichnet hat, reicht schon ein Blick auf beliebige mathematische Veröffentlichungen der letzten einhundert Jahre, um zu sehen, dass diese Beschreibung längst an der Realität vorbeigeht. Die abstrakten Strukturen, mit denen sich Mathematiker oft und gerne befassen, sind sowohl von Zahlen als auch von Figuren häufig weit entfernt, weshalb man beispielsweise im ZEIT-Lexikon die Definition findet, Mathematik sei die „Wissenschaft von den abstrakten Strukturen und logischen Folgerungen.“[2] Das ist sicher nicht falsch, aber bestenfalls die halbe Wahrheit, was man schon daran sehen kann, dass auch die Autoren dieses Lexikon-Artikels ihre Definition durch anschließende Erläuterungen genauer zu fassen suchen, um so das eigentliche Wesen der Mathematik präziser zu beschreiben. Immerhin gibt es abstrakte Strukturen nicht nur in der Mathematik, sondern auch in den Natur- und den Geisteswissenschaften, und auch logische Folgerungen sind kein Privileg der Mathematiker, weshalb eine Beschreibung dieser Art die Mathematik nicht umfassen kann.
Das ist aber weder ein Wunder noch eine spezifische Eigenart der Mathematik, wie man recht schnell sieht, wenn man nicht nach dem Wesen der Mathematik, sondern nach dem Wesen der Physik, der Philosophie oder der Geschichtsschreibung fragt. Jede essentialistische Frage dieser Art führt in die altbekannten Schwierigkeiten, die mit dem Essentialismus generell verbunden sind, denn eine Frage wie „Was ist Mathematik ihrem Wesen nach?“ kann nur durch Sätze beantwortet werden, die ihrerseits natürlich wieder andere Begriffe verwenden, bei denen ebenfalls nach ihrem eigentlichen Wesen gefragt werden kann. Bei den oben angeführten essentialistisch orientierten Definitionen der Mathematik würden sich beispielsweise sofort die Fragen nach dem Wesen von Zahlen und Figuren bzw. von abstrakten Strukturen und logischen Folgerungen ergeben, deren Beantwortung dann wieder zu dem analogen Problem führt. Offenbar muss also die Frage nach dem Wesen der Mathematik oder auch von irgend etwas anderem in die Situation von Hans Alberts Münchhausen-Trilemma[3] führen, bei dem man nur die Wahl zwischen einem unendlichen Regress von Definitionen, einem willkürlichen Abbruch des Definierens und einer zirkelhaften Definition hat, bei der – unter Auslassen der Zwischenschritte – nur noch gesagt wird, dass Mathematik eben Mathematik sei.[4]
All das ist nichts Neues, und ich führe es hier nur auf, um zu verdeutlichen, dass die Frage nach dem eigentlichen Wesen der Mathematik genauso wenig beantwortet werden kann wie die nach dem tieferen Wesen der Physik oder einer anderen Wissenschaft. Dennoch ist es auch bezüglich der Mathematik möglich, Fragen von eher philosophischer Art nachzugehen, sofern sie sich nicht auf die essentialistische Problemstellung beschränken. Man kann beispielsweise die Methodologie der Mathematik untersuchen, man kann sich fragen, mit welchen Problemen und Objekten man es in der Mathematik im Gegensatz zu den Naturwissenschaften zu tun hat und ob hier überhaupt ein Gegensatz besteht, oder man kann, sofern man den angesprochenen Gegensatz zwischen Mathematik und Naturwissenschaften akzeptieren will, die Frage untersuchen, wie es möglich ist, dass mathematische Ergebnisse erfolgreich auf die Realität anwendbar sind.
Probleme dieser Art sind vor allem im Verlauf des Grundlagenstreits der Mathematik im zwanzigsten Jahrhundert behandelt worden, und ich werde später auf verschiedene Ansätze zur Lösung der Probleme eingehen. Ausgangspunkt meines Aufsatzes ist dabei ein Beitrag von Bernulf Kanitscheider im Rahmen einer neunteiligen Reihe über Mathematik in der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“[5], den er zwar mit dem Titel „Was ist Mathematik?“ versehen, aber von essentialistischen Problemen frei gehalten hat. Abgesehen von einem Punkt, auf den ich gleich kommen werde, will ich Kanitscheiders Beitrag keineswegs kritisieren, sondern die dort referierten Positionen einer Prüfung unter bestimmten Gesichtspunkten unterwerfen und anschließend eine alternative Auffassung vorstellen.
Kanitscheider beginnt seinen Aufsatz mit einem Hinweis auf den Sonderstatus der Mathematik. Sie sei "exakt, klar, sicher, objektiv und fortschreitend in der Erkenntnis, mit wenig Krisen und Rückschritten" und daher "der Prototyp einer kumulativen Disziplin, die der Idee des Erkenntnisfortschrittes in vollem Maße gerecht wird."[6] Es sind vermutlich die Mathematiker selbst – und ich spreche hier aus meiner eigenen Erfahrung als Mathematiker –,die dieses Bild einer Wissenschaft mit Sonderstatus gerne pflegen, um sich von den anderen Wissenschaften abzuheben. Es dürfte aber kaum gerechtfertigt sein. Der Wissenschaftstheoretiker und Mathematikphilosoph Imre Lakatos hat überzeugend nachgewiesen[7], dass die Auffassung der Mathematik als einer kumulativen Disziplin, bei der einmal gewonnene Einsichten für immer gültig bleiben, nicht der Realität entspricht. Auch die mathematischen Sätze und Theorien entwickeln sich aus Problemen und Vermutungen, aus der „Hitze von Argument und Gegenargument“, auch dort gibt es den „Zweifel, der der Gewissheit weicht, und diese erneutem Zweifel.“[8] Auch die Mathematik pflegt in ihrer Praxis keine sicheren Erkenntnisse zu liefern, und ein Beweis, der lange Zeit als korrekt galt, kann zu jeder Zeit widerlegt werden. Man kann nicht davon ausgehen, dass eine mathematische Theorie völlig frei ist von Mehrdeutigkeiten, von unklaren Begrifflichkeiten, die unter Umständen für lange Zeit unbemerkt bleiben, aber irgendwann für das Aufkommen von Gegenbeispielen sorgen. Kanitscheiders Auffassung "Dagegen gilt ein gelungener mathematischer Beweis für immer"[9], mit der er die Mathematik in Kontrast zu den Naturwissenschaften setzt, ist sicher richtig, aber nur deshalb, weil sie nichts Nennenswertes behauptet: ein Beweis ist dann gelungen, wenn er den behaupteten Sachverhalt tatsächlich beweist, fehlerfrei und unzweifelhaft. Also sagt Kanitscheiders Satz nur aus, dass ein fehlerfreier Beweis ein fehlerfreier Beweis ist, und das ist keine Begründung für einen wie auch immer gearteten Sonderstatus der Mathematik. Das Problem in der mathematischen Praxis besteht ja gerade darin, dass die Fehlerfreiheit nur schwer in den Griff zu bekommen ist und wie in jeder anderen Disziplin auch erstens Fehlergemacht und auch veröffentlicht werden und man zweitens keineswegs sicher sein kann, dass sie einer bemerkt. Mathematische Sätze werden zwar bewiesen, aber das heißt noch lange nicht, dass sie deshalb gesichert wären. Im Übrigen zeigt die Arbeit von Lakatos auch, dass sich die Meinungen über die Art eines zulässigen und befriedigenden Beweises mit der Zeit ändern können: was in der Vergangenheit als annehmbares Argument galt, muss heute nicht mehr unbedingt akzeptabel sein, da sich die Vorstellungen der handelnden Personen ändern oder aber bisher unentdeckte Schwierigkeiten in bisher eingesetzten Methoden zu Tage treten.
Nun kann man Lakatos natürlich vorwerfen, er habe seine Auffassungen über den Fortschritt in der Mathematik an einem einzigen Beispiel entwickelt, nämlich an dem Beweis der so genannten Eulerschen Polyederformel, aber das sei eben nur ein Einzelfall gewesen, den man so nicht verallgemeinern dürfe. Das ist in doppelter Hinsicht falsch. Wenn man für einen Sonderstatus der Mathematik gegenüber den Naturwissenschaften plädiert und meint, sie sei eine kumulative Disziplin, bei der einmal durchgeführte Beweise für immer feststehen, so genügt schon ein einziges Gegenbeispiel, das Lakatos in seiner Arbeit geliefert hat, um von dieser Auffassung Abstand zu nehmen. Aber selbst der Vorwurf, es handle sich um einen Einzelfall, entspricht nicht den Tatsachen. Wie sehr sich die akzeptablen Standards ändern können, nach denen man einen Beweis beurteilt, sieht man am Beispiel von computerunterstützten Beweisen. Während es nach der traditionellen Auffassung möglich sein muss, einen Beweis prinzipiell von einem menschlichen Leser mit entsprechender Fachkompetenz überprüfen zu lassen, ist es im Verlauf der Mathematikgeschichte vorgekommen, dass ein Problem nur durch den Einsatz eines Computers gelöst werden kann. Standardbeispiel hierfür ist das berühmte Vierfarbenproblem: kann man in einer Landkarte die vorkommenden Staaten so farblich markieren, dass erstens direkt aneinander angrenzende Länder nicht mit der gleichen Farbe markiert werden und zweitens nicht mehr als vier Farben für die gesamte Landkarte benötigt werden? Ein entsprechender Fünffarbensatz ist vergleichsweise einfach mit graphentheoretischen Mitteln zu beweisen, und so lag der Gedanke nahe, es auch mit vier Farben zu versuchen. Gelöst werden konnte dieses Problem erst 1976, indem es auf Tausende von einzelnen Fällen reduziert wurde, die zwar für sich genommen keine ernsthaften gedanklichen Schwierigkeiten mehr boten, aber sowohl durch ihre schiere Menge als auch durch die Kompliziertheit ihrer Struktur nur mithilfe eines Computers bearbeitet werden konnten. Sollte man den Vierfarbensatz nun als bewiesen betrachten? W. Haken und K. Appel, die den Beweis entwickelt hatten, vertraten die Auffassung, dass jeder „auf jeder Stufe und überall die Einzelheiten einsetzen und überprüfen“ könne, weshalb ein gültiger Beweis vorliege.[10] Das kann man so sehen, aber dennoch ist es im Rahmen der menschlichen Vernunft nicht mehr möglich, den gesamten Beweis zu überblicken und ein Urteil über seine Korrektheit abzugeben. Zwar kann jeder, der sowohl über die mathematischen Fähigkeiten als auch über die nötigen Programmierkenntnisse verfügt, das für den Beweis verwendete Computerprogramm überprüfen, aber das alleine reicht nicht, da ein solches Programm sowohl ein gewisses Maß an Systemsoftware wie beispielsweise einen Compiler als selbstverständlich auch die nötige Hardware benutzen muss, und beide Komponenten sind als Fehlerquellen nicht zu unterschätzen. Die Frage, ob ein solcher computerunterstützter Beweis akzeptabel ist oder nicht, muss ich hier zum Glück weder näher erörtern noch entscheiden, aber das pure Auftauchen der Frage zeigt deutlich, dass auch in unseren Tagen die Standards für die Annehmbarkeit eines Beweises Wandlungen unterworfen sind.
Das ist aber nicht alles. Selbst wenn man den Einsatz von Software klaglos akzeptiert, so besteht noch immer das Problem, dass jedes Programm nicht nur eine Funktion im Sinne der Mathematik beschreibt, sondern auch gleichzeitig einen konstruktiven Beweis für die Existenz dieser Funktion liefert. Warum ist das ein Problem? Eine Funktion oder auch Abbildung liegt dann vor, wenn zu einer Eingabe aus einem bestimmten Bereich eine klar definierte Ausgabe bestimmt werden kann, und genau das ist es, was ein Programm liefern sollte. Nun kann man über viele Dinge behaupten, dass sie existieren, und insbesondere kann man natürlich immer sagen, man könne diese oder jene Ausgabe aus dieser oder jener Eingabe in endlich vielen Schritten berechnen. Verfügt man aber über den Quelltext des entsprechenden Programms, der ja nichts anderes macht als die nötigen Verarbeitungsschritte in einer formalisierten Sprache zu beschreiben, so kann man zumindest im Prinzip überprüfen, ob das vorliegende Programm bei gegebener Eingabe die gewünschte Ausgabe liefert. Der Quelltext liefert daher einen konstruktiven Existenzbeweis für die behauptete Funktion. Die Beschreibung der programmierten Funktion stellt somit im Zusammenspiel mit dem Quelltext des Programms ein Stück Mathematik dar: es wird behauptet, dass man etwas berechnen kann, und es wird vorgeführt, dass und wie es tatsächlich geht. Nun geht man aber üblicherweise davon aus, dass in einem etwas längeren Computerprogramm im Durchschnitt nach jeweils etwa eintausend Zeilen ein Fehler vorkommen wird. Ob es nun aber eintausend oder zehntausend oder fünf Zeilen sind, ist völlig unerheblich, denn es kommt hier nur darauf an, dass in einem Stück moderner Mathematik, die auch noch direkt überprüfbar ist, auf jeden Fall mit Fehlern gerechnet werden muss. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Fehler überhaupt entdeckt werden: es kann jederzeit vorkommen, dass bestimmte Teile des Programms in der Praxis niemals benutzt werden, sodass auch eventuelle Fehler nicht in den Blick des Anwenders geraten, oder dass die fehlerhaften Teile zwar zum Einsatz kommen, die produzierten Fehler aber nicht so gravierend sind, dass sie auffallen würden. Die Entwickler der Programme haben dann zwar ebenso wie die Benutzer allen Grund, ihre Arbeit für einwandfrei zu halten, das Programm kann durchaus als gelungen gelten – aber falsch ist es trotzdem. Man muss sich jetzt nur noch daran erinnern, dass der Quelltext eines Programms einen konstruktiven Beweis für die Existenz und Berechenbarkeit einer bestimmten Funktion darstellt, um zu bemerken,. dass man einen „gelungenen mathematischen Beweis“ keineswegs „für immer“ als gelungen betrachten kann. Wie man diesen Beispielen entnehmen kann, sind Lakatos‘ Auffassungen nach wie vor aktuell, und es erscheint etwas gewagt, der Mathematik einen Sonderstatus in Bezug auf die „Idee des Erkenntnisfortschritts“[11] einzuräumen.
Natürlich war Imre Lakatos nicht der erste, der sich mit philosophischen Problemen der Mathematik befasst hat. Vor allem in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wurde in der Mathematik der so genannte Grundlagenstreit ausgetragen (wobei man sich darüber streiten kann, ob er tatsächlich bis zum Ende ausgetragen wurde), der auf der Grundlagenkrise der Mathematik beruhte. Diese Krise war dadurch entstanden, dass man im späteren neunzehnten und im frühen zwanzigsten Jahrhundert im Rahmen der aktuellen Mathematik auf Sachverhalte gestoßen war, die der Intuition klar widersprachen oder gar zu logischen Widersprüchen führten. Ich will hier nicht auf die mathematischen Details eingehen und nur erwähnen, dass Ungereimtheiten der verschiedensten Art sowohl in der Analysis als auch in der Geometrie und vor allem der Mengenlehre auftraten, die Georg Cantor vorangetrieben hatte. Gerade die Idee der Menge als einer Ansammlung beliebiger Objekte erschien intuitiv zunächst so klar, dass nichts vernünftiger erschien als die Mathematik auf der Grundlage der Mengenlehre aufzubauen, um über einen sicheren Grund zu verfügen. Leider stellte sich heraus, dass dabei annähernd unüberwindbare Schwierigkeiten auftauchten, die sich vor allem in der Gestalt des 1902 von Bertrand Russell entdeckten Russell-Paradoxons bemerkbar machten. Die Konstruktion dieses recht einfach zu verstehenden und wohl deshalb so berühmt gewordenen Paradoxons muss uns hier nicht interessieren; wichtig ist nur der Umstand, dass man, sobald es in der Welt war, die Grundlegung der Mathematik mithilfe der bisherigen Mengenlehre nicht mehr ohne Weiteres vornehmen konnte.
Die nun aufgetauchte Frage nach der Grundlegung der Mathematik war nicht mehr so leicht aus der Welt zu schaffen, und in ihrer Folge wurden verschiedene philosophische Positionen entwickelt, von denen man sich eine Lösung versprach. Ich werde nun die Positionen des Platonismus und den Logizismus sowie den Formalismus und den Intuitionismus schildern, und sie unter bestimmten Gesichtspunkten kritisieren. All diese Auffassungen versuchen zu erklären, womit sich die Mathematik und die Mathematiker befassen, und dieser Umstand erlaubt es, sie zu beurteilen. Sofern eine philosophische Theorie nämlich „als Vorschlag zu einer Lösung eines Problems“ betrachtet werden kann, „gibt es unmittelbar Möglichkeiten für eine kritische Diskussion. ... Denn wir können fragen: Löst die Theorie ihr Problem? ... Verschiebt sie es vielleicht nur? Ist sie fruchtbar?“[12] Auch eine philosophische Theorie ist diskutierbar, und „man kann rational und objektiv entscheiden, welche ... akzeptabel ist und welche nicht.“[13] Ich behaupte nicht, dass so etwas immer durchführbar ist, zumal viele – und wohl zu viele – philosophische Theorien so vage und inhaltsleer formuliert sein dürften, dass es gar nicht möglich ist, ihre zugrunde liegenden Probleme zu identifizieren. Falls aber eine Problemsituation erkennbar ist, zu deren Klärung oder gar Lösung eine Theorie aufgestellt wurde, so kann man sie auch nach den oben aufgestellten Kriterien beurteilen.
Offenbar bestand ein Problem der Mathematik darin, dass sie ihren Anspruch auf absolute Sicherheit ihrer Erkenntnisse zu verlieren drohte oder sogar bereits verloren hatte. Eine Disziplin, deren Aussagen mit vollständiger Gewissheit wahr sein sollte, wie man es Jahrhunderte lang gern geglaubt hatte, konnte sich Antinomien wie das Russellsche Paradoxon nicht leisten, ohne deutlich an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Jeder Lösungsansatz musste daher eine Antwort auf die Frage bieten, woher mathematische Erkenntnisse ihren Anspruch auf Sicherheit beziehen. Darüber hinaus treten aber auch Probleme auf, die mit der Grundlagenkrise nur wenig zu tun haben, ohne deshalb von geringerer Bedeutung zu sein. Selbst wenn man Gewissheit gewährleisten könnte: worüber besteht dann eigentlich diese Gewissheit? Welcher Art sind die Objekte, über die in der Mathematik gesprochen wird, welchen Objektbereich untersuchen die Mathematiker? Diese Frage ist nicht erst im zwanzigsten Jahrhundert aufgetaucht, sondern wurde bereits in der Antike behandelt und sollte von einer philosophischen Betrachtung der Mathematik untersucht werden. Und schließlich: wie kommt es eigentlich, dass man die mathematischen Erkenntnisse, die doch zunächst einmal mit der physischen Wirklichkeit nichts zu tun haben, so hervorragend auf eben diese Wirklichkeit anwenden kann?
Beginnen will ich mit den Vorstellungen der Platonisten, die auf Platons Ideenlehre beruht. Platon hatte gelehrt, dass beispielweise ein physisch vorhandener Stuhl, der sich natürlich von einem anderen Stuhl zumindest ein wenig unterscheiden muss, nur eine Art von Widerschein eines idealen Stuhl ist, der in einer Welt der Ideen lebt und daher auch nur durch die Vernunft betrachtet werden kann. Aussagen über physisch vorhandene Stühle können immer nur Meinungen beinhalten, während sichere Erkenntnis nur durch die reine Vernunftbetrachtung des idealen Stuhls zu erreichen ist. Das hat unmittelbare Konsequenzen für die Mathematik, auf die man dieses Konzept leicht anwenden kann. Will man zum Beispiel den Satz des Pythagoras über rechtwinklige Dreiecke beweisen, so steht man in der uns umgebenden physischen Welt vor dem Problem, dass ein echtes rechtwinkliges Dreieck sich kaum auftreiben lassen wird. Die gezeichneten Linien sind in Wirklichkeit sehr dünne Flächen, der Winkel wird in aller Regel ein wenig vom rechten Winkel abweichen und die verwendeten Strecken sind vermutlich nicht wirklich gerade, sondern enthalten leichte Unebenheiten. Nur in der nicht-physischen Welt der Ideen gibt es das ideale rechtwinklige Dreieck, für das sich der Satz des Phytagoras problemlos beweisen lässt, weshalb er auch für alle Zeiten als ideale Erkenntnis feststeht und absolut sicher ist. Für den Platonisten sind mathematische Objekte also völlig real, wenn sie auch in einer nicht-physischen Realität der Ideen existieren, die kein Teil der physischen Welt ist. „Sie existieren außerhalb des Raums und der Zeit ... wurden weder geschaffen, noch werden sie sich je verändern oder auflösen.“[14] Folglich sind mathematische Entdeckungen tatsächlich Entdeckungen und keine Erfindungen, der Mathematiker hat es genau wie der Physiker mit realen vorgegebenen Objekten zu tun, nur dass seine Objekte einer anderen Realität entstammen.
Wie kann man nun den mathematischen Platonismus im Hinblick auf die drei oben angeführtenProbleme beurteilen? Was die Sicherheit der mathematischen Erkenntnis angeht, so bietet er nur eine Scheinlösung. Sicherheit, so sagt der Platonist, liegt deshalb vor, weil die mathematischen Objekte im Reich der Ideen ewig und unantastbar sind und daher nichts Falsches herauskommen kann. Selbst wenn man die Ewigkeit der mathematischen Objekte zugestehen will, bleibt aber immer noch das nicht zu unterschätzende Problem, wie der arbeitenden Mathematiker an diese Objekte herankommen soll. Der Hinweis auf die Vernunft oder auch die Intuition hilft nicht sehr viel weiter, da beide fehlgeleitet werden können und vielleicht gar nicht die ewigen Wahrheiten erkennen, sondern nur irrige Meinungen über die physische Realität produzieren. Der berühmte Logiker Kurt Gödel war der Meinung, wir würden die Objekte der Mengenlehre wahrnehmen, weil sich ihre Axiome als Wahrheiten aufdrängen, und man könne dieser Art der Wahrnehmung ebenso vertrauen wie der Sinneswahrnehmung. Leider weiß man aber, dass man der Sinneswahrnehmung keineswegs unkritisch vertrauen sollte, weil sie oft der korrigierenden Vernunft bedarf, um unvermeidbare Fehler auszugleichen, weshalb Gödels Argument eher gegen den Platonismus verwendet werden kann als für ihn. Indem wir mithilfe einer nicht näher beschreibbaren Intuition Kontakt zur Welt der Ideen aufnehmen müssen, weil wir sonst nichts über sie wissen könnten, schaffen wir eine Verbindung zwischen den sicheren Wahrheiten und der unsicheren physischen Wirklichkeit. Aber wie sicher ist diese Verbindung? Um die Wahrheit sicher übertragen zu können, müsste auch der Verbindungsweg von gleicher Qualität sein wie die reinen Ideen selbst und somit wohl eher der Ideenwelt angehören als eine Verbindung zwischen ihr und uns darzustellen. Durch die Postulierung von Sicherheit wird noch lange keine Sicherheit garantiert.
Ähnlich sieht es beim dritten Problem aus, also der Frage, warum man die Mathematik auf die physische Realtität anwenden kann. Nach Ansicht der Platonisten dürfte das nicht funktionieren, da beispielsweise ein physisch vorhandenes rechtwinkliges Dreieck nicht übermäßig viel mit dem idealen rechtwinkligen Dreieck zu tun hat, auf das allein sich der Satz des Pythagoras bezieht. Mathematische Aussagen sind echte Erkenntnisse über die Welt der Ideen, während man über die physische Welt immer nur Meinungen äußern kann, weshalb die mathematischen Sätze auch nichts mit der physischen Welt zu tun haben können. Zur Frage der Anwendbarkeit hat der Platonismus nichts beizutragen. Dagegen scheint das Problem des mathematischen Objektbereichs eine klare Antwort zu erfahren: mathematische Objekte sind reale Objekte, die außerhalb unserer physischen Realität eine ideale Existenz pflegen. Aber wie viele Objekte versammeln sich dort? Gibt es nur ein ideales rechtwinkliges Dreieck oder eines für jede mögliche Kombination von Längen und Winkeln? Da ein Dreieck drei Seiten hat, muss es wohl mindestens drei ideale Geraden geben, und diese Anzahl lässt sich beliebig hochschrauben, indem man von Dreiecken zu Vielecken übergeht.[15] Es ist also durchaus nicht von vornherein klar, welche Objekte in den zeitlosen Himmel der Mathematik aufgenommen werden sollen – und völlig unklar ist es, von wem. Sie existieren einfach zeitlos und raumlos, wurden anscheinend nicht geschaffen und wirken auf unsere physische Realität. Will man nicht gerade die Existenz eines mathematikfreundlichen Gottes postulieren, so ist durchaus nicht zu sehen, warum ein solches ewiges Universum der Ideen existieren sollte und warum die endliche menschliche Vernunft Zugang zu ihr findet.
Es stellt sich also heraus, dass der Platonismus keines der betrachteten Probleme lösen kann. Dennoch dürfte er – als eine Art von impliziter Arbeitshypothese – von vielen aktiven Mathematikern bevorzugt werden, weil er immerhin eine Vorstellung davon vermittelt, was der forschende Mathematiker eigentlich macht: er arbeitet an Problemen, deren Entitäten er sich der Bequemlichkeit halber als reale Objekte vorstellt, weil es schließlich irgendein Objekt geben muss, das er als das Objekt seines Nachdenkens bezeichnen kann. Bei der praktischen Arbeit, solange er nicht über die damit verbundenen Probleme nachdenkt, wird der Mathematiker oft platonistische Vorstellungen hegen, und in diesem Sinne ist die Ideenwelt des Platonismus auch heute noch aktuell.
Aus dem Bedürfnis, die Gewissheit der mathematischen Erkenntnisse zu sichern ist auch der vor allem von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead entwickelte Logizismus entstanden. Russell war zur Zeit der Arbeit an den „Principia Mathematica“ in Bezug auf die Mathematik sehr stark platonistisch orientiert: „Ich erachte alle Erkenntnis, die sich mit den tatsächlich existierenden Dingen befasst ... für recht geringwertig im Vergleich zu der Erkenntnis, die, wie Philosophie und Mathematik, sich mit den geistigen, ewigen Objekten befasst –und sich gelöst hat von der jämmerlichen Welt, die Gott geschaffen hat.“[16] Das ist offenbar purer Platonismus: die physische Welt liefert keine ernst zu nehmenden Erkenntnisse, die dagegen in der ewigen Welt der Ideen aufzufinden sind. Im Gegensatz zum bisher besprochenen allgemeinen Platonismus versuchten Russell und Whitehead aber, ihr Sicherheitsbedürfnis zu konkretisieren und sich nicht auf einen Hinweis auf eine Welt ewiger Wahrheiten zu beschränken. Die Grundidee erschien zunächst durchaus überzeugend: man kann sich auf den ersten Blick kaum etwas vorstellen, das an Sicherheit die Prizipien der Logik übersteigt oder an intuitiver Klarheit den schlichten Begriff der Menge hinter sich lässt. Auf beidem sollte die gesamte Mathematik aufgebaut werden. Die Logik bot die fundamentalen Gesetze des Denkens und der Vernunft wie zum Beispiel das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, und die Mengenlehre im Sinne von Cantors intuitiv klarem Mengenbegriff, deren Konstruktionen eng mit denen der Logik verwandt waren, sicherte die Rückführung auf ein festes und unbezweifelbares Fundament. Auf diese Weise sollten die unbezweifelbare Gewissheit der Logik und die intuitive Einsichtigkeit der Mengenlehre auf die Mathematik in ihrer Gesamtheit übertragen und so endlich eine sichere Grundlage der Mathematik erreicht werden.
Russell und Whitehead konnten dieses ansprechende Programm nicht in der gewünschten Weise erfüllen. Schon das oben angesprochene Russellsche Paradoxon zeigte, dass die Mengenlehre im Sinne Georg Cantors eben nicht die selbstverständliche Klarheit und intuitive Sicherheit aufwies, die man von ihm erwartet hatte, sondern zu unangenehmen Antinomien führen musste. „Ich gab mir die größte Mühe, die oben erwähnten Widersprüche zu lösen. Jeden Morgen setzte ich mich vor ein unbeschriebenes Blatt Papier. Den ganzen Tag über, nur kurz durch das Mittagessen unterbrochen, stierte ich auf den leeren Bogen. Oft war er am Abend ebenso leer.“[17] Zwar stellte es sich heraus, dass man die aufgetretenen Schwierigkeiten lösen oder doch zumindest umgehen konnte, aber um welchen Preis! Von einer intuitiv klaren Mengenlehre, die doch wenigstens einen Teil des festen Fundaments der Mathematik bilden sollte, konnte keine Rede mehr sein, da man aufgrund der aufgetretenen Probleme zu deutlich komplizierteren Konstruktionen hatte greifen müssen, die alles andere als intuitiv klar waren. So etwas konnte nicht mehr als Grundlage einer Logik dienen, die den Grundgesetzen des Denkens und der Vernunft entsprechen sollte. Immerhin war es ja das Ziel des Logizismus gewesen, die platonistische Auffassung vom Kopf wieder auf die Beine zu stellen, indem nicht mehr nur auf eine ominöse Welt der Ideen verwiesen wurde, sondern mithilfe von Mengenlehre und Logik klar gemacht wurde, wie man die platonistische Ideenwelt konkretisieren könne, sodass jedem der sichere Grund der Mathematik ersichtlich werden sollte. Im Zuge der Arbeit brach aber der sichere Grund weg und es stellte sich heraus, dass weder die Mengenlehre noch die Logik geeignet waren, ein standfestes Fundament der Mathematik zu bilden, dessen Sicherheit über jeden Zweifel erhaben war.
Offenbar war also auch der Logizismus nicht in der Lage, das Problem des sicheren Fundamentes zu lösen. Wie sieht es nun mit den beiden anderen aufgeworfenen Problemen aus, also mit der Frage nach dem Objektbereich der Mathematik und der Frage nach der Anwendbarkeit auf die Realität? Da es sich hier um eine – wenn auch konkretisierte – Version des Platonismus handelt, unterliegt natürlich der Logizismus den gleichen Problemen wie der Platonismus auch. Immerhin wurde die Natur der mathematischen Objekte genauer bestimmt, denn nach der Auffassung des Logizismus handelt es sich dabei um nichts anderes als logische Konstruktionen, und die Logik selbst gilt objektiv und unzweifelhaft. Da aber die Logik und die mit ihr verbundene Mengenlehre sich selbst in Schwierigkeiten verwickelt hatten, ist diese Auffassung nicht aufrecht zu erhalten; auch der Logizismus kann nicht erklären, mit welcher Art von Objekten sich die Mathematik befasst. Im Übrigen ist auch aus logizistischer Sicht durchaus nicht klar, wie man wohl als Mathematiker auf den autonom existierenden Bereich der Logik zugreifen mag. Ohne einen solchen Zugriff auf die eigentlichen Objekte der Mathematik ist es schließlich unmöglich, Mathematik zu betreiben, und die Existenz mathematischer Aussagen zeigt, dass dieser Zugriff in irgendeiner Weise möglich sein muss. Aber wie? Hier bleibt am Ende wieder nur das von Gödel propagierte Vertrauen auf die Wahrnehmung der logischen Objekte, eine Art von logischer Intuition, wodurch aber selbst dann, wenn man einen autonom existierenden logischen Bereich akzeptieren wollte, sich das Problem nur verschieben könnte: an die Stelle der ungeklärten Frage nach der Natur mathematischer Objekte tritt in diesem Fall die erst recht ungeklärte Frage nach der Natur der logischen Intuition. Das zeigt auch schon, dass der Logizismus keine Lösung des Problems der Anwendbarkeit der Mathematik auf die physische Realität bietet. Es mag ja eine ideale Welt der Logik geben, aber wie hängt sie denn mit der physischen Welt der Dinge zusammen? Besteht eine logische Beziehung zwischen rein logischen Entitäten und physischen Gegenständen, die es rechtfertigen könnte, mathematische Erkenntnisse auf physische Gegenstände anzuwenden? Eine solche logische Beziehung müsste aber wieder eine Art von Wanderer zwischen den Welten sein, wie ich es schon im Zusammenhang mit dem reinen Platonismus beschrieben habe, und könnte eben nicht mehr der unverfälschten Welt der Logik angehören. Als philosophisches Programm ist auch der Logizismus gescheitert.
Man kann den vor allem auf Brouwer und Weyl zurückgehenden Intuitionismus als Gegenbewegung zur platonistischen Auffassung im Allgemeinen und zur Mengenlehre Cantors im Besonderen betrachten. Eine mathematische Entität wie eine Menge mit unendlich vielen Elementen, die man nicht durch einen konstruktiven Prozess explizit erzeugen konnte, war den Intuitionisten zutiefst verdächtig, da es ihrem Grundprinzip widersprach: was wir kennen, sind die natürlichen Zahlen, die uns durch eine Urintuition des Zählens vertraut sind, und jede mathematische Erkenntnis muss sich auf diese Urintuition des Zählens zurückführen lassen. Sofern es also möglich ist, ein mathematisches Objekt durch eine Konstruktion aufzubauen, die bei den natürlichen Zahlen beginnt und nach endlich vielen Schritten bei dem gewünschten Objekt ankommt, ist alles in Ordnung, dieses Objekt existiert. Und das Gleiche gilt natürlich für Beweise, die nur dann akzeptabel sind, wenn sie sich konstruktiv auf der Basis der natürlichen Zahlen aufbauen lassen.
Die Konsequenzen dieser Auffassung sind schwerwiegend, da sie die Mathematik auf eine Weise einengt, die ihren Wirkungsbereich deutlich verkleinert. Es ist beispielsweise nicht mehr möglich, den eher schlichten Satz, dass eine Zahl entweder positiv oder negativ oder gleich Null sein muss, aufrecht zu erhalten, weil man – ausgehend von den natürlichen Zahlen – in der Lage ist, eine Zahl zu konstruieren, deren Vorzeicheneigenschaft nicht konstruktiv nachgewiesen werden kann. Hat man sich aber einmal darauf eingelassen, nur konstruktive Beweise zu akzeptieren, so muss man auch hinnehmen, dass für diese Zahl keine der drei üblichen Vorzeichenmöglichkeiten gültig ist. Tatsächlich gehen die Probleme noch weiter, denn offenbar darf der Intuitionist keinen Beweis als gültig akzeptieren, der auf dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten beruht, weil dieses Prinzip keine konstruktiver Grundlage aufweist, die sich auf die Urintuition des Zählens zurückführen ließe. Es ist daher kein Wunder, dass sich die intuitionistische Richtung unter Mathematikern keiner großen Beliebtheit erfreut: sie erklärt zu vieles für unzulässig und schränkt die Möglichkeiten der Mathematik zu stark auf das rein Konstruktive ein, weshalb bedeutende Teile der in der Mathematik bereits erreichten Erkenntnisse für den Intuitionisten keine Gültigkeit haben.
Nun ist aber der Umstand, dass eine philosophische Auffassung unbequeme Konsequenzen hat, noch kein Argument für ihre Unhaltbarkeit. Welche Antworten hat der Intuitionismus auf die drei Probleme, mit deren Hilfe ich bereits den allgemeinen Platonismus und den Logizismus untersucht hatte? Was das Sicherheitsproblem angeht, so scheint er eine klare Antwort zu liefern. Die Mathematik hat eine Sonderstellung, weil sie ausschließlich auf der Urintuition des Zählens beruht, die allen Menschen gemeinsam ist und daher keine Probleme aufwirft. Es hat sich aber schon bei den Platonisten und den Logizisten gezeigt, dass der Rekurs auf Intuitionen gleich welcher Art problematisch ist. Warum sollte die auf das Zählen bezogene Intuition sicherer sein als die logische Intuition Russells? Und warum handelt es sich hier um eine Urintuition? Im antiken Griechenland wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, dem Zählen einen derart hohen Status einzuräumen, während die geometrische Intuition des Raumes einen deutlich höheren Stellenwert hatte. Überdies weiß man, dass in bestimmten Kulturen die Urintuition des Zählens in der von Brouwer gewünschten Weise nicht existiert, da man dort nur wenige Zahlworte kennt und dann auf vage Begriffe wie „viele“ zurückgreifen muss. Wie sieht es in diesem Falle aus mit der sicheren Urintuitionund der Konstruktion der mathematischen Objekte? Offenbar ist also die Urintuition des Zählens alles andere als unproblematisch und daher keine sichere Grundlage für mathematische Konstruktionen. Auch die Frage nach dem Objektbereich der Mathematik findet keine befriedigende Antwort. Soweit es sich um die konstruktiv aus den natürlichen Zahlen konstruierten Objekte der Intuitionisten handelt, muss man die eben besprochenen Probleme in Kauf nehmen, die den Status der Objekte zumindest zweifelhaft erscheinen lassen. Es kommt aber noch eine Schwierigkeit hinzu. Immerhin ist auch der Intuitionismus angetreten, um eine brauchbare Auffassung von der Mathematik zu entwickeln, und seine Lösung läuft daraus hinaus, all die Objekte und Konstruktionen aus der Mathematik zu entfernen, die ihm nicht ins Konzept passen. Die tatsächlich vorhandene Mathematik lässt sich von der intuitionistischen Philosophie nicht erfassen, weil sie von vornherein einen recht engen Bereich auszeichnet, innerhalb dessen sich die Mathematik zu bewegen habe, und jedes Bemühen, außerhalb dieses vorgegebenen Bereichs Ergebnisse zu erzielen, ganz einfach als nicht mathematisch kennzeichnet. Damit kann man aber keine Theorie der Mathematik aufbauen, die das Phänomen Mathematik einigermaßen treffend beschreiben kann. Das intuitionistische Programm ist, so weit es konstruktiv durchgeführt wurde, nichts anderes als ein bestimmter Zweig der Mathematik, der sich auf gewisse vorgegebene Methoden beschränkt, aber als philosophische Auffassung zur Grundlegung der Mathematik muss es wegen seiner Enge scheitern. Man sollte allerdings zugeben, dass innerhalb der intuitionistischen Mathematik – aber auch nur dort – der Intuitionismus eine Lösung des Problems liefert, warum die Mathematik auf die Realität anwendbar ist. Noch einmal: Grundlage ist die Urintuition des Zählens, und auch wenn sie wie jede Intuition mit Problemen behaftet ist, so beruht das Zählen doch auf menschlichen Erfahrungen mit der physischen Realität, mit der verfließenden Zeit und der Existenz einer dinglichen Welt. Da also die menschliche Erfahrung stark in die Grundlage der intuitionistischen Konstruktionen mit einfließt, ist es auch kein Wunder, dass sie auf die Erfahrung anwendbar sind. Das gilt jedoch nur für den engen Bereich der intuitionistisch-konstruktiven Mathematik. Dass auch die Teile der Mathematik, die der Intuitionist gar nicht als Mathematik akzeptiert, erfolgreich auf die physische Realität angewendet werden, kann der Intuitionismus nicht erklären, sie kommen in seiner Welt nicht vor.
Es ist leicht nachzuvollziehen, dass gerade die Einengung der Mathematik auf die von den Intuitionisten für unproblematisch gehaltenen Teile unter den Mathematikern nicht nur zu einem gewissen Unbehagen, sondern auch zu Gegenreaktionen führte, vorwiegend in Gestalt des formalistischen Programms David Hilberts. Er hatte durchaus nicht die Absicht, sich von den Intuitionisten „unsere Wissenschaft zerstückeln und verstümmeln zu lassen“,[18] sondern wollte den Reichtum der Mathematik gegen das Brouwersche Reinheitsgebot verteidigen, ohne dabei in die alten Schwierigkeiten zu geraten. Auch Hilbert suchte nach einer sicheren Grundlage, aber von anderer Art. Ausgehend von Axiomen, also von ersten Grundsätzen, über die man nicht mehr diskutieren muss, wollte er durch klar definierte formale Schlussregeln, deren korrekte Anwendung im Prinzip von einer Maschine überprüft werden konnte, formale Herleitungen der mathematischen Sätze erstellen. Die angewendeten Methoden sollten dabei als rein formale Regeln zum Umgang mit Formeln verstanden werden, ohne jede inhaltliche Interpretation, sodass von vornherein jede Belastung der Sätze mit inhaltlichen Problemen vermieden werden konnte. Auch das System der Axiome erhob dabei keinen Wahrheitsanspruch: worauf es ankam, war vor allem der Nachweis der Widerspruchsfreiheit und der Vollkständigkeit des Axiomensystems, kein Axiom durfte einem anderen logisch widersprechen und keines durfte fehlen, um alle gewünschten Sätze einer mathematischen Theorie aus den Axiomen ableiten zu können. Sobald man auf diese Weise mithilfe der formalen und inhaltsfreien Schlussregeln aus einem widerspruchsfreien Axiomensystem neue Objekte konstruiert und neue Erkenntnisse gewonnen hatte, war die Sicherheit der Mathematik und die Existenz ihrer Objekte garantiert.
Man kann sich die Grundidee vorstellen, indem man sich das Prinzip des Schachspiels vor Augen hält. Die Figuren auf dem Brett erheben nicht den Anspruch, irgend etwas zu bedeuten, sie sind einfach nur Figuren mit bestimmten Bezeichnungen an bestimmten Positionen des Bretts, die im Laufe des Spiels verwendet werden sollen. Die Art ihrer Verwendung legen die Spielregeln fest, die ohne jede inhaltliche Bedeutung sind, aber ausnahmslos eingehalten werden müssen; jede Abweichung von den Regeln bedeutet ein Ausscheiden aus dem Schachspiel. Und so betrachtet der Formalist die Mathematik. Ob man nun in der Geometrie von Punkten und Geraden oder von Schreibtischen und Staubsaugern redet, ist völlig gleichgültig, es kommt nur darauf an, dass die Beziehungen zwischen diesen Objekten durch die Axiome festgelegt sind. Auf dem Schachbrett bedeutet das beispielsweise, dass man weiß, auf welchen Positionen die Figuren zu stehen haben; die Axiome legen hier die Grundpositionen der Figuren fest. Dass die Axiome nicht widersprüchlich sein dürfen, heißt hier, dass keine zwei Figuren auf einer Stelle stehen können, und ihre Vollständigkeit läuft darauf hinaus, dass die nötigen Felder alle mit Figuren besetzt sind und keine Figur fehlt. Ähnlich wird man daher bei den geometrischen Axiomen festlegen, wie sich die grundlegenden Objekte zueinander verhalten, aber diese Festsetzungen sind völlig unabhängig davon, ob man sich nun Punkte und Geraden vorstellt oder Schreibtische und Staubsauger. Axiome haben keinerlei inhaltliche Bedeutung. Und Schlussregeln natürlich auch nicht, denn so wie sie beim Schachspiel in Form der Spielregeln nur festlegen, auf welche Weise man welche Figur ziehen darf, stellen sie in der formalistischen Mathematik Vorschriften dar, nach denen Formeln umgeformt werden dürfen. Jeder Zug in einem Schachspiel kann – unabhängig davon, ob man die Figur des Pferdes nun wirklich als Pferd betrachtet, als einen Punkt in der Landschaft oder als gar nicht real vorhanden – anhand der vorgegebenen Spielregeln auf seine Korrektheit überprüft werden, und ebenso kann jede im Rahmen einer mathematischen Konstruktion oder eines Beweises vorgenommene Manipulation aufgrund der formalen Schlussregeln auf ihre Zulässigkeit überprüft werden, ohne dass man sich um inhaltliche Fragen noch Gedanken machen müsste.
Hilberts Programm war vor allem ein mathematisches. Er glaubte keineswegs daran, dass die Mathematik ein inhaltsleeres Spiel sei, sondern wollte mit seiner formalistischen Interpretation der Mathematik die Sicherheit zurückgeben, die sie im Zuge der Grundlagenkrise verloren hatte. Man kann ihn also als überzeugten Platonisten und als notgedrungenen Formalisten bezeichnen, sein Formalismus war eine Methode, um einen realistischen Standpunkt für die Mathematik zu retten. Sein mathematisches Programm ist allerdings daran gescheitert, dass Kurt Gödel 1930 nachwies, dass kein hinreichend komplexes System seine eigene Widerspruchsfreiheit beweisen kann. Es ist also beispielsweise nicht möglich, innerhalb der Arithmetik der natürlichen Zahlen die Widerspruchsfreiheit eben dieser Arithmetik zu beweisen, womit die gewünschte Grundlegung der Mathematik wieder einmal zusammenbricht. Schließlich sollte die Sicherheit der mathematischen Methode primär darauf beruhen, dass man die Widerspruchsfreiheit des jeweiligen Axiomensystems demonstrierte, und wenn schon das nicht ging, dann konnte es mit der Sicherheit nicht weit her sein.
Man kann aber jenseits des mathematischen Programms Hilberts einen konsequenten Formalismus entwickeln, indem man auf jeden platonistischen Anflug verzichtet und die Auffasssung von Mathematik als Spiel ohne inhaltliche Bedeutung nicht mehr als Hilfsmittel zur Gewinnung von Sicherheit begreift, sondern als wesentliches Charakteristikum der Mathematik selbst. Ob die Axiome widerspruchsfrei sind oder nicht, ist dann nicht mehr die zentrale Frage, sondern nur noch eine mögliche Frage unter vielen. Die Axiome selbst werden, wie ich es am Beispiel des Schachspiels erläutert habe, als Grundannahmen betrachtet, und die Mathematik besteht darin, nach klar festgelegten Regeln Schlussfolgerungen aus diesen Axiomen zu ziehen. Irgendwelche Bedeutungen, die man mit Objekten wie Punkten oder Geraden verbinden könnte, spielen dabei nicht mehr die geringste Rolle, es kommt nur noch auf die in den Axiomen definierten Grundstrukturen und auf das korrekte Anwenden der vorgegebenen Schlussregeln an. Ein Beweis, der sich nicht auf die mechanische Anwendung der Schlussregeln reduzieren lässt, ist kein gültiger Beweis. Auf diese Weise wird die Mathematik zu einem Spiel, das nach festen Regeln gespielt werden muss, jede Abweichung von den Regeln führt automatisch dazu, dass man sich an dem Spiel Mathematik nicht mehr beteiligt. Und wie die Endstellung einer Schachpartie nicht die mindeste inhaltliche Bedeutung hat, sondern nur eine Stellung darstellt, die nach erlaubten formalen Operationen eingetreten ist, kann man auch einem mathematischen Satz keinen echten Inhalt mehr zuordnen. Beim Beweis eines Satzes sind ja nur inhaltslose Grundstrukturen nach einmal festgesetzten Regeln manipuliert worden, und aus dem mechanischen Manipulieren bedeutungsloser Strukturen entsteht kein bedeutungsvoller Satz. Alles was man sagen kann, ist, dass ein mathematisches Ergebnis formal korrekt aus diesem oder jenem Axiomensystem hergeleitet wurde; die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit des Ergebnisses stellt sich überhaupt nicht mehr, da schon die Axiome nicht mit solchen Fragen belastet wurden. Es ist klar, dass bei dieser Auffassung von Mathematik auch die Widerspruchsfreiheit der Axiome keine besondere Bedeutung mehr hat, da nichts mehr eine Bedeutung hat. Stellt sich im Verlauf einer korrekten formalen Herleitung heraus, dass das verwendete Axiomensystem widersprüchlich war, so ist das wieder nichts anderes als ein formal korrekt hergeleitetes Ergebnis, das vermutlich zu der Konsequenz führen wird, dass man ein anderes Axiomensystem als Ausgangspunkt verwenden wird. Da Axiome keine inhaltliche Bedeutung haben, ist ein System so gut wie das andere, und die Wahl des passenden Axiomensystems verliert jede Dramatik.
Es ist dieser Standpunkt, auf den sich viele Mathematiker auch heute zurückziehen dürften, sobald man sie mit Fragen nach den Grundlagen der Mathematik behelligt. Und in der Tat scheint er inmmerhin zwei meiner drei Probleme auf elegante Art zu lösen. Wie sieht es beispielsweise mit dem Objektbereich der Mathematik aus, in welcher Weise existieren mathematische Objekte? Ganz einfach: es gibt nur völlig bedeutungslose Axiome und ebenfalls inhaltsleere Schlussregeln, an die man sich zu halten hat, und andere Objekte kommen nicht vor. Der Formalist braucht keinen gesonderten Existenzbereich für seine Objekte, weil er nichts anderes kennt als Zeichenketten, die bestimmten Manipulationen unterworfen werden dürfen, wobei die Schlussregeln ebenfalls als Zeichenketten dargestellt werden. Was braucht man mehr? Ein Schachspieler wird ja auch keinen speziellen Teil der Welt für die Positionen der Figuren auf seinem Schachbrett reservieren wollen, für ihn stellt sich die Frage nach einem Objektbereich des Schachs nicht, weil er nur bedeutungslose Figuren und erlaubte formale Manipulationen kennt. Und genauso sieht es der formalistische Mathematikspieler. Er hat seine Grundfiguren und seine Spielregeln, alles liegt in Form von Zeichenketten vor, und mehr wird nicht gebraucht. Die Frage nach dem Objektbereich der Mathematik findet somit eine einfache Lösung: es gibt keinen besonderen Objektbereich der Mathematik, und deshalb muss man ihn auch nicht beschreiben.
Mit dem Problem der Sicherheit sieht es nicht anders aus. Warum haben mathematische Objekte einen Sonderstatus, warum ist mathematische Erkenntnis sichere Erkenntnis? Nach formalistischer Auffassung gibt es überhaupt keine mathematische Erkenntnis, da Mathematik nur ein inhaltsleeres regelbasiertes Spiel ist, bei dem man aus bedeutungslosen Zeichenketten weitere bedeutungslose Zeichenketten generiert. Und wo es keine Erkenntnis gibt, muss man auch nicht nach ihrer Sicherheit fragen, das Problem verschwindet, bevor es überhaupt auftreten konnte. Nur auf die Frage nach der Anwendbarkeit der Mathematik weiß der Formalist keine brauchbare Antwort. Er manipuliert ja nur Bedeutungslosigkeiten: wie kann es dann sein, dass man diese Bedeutungslosigkeiten mit großem Erfolg auf die physische Welt anwendet? Die übliche formalistische Antwort ist die, dass man die durch rein formale Deduktion erzielten, aber eigentlich inhaltsleeren Ergebnisse mit einer Interpretation versieht und damit einen Bezug zur physischen Realität herstellt. Ein Punkt und eine Gerade sind dann auf einmal nicht mehr nur inhaltlose Worte, sondern sollen das darstellen, was man sich üblicherweise unter einem Punkt und einer Geraden vorstellt. Aber warum sollten die vorher rein formal erzielten Ergebnisse etwas mit einer Welt zu tun haben, die nicht unbedingt rein formal ist? Wieso liefern nun völlig inhaltsleere Formeln, nur weil man ihren Grundbegriffen eine Bedeutung verleiht, auch inhaltliche Ergebnisse, die allem Anschein nach etwas über die physische Welt aussagen? Kann man dann überhaupt noch die eigentlich inhaltsleeren Ergebnisformeln aufrecht erhalten, deren Grundidee ja gerade darin bestand, dass es nur um die regelbasierte Herleitung von Formeln ging und Inhalte keine Rolle spielen? Es käme auch kaum jemand auf den Gedanken, aus der Endposition eines Schachspiels konkrete physische Eigenschaften von lebendigen Pferden oder steinernen Türmen zu folgern, nur weil man einige auftretende Figuren als Pferde oder Türme bezeichnen kann.
Für das Anwendbarkeitsproblem kannder Formalismus also keine Lösung bereit stellen. Aber auch seine Lösungen der ersten beiden Probleme sind Scheinlösungen, die auf einer fehlerhaften Identifikation von formalistischer Mathematik mit Mathematik überhaupt beruhen – eine Schwierigkeit, die schon beim Intuitionismus auftauchte. Natürlich könnte man im Prinzip jeden existierenden Beweis dem formalistischen Programm unterwerfen und auf diese Weise zeigen, dass es sich auch bei diesem konkreten Beweis um ein regelbasiertes Spiel handelt. Das ist aber himmelweit von der mathematischen Realität entfernt und kann die Rolle der Mathematik nicht im Entferntesten beschreiben. Würde man bei jedem mathematischen Problem, gleich welcher Komplexität, immer und immer wieder auf das jeweilige Axiomensystem zurückgehen mit der Verpflichtung, die betreffende Aussage aus den Axiomen auf mechanische Weise mit Hilfe der erlaubten Schlussregeln herzuleiten, so gäbe es nur einen Bruchteil der vorhandenen Mathematik, weil die Umständlichkeit dieses Verfahrens jede weitere Arbeit beliebig verzögern müsste. Sicher könnte man so eine bestimmte Art von Mathematik betreiben, aber in der Realität wird man niemanden finden, der sich auf eine solche Methode einlässt, weil sie nichts anderes als unfruchtbar sein kann. Auch die Auffassung, die mathematischen Objekte hätten für sich genommen keine Bedeutung, ist in Anbetracht konkreter Beweise selbst dann schwer aufrecht zu erhalten, wenn man diese Beweise in ein formalistisches Spiel übertragen würde. Selbst dann muss man nämlich als Beweisender beim Übergang zum nächsten Beweisschritt eine Entscheidung treffen, welche der formal nach den Regeln erlaubten Manipulationen man nun an den erreichten Formeln vornehmen will. Das wird nicht auf gut Glück geschehen, sondern nach inhaltlichen Kriterien: wie kann man das gewünschte Ziel möglichst gut erreichen? Man muss die auf das Problem passenden Manipulationen herausfinden, was nur dann möglich ist, wenn man an die Bedeutung der formalen Zeichenketten denkt – an eben jene Bedeutung, die der Formalist wegdefinieren möchte. Unterlässt man das, so ist jede erlaubte Manipulation so gut wie jede andere, und eine Bevorzugung bestimmter Operationen im Rahmen eines Beweises ist nicht zu rechtfertigen. Es stellt sich also heraus, dass der Formalismus zwar Lösungen anbietet, aber diese Lösungen nicht so recht zum Problem passen, weil er die tatsächliche Mathematik ignoriert. Und was soll man von einer Philosophie der Mathematik halten, die sich die Mathematik so konstruiert, wie sie sie gerne hätte, und sie nicht so untersucht, wie sie ist?
Damit habe ich meine Diskussion des Grundlagenstreits der Mathematik beendet. Die Problemlösungen, die in seiner Folge vorgeschlagen wurden, haben sich als unbefriedigend erwiesen, und vielleicht liegt es daran, dass dieser Streit im Laufe der Zeit ein wenig eingeschlafen ist. Dennoch wurde und wird auch außerhalb der vorgestellten Hauptpositionen über philosophische Fragen der Mathematik nachgedacht. Das Beispiel von Imre Lakatos habe ich bereits am Anfang dieses Aufsatzes vorgestellt. In seinem Beitrag zum „Spektrum der Wissenschaft“[19] hat Kanitscheider zwei weitere Auffassungen besprochen, die versuchen, etwas Licht auf die Mathematik zu werfen.
Mit ihrem „Unvermeidlichkeitsargument“ haben W.V.O. Quine und H. Putnam versucht, eine neue Begründung für die Auffassung zu liefern, dass mathematische Objekte eine eigene Realität beanspruchen können. Es beruht darauf, dass man zur Formulierung sowohl mathematischer als auch naturwissenschaftlicher Aussagen oft so genannte Quantoren verwendet. Daran ist nichts Geheimnisvolles. Will man zum Beispiel zum Ausdruck bringen, dass für alle rechtwinkligen Dreiecke der Satz des Pythagoras gilt, so gibt es für den sprachlichen Ausdruck „für alle“ ein mathematisches Zeichen, das man als Allquantor bezeichnet und das nur eine formale Abkürzung für eben dieses „für alle“ darstellt. Offenbar ist dann dieser Allquantor auch im physikalischen Kontext einsetzbar, da naturwissenschaftliche Aussagen oft Allaussagen sind, die für alle Objekte eines bestimmten Bereiches gelten sollen. Zusätzlich zum Allquantor wird auch gerne der Existenzquantor verwendet, eine formelmäßige Abkürzung für den Ausdruck „es gibt“ oder „es existiert“. Es handelt sich also bei beiden Quantoren nur um abkürzende Schreibweisen, aber Quine und Putnam haben sie dennoch zur Grundlage eines Arguments gemacht, mit dem sie für die reale Existenz mathematischer Objekte plädieren: weil sich die Quantoren auf abstrakte wie auch auf reale Objekte anwenden lassen und die physikalischen und mathematischen Teile naturwissenschaftlicher Theorien sehr miteinander verschränkt sind, kann man „ohne willkürliche Parteilichkeit“[20] nicht physikalischer Realist und mathematischer Idealist sein.Hier genügt schon die Frage, warum man das eigentlich nicht sein dürfe, um dem Argument zumindest einen Teil seinesBodens zu entziehen. Denn warum soll man nicht parteilich sein? Der Vorwurf, bei einer Trennung der Sichtweisen in Parteilichkeit zu versinken, setztin Wahrheit schon die gewünschte Antwort voraus, denn sobald man – grundlos – akzeptiert hat, dass eine Trennung in zwei verschiedene Realitätskategorien eine unerwünschte Parteilichkeit impliziert, ist die Entscheidung zugunsten der Realität der mathematischen Objekte schon gefallen. Danach sollte man aber auch konsequent sein und noch einen Schritt weiter gehen. Immerhin könnte man ja auch die – als real erkannten – mathematischen Objektemithilfe von Quantoren auch mit weiteren Objekten verbinden wie zum Beispiel den Bewohnern des griechischen Götterhimmels. Um nur ein Beispiel zu nennen: für alle griechischen Götter existiert mindestens ein griechischer Berg mit der Eigenschaft, dass alle diese Götter auf diesem Berg wohnen. Hier werden mathematische Objekte – die Zahl 1 –,physischeObjekte – der Olymp – und mythologische Objektedurch Quantoren miteinander verbunden, und„ohne willkürliche Parteilichkeit“ kann man den mythologischen Objekten dannnicht die Realität absprechen, die man den mathematischen und den physischen bereits zuerkannt hat.
Das Argument, die Anwendungenvon Quantoren auf mathematischeObjekte sei für die Wissenschaft unvermeidlich und deshalb müssten diese Objekte auch existieren, erinnert tatsächlich an theologische Vorgehensweisen, denn auf ähnliche Weise argumentiert auch Joseph Ratzinger gerne: nur weil der Mensch oft und gerne an ein Lebennach dem Tode glaubt und dieser Glaube für viele unverzichtbar ist, um ihr Leben zu ertragen, muss natürlichauch ein Leben nach dem Tode existieren.[21] Ob Putnam und Quine die geistige Nähe zum Papst unbedingt erwünscht hätten, ist mir durchaus nicht klar, aber ihrer Theorie zufolge ist sie kaum vermeidbar – oder sogar unvermeidbar und daher ihrer Meinung nach auchreal. Auch Isaac Newton war der Meinung, die Existenz eines Schöpfergottes sei unvermeidbar, um das Wesen der Schwerkraft zu erklären, und doch wird man das heute kaum noch als gültiges Argument ansehen. Die Frage nach dem Objektbereich, die Quine und Putnam mit ihrem Ansatz klären wollten, bleibt daher trotz ihres Unvermeidlichkeitsarguments offen.
Einen ausgesprochen platonistischen Ansatz zum Zusammenhang zwischen physischer Realität und Mathematik hat Max Tegmark vorgeschlagen.[22] Ausgehend von der kosmologischen Theorie des Multiversums, nach der es nicht nur unser Universum gibt, sondern dieses Universum nur eines unter vielen ist, erklärt er die „mathematischen Objekte für die primäre Realität“, alles andere, insbesonde die physische Realität, ist abgeleitet. Die verschiedenen Universen bestehen aus „konsistenten formalen Strukturen“, und einige von ihnen besitzen die „kontingente Eigenschaft“, intelligente Substrukturen hervorzubringen. Das geht zwar nicht in allen dieser konsistenten Strukturen, aber in unserer eben schon, und damit ist auch das Problem gelöst, warum unser Universum durch die Gleichungen beschrieben wird, durch die es beschrieben wird.[23] Hier weiß man nicht so recht, wo man anfangen soll. Tegmark scheint eine Art anthropisches Prinzip zu installieren: wir sind nun einmal da und die Gleichungen sind nun einmal so, wie sie sind, also leben wir eben in einer konsistenten Struktur, die intelligente Substrukturen hervorbringt. Was ist dadurch gewonnen? Das Problem, warum wir durch Mathematik das Universum beschreiben können, ist auf diese Weise keineswegs lösbar, schließlich ist auch die Euklidische Geometrie eine ausgesprochen konsistente formale Struktur, man geht aber trotzdem davon aus, dass sie den und umgebenden Raum nicht korrekt beschreibt. Warum scheint also die Riemannsche Geometrie die für uns passende Struktur zu sein, und warum nicht die Euklidische? Die Antwort bleibt uns Tegmark ebenso schuldig wie jeder andere, und schon deshalb sind die Vorteile seiner Theorie nicht zu sehen. Ob man nun das Multiversum, sofern es denn ein solches geben sollte, als physisch annimmt und dann sagt, dass wir die Gleichungen unserem Universum abgelauscht haben, oder ob man es als eine formale Struktur ansieht, bei der man dann nicht so recht wissen kann, woher eigentlich die physischen Objekte kommen – das macht insofern keinen so großen Unterschied, als man in der einen Version vor dem Problem steht, die Existenzform der mathematischen Objekte zu erklären, während in der zweiten Version die Existenzform der physischen Objekte unklar bleiben muss. „The idea that physical world ... is a mathematical structure“[24] hilft hier nicht weiter, solange man nicht verdeutlichen kann, wieso eine mathematische Struktur zu physischen Ausprägungen gelangen kann. Im Übrigen ist nicht klar, wer eigentlich wissen soll, was eine logisch konsistente Struktur ist, bevor es ein Uni- oder Multiversum überhaupt gibt.Sind die logischen Gesetze über jeden Zweifel erhaben und vor der Geburt des Universums vorhanden?In diesem Fall müsste man klären, wo sie sich aufgehalten haben.Woher hat siedasUniversum gekannt, bevor es da war und sich nach ihnen richten konnte? Hier scheint durch die Hintertür der logischen Konsistenzder Schöpfergottins Spiel zu kommen, der die zulässigen Strukturen festlegt und damit alle Probleme aus dem Weg räumt. Dann hätte man sich allerdings die Theorie, die physische Welt sei eine mathematische Struktur, sparen können, denn der Schöpfergott kann auch die physische Realität gleich ohneUmweg über die konsistenten formalen Strukturen erschaffen, wenn er denn Lust dazu verspüren sollte. Indem man einfach die Mathematik mit dem Universum gleichsetzt, hat man bestenfalls eine verbale Scheinlösung der angesprochenen Probleme gewonnen. Über die Existenzform mathematischer Objekte ist damit nur wenig gesagt, weil dieses Problem nur auf die Existenzform der physischen Objekte verschoben wurde. Und die Frage der Anwendbarkeit der Mathematik wird dadurch beantwortet, dass die Mathematik ja schon die Welt ist und man sich daher nicht über das Zusammenpassen wundern muss. Ersetzt man hier die Mathematik durch Gott, so gelangt man zu einer schönen Begründung für das Wirken Gottes in der Welt, und man sieht noch etwas deutlicher, dass es sich um ein Scheinargument handelt. Oder: warum kann man die Regeln der Moral auf die Welt anwenden? Ganz einfach, das Universum besteht in Wahrheit aus moralischen Strukturen, und daher ist es nicht überraschend, dass die Moral auf das Universum passt. Wenn man das, was man erklären will, gleich in den Urstoff des Universums hinein postuliert, ist es kein Wunder, dass man es am Ende wieder herausbekommt. Auch das Problem der Anwendbarkeit der Mathematik findet also auf diese Weise keine Lösung.
Eine völlig andere Theorie der mathematischen Objekte hat Karl Popper im Rahmen seiner Drei-Welten-Lehre vorgeschlagen. Er teilt die gesamte Welt ein in eine Welt 1 der physischen Objekte und physischen Vorgänge sowie eine Welt 2 der psychischen Vorgänge. Dazu kommt aber noch eine Welt 3: „Die Welt der Produkte des menschlichen Geistes; im engeren Sinne insbesondere die Welt der Theorien, einschließlich der falschen Theorien; und die Welt der wissenschaftlichen Probleme.“[25] Popper behauptet, „dass die Welt 3 zwar genetisch das Produkt der Welt 2 ist, dass sie aber eine innere Struktur hat, die teilweise autonom ist.“[26] Warum kann man nun diese Welt 3 als wirklich betrachten? Das kommt ganz darauf an, wie man den Begriff der Wirklichkeit definiert, und Popper schlägt vor, „etwas wirklich zu nennen, wenn es auf die Dinge der Welt 1 einwirken kann,. entweder direkt oder indirekt.“[27] Da nun aber das Bewusstsein, dessen Vorgänge zur Welt 2 gehören, sowohl Kontakt zur physischen Welt hat – schon deshalb, weil Bewusstseinsvorgänge auch mit physisch vorhandenen Gehirnprozessen zu tun haben – als auch zur immateriellen Welt 3, da man mithilfe des Bewusstseins die Gegenstände der Welt 3 erfasst, gibt es eine indirekte Verbindung zwischen Welt 1 und Welt 3 über die Welt 2. „Man kann nicht ernsthaft leugnen, dass die Welt 3 der mathematischen und empirisch-wissenschaftlichen Theorien einen ungeheuren Einfluss auf die Welt 1 ausübt. Das tut sie beispielsweise vermittels der Tätigkeit von Technikern, die Änderungen in der Welt 1 bewirken, indem sie bestimmte Folgerungen aus diesen Theorien anwenden.“[28]
Diese Wirklichkeitsauffassung hat Konsequenzen für Poppers Einschätzung der mathematischen Objekten, die man gut am Beispiel der natürlichen und der ganzen Zahlen erkennen kann. Im Gegensatz zu Kroneckers berühmtem Satz, die ganzen Zahlen habe Gott geschaffen, alles andere sei Menschenwerk, betrachtet Popper die natürlichen Zahlen als Menschenwerk, als „Nebenprodukt der menschlichen Sprache, der Erfindung des Zählens.“[29] Hat man aber erst einmal die Zahlen selbst und ihre Grundoperationen wie Addition oder Multiplikation erfunden, so hat man keine große Wahl mehr: „die Gesetze der Addition und der Multiplikation ... sind keine menschliche Erfindung. Sie sind ungewollte, unbeabsichtigte Konsequenzen der menschlichen Erfindung, und sie wurden entdeckt.“[30] Sobald also die Grundstrukturen erfunden worden sind, geht es durchaus nicht mehr um menschliche Erfindungen, sondern um die Entdeckung objektiver Tatsachen, an denen nichts zu ändern ist. Auch die Existenz von Primzahlen oder die Aufteilung der ganzen Zahlen in gerade und ungerade Zahlen sind Entdeckungen, die nichts mehr mit freien Erfindungen des menschlichen Geistes zu tun haben. Schon die natürlichen Zahlen gehören zur Welt 3, aber die bei der Erfindung der natürlichen Zahlen unvorhergesehene Existenz der Primzahlen zeigt, dass die Objekte der Welt 3 ein autonomes Eigenleben führen und dass man ihre Eigenschaften nur noch entdecken kann, wie man beispielsweise die Eigenschaften von Atomen oder von Galaxien entdeckt. Mathematische Probleme und ihre gelungenen oder misslungenen Lösungsversuche sind autonome Bewohner der Welt 3, die deshalb eine eigene Wirklichkeit haben, weil sie – vermittelt durch die Welt 2 der psychischen Vorgänge – auf die physische Welt 1 einwirken.
So weit Poppers Theorie der Welt 3, die auf verschiedene Weisen kritisiert worden ist, und ihre Anwendung auf die Mathematik. Der manchmal geäußerte Widersprüchlichkeitsvorwurf – etwa in der Art, die Welt 3 enthalte beispielsweise auch die berühmteRussellsche Menge aller Mengen, die aber widersprüchlich sei, und müsse daher selbst widersprüchlich sein und könne nicht existieren– scheint mir allerdings nicht sehr treffend zu sein. Die Welt 3 enthält ja eben nicht die Menge aller Mengen oder ähnliche Objekte, sondern die in der Tat widersprüchliche Theorie über diese Menge. AuchRussellsGehirn enthielt in der einen oder anderen Form diese Theorie, aberkeiner käme auf die Idee, dass deshalb RussellsGehirn nicht existierte. Aber warum sind nach Popper mathematische Objekte und überhaupt die Objekte der Welt 3 real? Weil sie auf Welt 1 wirken, weil es eine Interaktion mit physischen Objekten gibt, und was mit Welt 1 wechselwirkt, das ist real. Nun gibt es aber eine Menge mathematischer Theorien, die nicht im Geringsten auf Welt 1 wirken, es gibt sogar solche, die es aller Voraussicht nach niemals tun werden, weil erstens die Menge der denkbaren Theorien unendlich groß ist und wir vermutlich nur endlich viel Zeit haben, für eine Wechselwirkung zu sorgen, und weilzweitens etliche Theoriensich mit derart abstrakten Objekten befassen, dass eine Anwendung in der physischen Welt 1 nicht zu erwarten ist. Aber unabhängig davon: selbst wenn man nur den derzeitigen Stand der Wechselwirkung berücksichtigen will, muss man eine Klasse von realen Theorien annehmen – das sind die aktuell wechselwirkenden –und eine Klasse von irrealen. Ich kann aber nicht sehen, warum man eine abstrakte Theorie über spezielle topologische Räume mit einem anderen ontologischen Status ausstatten sollte als beispielsweise die Differentialrechnung, die unzweifelhaft Auswirkungen auf Welt 1 hat. Als mathematische Theorie ist die eine so gut oder schlecht wie die andere. Geht man andererseits von einer Art potentieller Wirkung aus und gesteht zu, dass alles, was auf Welt 1 wirken könnte, schon real ist, dann kommt man in eine andere Ecke von Teufels Küche. Auch Probleme gehören ja in Poppers Welt 3, und sie müssen da auch sein, denndie Wirkung vieler Probleme auf Welt 1 ist offensichtlich. Man kann aber alles zum Problem machen; das gilt nicht nur in Diskussionen unter Ehepaaren, sondern in einem wesentlich allgemeineren Sinn. Jede beliebige sinnlos erscheinende Zeichenkettewirft schon das Problem auf, was wohl damit gemeint sein könnte, ob eintieferer Sinn dahinter steckt oder ob es sich eben nur um sinnlose Zeichen handelt. Somit muss auch jedebeliebige Zeichenkette,ganz unabhängig von den verwendeten Zeichen, als Bewohner der Welt 3 akzeptiert werden, und da beispielsweise die Kryptographie zur Mathematik gehört,ist auch jede nochso sinnlose Zeichenkette ein mathematisches Objekt mit einem eigenen Recht auf Realität.
Tatsächlich sind aber auch Konstellationen denkbar, in denen ein Bewohner der Welt 3 sein Existenzrecht in dieser Welt verliert. Denkt man sich einen mathematischen Aufsatz, der in irgendeiner einigermaßen unbekannten Zeitschrift veröffentlicht wird, so haben seine Inhalte allein schon durch den Druck eine klare Auswirkung auf die Welt 1, gehören also als wirkliche Objekte zu Welt 3. Nun kann aber die gesamte Auflage verloren gehen, und da niemand den Aufsatz jemals gelesen hat und der Autor kurz nach seiner Veröffentlichung verstorben ist, wird mit Sicherheit keine Wirkung in Welt 1 mehr zu verzeichnen sein, sodass der bisherige Bewohner der Welt 3 aus seiner Welt verschwindet. Umgekehrt kann man auch die Auffassung vertreten, dass jeder jemals gedachte Gedanke einen Platz in Poppers Welt 3 verdient, da beim Vorgang des Denkens in jedem Fall physische Vorgänge ausgelöst werden und somit eine Wirkung auf Objekte der Welt 1 vorliegt. Daraus folgt aber, dass jeder noch so große Unsinn in Welt 3 gehören würde, sobald er einmal gedacht worden ist.
Wie man sieht, führt Poppers Ansatz zu erheblichen Problemen, weshalb man ihn aber noch lange nicht ohne Weiteres verwerfen sollte. So gerät er beispielsweise nicht in das Problem, die Sonderstellung der Mathematik in Bezug auf die Sicherheit ihrer Erkenntnisse erklären zu müssen, da Popper als Fallibilist nicht davon ausgeht, dass so etwas wie sichere Erkenntnis existiert, und daher auch der Mathematik keinen Sonderstatus zugestehen muss. Seine Lösung des Problems, wie der Objektbereich der Mathematik aussieht, bleibt allerdings äußerst unbefriedigend. Dagegen hat sein Ansatz keine Schwierigkeiten mit der Frage nach der Anwendbarkeit der Mathematik, denn die grundlegenden mathematischen Objekte betrachtet er als Erfindungen des Menschen, und da der Mensch sich innerhalb der physischen Welt aufhält, ist es nicht überraschend, dass auch seine Erfindungen Bezüge zur physischen Realität aufweisen.
Betrachtet man aber Poppers Auffassungen zur Welt 3 nicht als fertige Lösung, sondern als ein metaphysisches Forschungsprogramm, das noch nicht vollständig ausgearbeitet wurde und dessen bisherige Ausprägungen der Korrektur bedürfen, so kann man sich fragen, welche Teile seines Ansatzes zu den beschriebenen Problemen führen, und dann versuchen, diese Teile zu verbessern. Und das ist in der Tat möglich, denn die oben angeführten Schwierigkeiten beruhen vor allem auf Poppers Wirklichkeitsdefinition und auf den Autonomieansprüchen der Bewohner seiner Welt 3. Reduziert man nun diese Ansprüche und verzichtet darauf, die Wirklichkeit von Objekten über ihre Einflussmöglichkeiten auf die physische Welt 1 zu definieren, so kann man tatsächlich auch zur Erklärung mathematischer Objekte auf so etwas Ähnliches wie die Welt 3 zurückgreifen, wenn auch nur teilweise. Popper hat den Kroneckersatz, dieganzen Zahlen habe Gott gemacht, alles andere sei Menschenwerk,gewissermaßen umgekehrt: die ganzen Zahlen sind eine menschliche Erfindung,vermutlich von der physischen Realität abstrahiert, und was danach an Zahlentheorie, Analysis oder Ähnlichem kommt, dasist bereits in der Grundstrukturversteckt und muss nur noch gefunden werden, nicht mehr erfunden. Was den ersten Teil angeht, so stimme ich ihm zu. Wir haben – und das war schwer genug und hat lange gedauert – beispielsweise die natürlichen Zahlen erfunden, einschließlich der zugehörigen Schreibweisen undRechenoperationen. Damit sind sie in der Welt, egal welche Nummer diese Welt nun auch tragen mag. Seltsamerweisescheint man sich javiel weniger Gedanken zu machen, ob die Objekte der Literaturwissenschaftler oder auch der Wissenschaftstheoretiker existieren und wenn ja, in welcher Weise. Kaum jemand wird bestreiten, dass eine philosophische Theorie existiert, weil man sie gedacht, ausgesprochen und aufgeschrieben hat und weil verschiedene Subjektein der Lage sind, sich darüber zu äußern. Eine weitergehendeRealität kann jedenfalls ich keiner philosophischen Theorie zugestehen. Und bei mathematischen Objektensind wir doch in einer viel besseren Situation, denn diese Objekte haben – im Gegensatz zu philosophischen oder gar literaturwissenschaftlichen Objekten – intersubjektiv überprüfbare Eigenschaften. Resultate, die mit der erfundenen Menge der ganzen Zahlen und ihrenebenfalls erfundenen grundlegenden Rechenoperationen erzielt werden, sind intersubjektiv überprüfbar, es handelt sich um klare Konzepte, die aus der Abstraktion derphysischen Realität gewonnen wurden, aber deshalb selbst real sind, weil sie zu jeder Zeit und an jedem Ort die gleichen Eigenschaften haben, genauso wie ein Wasserstoffatom zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort die gleichen Eigenschaften haben sollte. Es handelt sich also bei mathematischen Objekten wie den ganzen Zahlen um sprachliche Ausdrücke, die aber nicht nur sinnlose Zeichenketten darstellen,sondern aufgrund ihrer Konstruktion intersubjektiv überprüfbare Eigenschaften aufweisen.[31] Werdiese Eigenschaften nicht akzeptieren will, scheidet aus dem Spiel der Mathematik aus – aber jeder, der die Eigenschaften eines Autos bezweifelt, wird wohl auch besser nicht damit fahren, und wer nicht akzeptiert, dass Flugzeuge fliegen können, sollte sich von ihnen fernhalten. Insofern ist die Situation mathematischer Objekte nicht anders als diephysischer Objekte, auch wenn sie abstrakt sind.
Nun packt Popper aber die Probleme, die im Zusammenhang mit diesen Grundobjekten entstehen können, in dieautonome Welt 3, indem er sagt, dass sie in der Welt sind, sobald man sich beispielsweise einmal auf die Zahlen geeinigt hat. Das ist aber schon in der physischen Realität nicht der Fall. Die meisten von uns gehen davon aus, dass es Sterne und Planeten im All gibt, und zwar ganz von alleine, ohne unser Zutun. Bei den Galaxien kann man das schon anders sehen, eine Galaxisist ein abstrakter Begriff, der selbst erst erfunden werden muss, bevor man daran gehen kann, die vorhandenen Sterne und Planeten in Galaxien zu ordnen. Noch klarer wird das bei Galaxienclustern. Den Sternen und auch den einzelnen Galaxiendürfte es ziemlich egal sein, ob in der Nähe noch andere Galaxienihres Weges ziehen; nur die Definition und Beobachtung des Menschen macht aus verschiedenen Galaxien ein Galaxiencluster. Das existiert dann natürlich und hat bestimmte intersubjektiv überprüfbare Eigenschaften, aber man muss erst einmal die Begriffe der Galaxie und des Clusters erfinden, bevor man an die Probleme herankommt. Bei Objekten wie zum Beispiel den Primzahlen ist das aber ganz ähnlich. Selbstverständlich existieren die Zahlen 2,3,5,7,11 usw., sobaldeinmal die natürlichen Zahlen in der Welt sind, aber die Besonderheit, eine Primzahl zu sein, muss erst einmal definiert werden, bevor irgendwelche Probleme auftauchen, die manvielleicht lösen kann. Auch die Eigenschaft, Primzahl zu sein, ist eine erfundene Eigenschaft, und bevor jemand auf die Idee kommt, sich für Teilbarkeiten zu interessieren, ist diese Eigenschaft nicht in der Welt. Ich plädiere also dafür, Probleme nicht als autonom zu betrachten, sondern ebenfalls als Erfindungen des menschlichen Geistes, die aber nach ihrer Erfindung wieder mit dem gleichen Intersubjektivitätsargument wie oben reale Objekte sind. Deshalb würde man beispielsweise die Frage, welche natürlichen Zahlen wohl besonders schöne Kringel haben, kaum zur Welt der mathematischen Probleme zählen, weil sie keinen intersubjektiv überprüfbaren Sinn aufweist.
Was dann abergefunden und entdeckt werdenkann, sind die Lösungen der Probleme. Die alte Hilbert-Maxime "Da ist das Problem, löse es" bedeutet natürlich, dass mannach einer Lösung sucht, die zum Problem passt. Natürlich istjede mathematische Lösung – ebenso wie jede physikalische Theorie – zunächst einmal frei erfunden, aber diese frei erfundene sprachliche Struktur hat wieder intersubjektiv überprüfbareEigenschaften, die sich dann an dem vorhandenen mathematischen Problem messen lassen müssen. Und abgesehen von der grundsätzlichen Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft bedeutet das, dass eine vorgeschlagene Lösung ein mathematisches Problemlöst oder eben nicht; da gibt es kaum noch Entscheidungsspielraum. Zwar haben die Arbeiten von Lakatos deutlich gezeigt, dass die Frage, ob eine gegebene Lösung tatsächlich ein gegebenes Problem löst, im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich beurteilt werden kann, aber das ändert nichts daran, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine vorgeschlagene Lösung eines Problems intersubjektiv üerprüfbar ist und an den jeweiligen Standards gemessen werden kann.
Ichgestehe den mathematischenObjekten also ebenfalls Realität zu, aber ihre Autonomie beginnt erst sehr spät, nämlich auf der Ebene der Lösungen, und selbst dann ist diese Autonomie stark eingeschränkt, da die intersubjektive Beurteilung immer nur auf der Basis der jeweils akzeptierten Standards, also auf der Basis eines gewissen Hintergrundwissens erfolgen kann. Das ist aber kein Nachteil, denn in der gleichen Situation befinden sich auch alle anderen Wissenschaften; ohne ein gewisses Maß an akzeptiertem Hintergrundwissen, das man zu einem gegebenen Zeitpunkt als unproblematisch annimmt, kommt keine Wissenschaft aus. Was kann nun diese Auffassung zu den drei Grundproblemen beitragen, die mich durch den gesamten Aufsatz begleitet haben? In der Frage des Sonderstatus der Mathematik, was ihre Sicherheit angeht, schließt sich meine Position an die Poppers an. Wie ich schon zu Anfang besprochen habe, ist die Mathematik nicht sicherer als andere Wissenschaften und ist genauso wie beispielsweise die Physik auf akzeptierte Standards und ein zeitabhängiges Hintergrundwissen angewiesen. Da es also keinen Sonderstatus der Mathematik gibt, muss man ihn auch nicht erklären. Was die mathematischen Objekte und die Theorien der Mathematik angeht, so handelt es sich um sprachliche Ausdrücke, deren Eigenschaften einer intersubjektiven Überprüfung zugänglich sind, wodurch ihre Realität begründet wird. Die Probleme, die im Zusammenhang mit Poppers Welt 3 aufgetreten sind, kommen hier nicht zum Zuge, da Poppers problematisches Realitätskriterium nicht mehr verwendet wird, die Frage der Autonomie erst im Zusammenhang mit Problemlösungen auftaucht und die Rolle des zeitbedingten Hintergrundwissens berücksichtigt wird. So verschwindet beispielsweise das Problem des beliebigen Unfugs, der in Welt 3 beheimatet ist, vollständig, denn schließlich wird mathematischer Unfug genau dadurch erkannt, dass seine Eigenschaften eben nicht intersubjektiv überprüfbar sind, womit er das Wohnrecht in der modifizierten Welt 3 verliert. Dort finden sich nur die Dinge, die von uns unabhängige Eigenschaften haben und uns interessieren, da sonst der sprachliche Ausdruck, über dessen Eigenschaften man kritisch diskutieren kann, nicht entstanden wäre. Und die Frage nach der Anwendbarkeit lässt sich dadurch beantworten, dass die grundlegenden Objekte tatsächlich im Sinne Poppers Erfindungen des Menschen sind, der sich aber dabei, da er nun einmal in der physischen Realität lebt, seiner eigenen Erfahrungen bedienen muss, sodass die Welt der Erfahrungen automatisch eine Rolle bei den mathematischen Grundkonstruktionen spielt. Dass dann mathematische Erkenntnisse auf eben diese Erfahrungswelt angewendet werden können, muss nicht mehr überraschen, denn eine ähnliche Situation liegt auch im alltäglichen Gebrauch der Sprache vor, deren Begriffe in weiten Teilen von der Realität abstrahiert sind. Mithilfe dieser Begriffe kann man gehaltvolle Theorien über eben diese Realität formulieren, man kann aber auch beispielsweise aus den Begriffen des Pferdes und des Nashorns den neuen Begriff des Einhorns zu Wege bringen und versuchen, Aussagen über Einhörner zu treffen. Ob solche Aussagen auf die physische Realität angewendet werden können, muss dann überprüft werden, wobei man im Falle der Einhorntheorie üblicherweise davon ausgeht, dass sie der Prüfung auf Anwendbarkeit nicht standhält. Und im Falle mathematischer Aussagen ist es nicht anders. Da ihre Grundbegriffe menschliche Erfindungen sind, die von der Realität abstrahiert wurden, haben mathematische Aussagen eine Chance auf Anwendung, wenn auch keine Garantie; sie liefern Strukturen, die bei sorgfältiger Prüfung eine Anwendung auf die Realität erlauben könnten, aber wie im Falle des Einhorns ist es ohne Weiteres möglich, dass eine formal korrekte mathematische Struktur niemals zu einer Anwendung finden wird.
Die Druckfassung dieses Artikels ist in der Zeitschrift Aufklärung & Kritik 2/2010, S.
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[1]
Lexikon (2001), S. 364
[2] ZEIT (2005), S. 398
[3] Albert (2001), S. 15
[4] Zum Problem essentialistischer Definitionen vgl. auch Popper(1980), S.59ff
[5] Kanitscheider (2009)
[6] ebd., S. 72
[7] Lakatos (1990)
[8] Davis und Hersh (1985), S. 365
[9] Kanitscheider (2009), S. 73
[10] Davis & Hersh (1985), S. 407
[11] Kanitscheider (2009), S. 72
[12] Popper (1994a), S. 289)
[13] Niemann (2008), S. 73
[14] Davis & Hersh (1985), S. 334
[15] vgl. Russell (1988), S. 145
[16] Russell (1972), S. 246
[17] ebd., S. 233
[18] Hilbert (1922)
[19] Kanitscheider (2009), S. 72ff
[20] ebd., S. 78
[21] vgl. dazu Rießinger (2008)
[22] Kanitscheider (2009), S. 78 sowie auch Tegmark (2003)
[23] ebd.
[24] Tegmark (2003), S. 13
[25] Popper (1994b), S. 96
[26] ebd., S. 98
[27] ebd., S. 97
[28] Popper (1984), S. 161
[29] Popper (1994b), S. 98
[30] ebd., S.98f
[31] vgl. dazu auch Davis & Hersh (1985), S. 422, wo ein ähnlicher Ansatz skizziert wird