von Ulrich Büchler
„So ist denn das Gerechte die Mitte zwischen Gewinn und Verlust“. [1]
Die Gerechtigkeit ist niemals ein Zustand, sondern nichts als ein Ziel. Und wie es scheint: ein bewegliches, voller Dynamik. Sie ist bestenfalls für einen Moment zu erhalten. Aber schon im nächsten entwichen. Auf Dauer scheint sie nirgends zu weilen, nirgends zuhause. Sie erweist sich ohnehin als flüchtiger Gast. Kaum ist ihr Platz gemacht und sie eingezogen, da sucht sie das Weite. Dabei ist sie keineswegs leicht zu beeindrucken. Nicht ein einziges Wort vermag das zu erreichen. Es bedarf überhaupt keines, damit sie kommt oder geht, ein- oder auszieht. Davon hängt sie nicht ab. Ob gut oder böse, es spielt keine Rolle - gegen Worte ist sie immun. Das macht gerade ihr Wesen aus: darauf nichts zu geben. Sondern nur auf die Tat zu bauen, in der sie gründet. Etwas anderes zählt für sie nicht. Sonst bleibt sie fern.
Die Gerechtigkeit ist niemals ein Sein, sondern nur ein Geschehen. Natürlich ist sie nirgendsvorhanden. Es gibt sie nicht. Als Gegebenheit ist sie reine Utopie, eine wunschvolle Fiktion. Tatsächlich ist sie einzig in dem Akt beheimatet, durch den sie einkehrt: der ihr je und je den Boden bereitet, auf dem sie Einzug hält. Erst und einzig dieser Akt lässt sie wirklich sein.Davon ausgenommen, hinterlässt sie allenfalls Worte, die sie weder aufspüren noch jemals zu fassen bekommen. Dazu fehlt ihnen jegliche Kraft. Worte erschaffen, egal wie sie lauten, bloß eine Vorstellung: eine Einbildung von Gerechtigkeit. Aber niemals sie selbst. Weswegen ein Text wie dieser auch unmöglich ihr Wesen erschließt - er vermittelt allein das flüchtige Bild, das sein Verfasser von ihr gewinnt und entwirft. Etwas anderes ist auch nicht möglich. Und anderes zu behaupten, wäre unredlich. Um nicht zu sagen: nur selbstgerecht.
Der Akt, der die Gerechtigkeit bewirkt, versteht sich stets als Tat der Freiheit. Ohne sie kann Gerechtigkeit nirgends entstehen. Allseits geht sie ihr voraus, um ihr den Weg zu ebnen und ihr die Tür zu öffnen. Aber nicht nur das. Sie ist überhaupt die einzige Gastgeberin, die ihr ein Zimmer bereitet. Sowie zugleich die Besitzerineines Hauses samt Grund und Boden. Siehat
die Macht und das Recht zu entscheiden, ob sie einen Gast aufnimmt oder nicht. Das ist allein ihre Sache. Da sie niemand Rechenschaft schuldet, muss sie keinen Einspruch fürchten. Siebraucht nicht einmal Worte und Taten, um in Kraft zu treten. Sie ist dies schon immer, auch wenn sie nicht im Gleichmaß besteht. Doch das ist nachrangig. Als Eigentum eines Menschen bleibt sie stets vorhanden: er kann gar nichts anderes als frei sein. Gerecht hingegen muss er immer erst werden. Und das eben nur, sofern er es will.
Das Wesen der Freiheit erscheint ohnehin stabil. Im Verhältnis zur Gerechtigkeit eignet ihr eine mögliche Fülle, die der Gerechtigkeit fremd ist. Sie zeigt einzig Symptome des Mangels. Sonst nichts. Ein Zuviel an Gerechtigkeit ist undenkbar. Ein Zuviel an Freiheit nicht - es ist täglich erfahrbar! So gibt es von der einen niemals genug, von der anderen durchaus. Nämlich mindestens so viel, dass es ausreicht, gerecht oder ungerecht zu handeln. Diese Wahl, sich so oder so zu verhalten, gastlich oder ungastlich, zeichnet die Freiheit aus: sie hat die Macht zum Nutzen und Schaden. Da kann die Gerechtigkeit sehen, wo sie bleibt. Soviel Nutzen sie auch mitführt - es bringt nichts ein, wenn die Freiheit ihr keinen Raum gewährt. Im Verhältnis zu ihr hat sie nichts zu melden. Denn alle Kritik der Freiheit ist deren eigene Sache: sie kann sich nur selbst zurechtweisen. Das lässt sie sich nicht nehmen.
Der Weg, den die Gerechtigkeit nimmt, verläuft geradewegs so, wie es die Freiheit beschließt.Einen anderen Weg zu erwarten, wäre genauso abwegig wie der Entschluss, der Gerechtigkeit eine feste Heimat zu geben. Das hieße nicht nur ihr Wesen zu verkennen, das im Tun statt im Sein zutage tritt. Es hieße auch, sie umzudeuten und sie von einer Tat in einen Zustand zu verkehren. Was faktisch zwar unmöglich ist, aber genau darum eine Versuchung darstellt, es rhetorisch für möglich zu erklären. Schließlich verspricht die Gerechtigkeit einen Nutzen, den es zu mehren gilt - und sei es für eigene Zwecke. Sie festhalten und festschreiben zu wollen, ist darum als Illusion nur verständlich. Diesen Wunsch wach zu halten, ist eine Aufgabe, die - zumal sie ewig andauert -, geradezu wie geschaffen ist für die Politik und ihr theatralisches Beiwerk. Das kommt ihr immer recht: das Unmögliche als möglich hinzustellen - das ist ihre Sache. Das lässt sie sich nicht nehmen. Sie ist so frei.
Die Illusion der Gerechtigkeit zu nähren, ist jedoch keine Lappalie. Sie birgt ein Risiko- und Schadenspotential, das nicht zu unterschätzen ist. Und zwar nicht nur, weil die Illusion allein von Phrasen lebt und strotzt. Nicht nur, weil es immer mehr und wuchtigere Phrasen braucht, um Gerechtigkeit zu inszenieren. Nicht nur, weil die Politik diese Phrasen funktionalisiert, sie zur Vortäuschung falscher Tatsachen benutzt, indem sie sich als Werktätige der Gerechtigkeit aufspielt - obwohl sie bestenfalls wirksame Gesetze erlässt, die ein gerechtes Handeln fördern und fordern. Nein, der reale Gesamtschaden einer Phrasengerechtigkeit zeigt sich vielmehr als abgründige Schlucht zwischen Wort und Tat, wenn nach endlosen Verheißungen nur deren Dubletten folgen. Dann wächst mit dem Volumen der Illusion einzig das der Enttäuschung. Das muss man wissen und es schon um der Redlichkeit willen beachten, bevor man den Mund aufmacht. So frei sollte der Kopf schon sein.[2]
Der Unterschied zwischen Wort und Tat ist damit negativ bewertet. Die zugegeben seltenereVariante eines positiven Unterschieds bestünde darin, dass die Politik der Ungerechtigkeit das Wort redet, ihre Taten aber das Gegenteil bewirken. Wobei diese Version nicht mal schädlich wäre - allenfalls ärgerlich. Im Falle ihres Bestandes wäre sie der anderen Version unbedingt vorzuziehen, zumal allein die Tat und nicht das Wort den Ausschlag gibt. Doch was sollen solche Denkspiele, wenn sie der Realität widersprechen? Die deutsche Gesellschaft, das heißt,ihre untere Schicht weiß das längst besser. Sie ist längst damit vertraut, dass nicht öffentliche Worte, sondern erst gesetzliche Taten, die ihnen sittsam folgen, ungleiche Lebensverhältnisse bekräftigen. Dieses eindringliche Wissen verdankt sie der Ober- und der Mittelschicht: einer Allianz aus Macht, Recht und biederer Pflicht, die in Wort und Tat hat eins werden lassen, was vormals nur lose, so fahrlässig verbunden war.
Die Einheit von Wort und Tat - erst sie hat die Realität verändert. Dass in der Regel das Wort der Tat vorausgeht, um sie vorzubereiten, ist indes weder zu bestreiten noch über zu bewerten. Denn faktisch sanktioniert erst die Tat das Wort: durch sie tritt es voll, weil wirklich in Kraft. Da bilden Gesetze keine Ausnahme - im Gegenteil. Selbst das Grundgesetz samt aller Rechte, die es umfasst, bleibt der Irrealität verhaftet, solange es nicht real zur Anwendung gelangt. Es ist - wie der Grundwert der Gerechtigkeit - regelrecht nicht vorhanden, wenn es nicht durch Taten in seinemGeist zum Leben erweckt wird. Sein Postulat eines Sozialstaats in Artikel 20
sagt darum nichts über dessen Realität aus. Es ist nur ein Wort, woraufhin der Sozialstaat als solcher weder entsteht noch sich als solcher erweist. Dass von ihm die Rede ist, oder dass er wie unlängst ins Gerede kommt: das heißt noch nichts - solange er nicht in Hände gerät, die das Grundgesetz lässig beiseitelegen. Um ein anderes Gesetz fahrlässig vorzuziehen.[3]
Das Sozialgesetzbuch II gibt sich als dieses andere Gesetz zu erkennen. Es prägt wesentlich bereits die soziale Realität in Deutschland; zumal es eben nicht nur als Wort besteht, sondern aus Wort und Tat als Einheit. So bedarf es keiner Auslegung wie das Grundgesetz: es legt sich durch die Tat aus, die auf das Wort folgt. Nur sie teilt mit, was die neuere Regierungspolitik unter „Sozialstaat“ versteht und wie sie diesen Staat von jenen verstanden wissen will, die auf ihn als Sozialstaat angewiesen sind - nämlich als ökonomische Instanz zur primär materiellen Existenzsicherung.[4] Daran lässt die Politik keinen Zweifel: sie sieht sich als Staatsanwältin und doch immer berufen, eine triviale Ökonomie zu vertreten. Wozu der Sozialstaat nutzt, was er für die Bürger aller Schichten ist und leistet, interessiert sie nicht mehr. Einzig, was er kostet, ist höchst relevant. Diese Kosten bilden das Motiv, um vom Wort zur Tat zu schreiten - um damit jene unter Druck zu setzen, die scheinbar allein einen Nutzen verbuchen.
Der Umfang der Kosten besagt jedoch nichts. Für sich genommen, taugt er unmöglich dazu,profunde Erkenntnisse zu gewinnen. Und erst recht keine, die so eindeutig sind, als dass siesich in Gesetze umbilden ließen. Denn das erforderte eine kritische Gesamtschau, die keinem Einzelaspekt Priorität beimisst. Nein, die Kosten sind eben, weil sie erst einmal nur in Zahlen vorliegen, nicht anders zu bewerten als Worte: für beide Kategorien gilt, dass sie niemals die Realität spiegeln, sondern allein ihr selektiv codiertes Abbild. Wiederum für sich genommen, bekundet es als Zahlenwerk lediglich eine Teilwahrheit - es fixiert einzig die Sozialausgaben im Staatshaushalt. Genau diese Extradaten aber geraten dem Sozialstaat strikt zum Nachteil. Sein Vorteil erscheint, zumal er ökonomisch kaum zu vermessen ist, auch faktisch in Zweifel gestellt. Dabei ist er tagtäglich real zu erfahren: zuerst in Gestalt eines sozialen Friedens, der noch allen einen Nutzen gewährt. Wenn nur jeder einen gerechten Beitrag leistet.[5]
Die Debatte, die seit einiger Zeit den Sozialstaat umkreist, hat sich ursächlich an der Frage der Kosten entzündet.[6] Was durchaus kein Erstaunen erzeugt - der starre Blick auf die Kosten trübt schlechthin alle Erkenntnis. Erstaunen lässt vielmehr die Tatsache, dass die Beiträge eingangs der Debatte nicht auf die Ausgaben des Staates, sondern des Einzelnen reflektierten. Es ging also zuvorderst nicht um die Staatsausgaben zur Finanzierung des Sozialsystems, sondernumdie eigene Steuerabgabe zur Finanzierung der Staatsausgaben. Kurzum: das sachliche Motiv zur Debatte war ein sehr persönliches. Damit fügt es sich einerseits einem Zeitgeist, das auch egomanischen Interessen erlaubt, im Gewand der Freiheit aufzutreten; andererseits bleibt es diesem Zeitgeist treu, obwohl sein pervertierter Freiheitsbegriff längst entlarvt, sein Gewand längst zerrissen ist. Das mutet dann schon grotesk an: dass angesichts einer desaströsen Krise weiter einer Freiheit das Wort geredet wird, die bereits zum Schaden aller gediehen ist.
Das Plädoyer für eine freiwillige Steuerzahlung diskreditiert sich selbst. Dennoch erzeugt es ein Unbehagen, indem es jenen Wertekonsens missachtet, wonach der Freiheit als Rechtsgut die Pflicht innewohnt, soziale Kompatibilität zu beweisen. Nach Abzug aller Ästhetik wirbt das Plädoyer indes offen dafür, diesen Konsens aufzukündigen. So erzielt es Streueffekte, die sekundär das Sozialsystem betreffen, primär aber das Steuer- und Rechtsmonopol des Staates: also das Fundament des Gemeinwesens. Eine autonome Steuerabgabe untergräbt darum nicht nur die Wirklichkeit des Sozialstaats; sie entkernt vielmehr überhaupt die Möglichkeit seiner Verwirklichung. Damit folgt sie nur peripher der Spur des Neoliberalismus. Tatsächlich betritt mit ihr die Willkür ökonomischer Macht den Untergrund des Rechts, um ihn geradewegs zu annektieren. Das heißt: um die persönliche Steuerpflicht in ein Privatrecht zu verkehren - und das Recht auf öffentliche Hilfe in einen privaten Gnadenakt zu wandeln.
Die Fundamentalkritik am Steuer- und Rechtsmonopol des Staates zeugt wie der Totalblick auf die Kosten von einer Ignoranz, die schon kardinale Qualität aufweist. Denn ungeachtet der je eigenen Haltung zum Sozialstaat; ungeachtet des je eigenen Bedarfs an seinen Leistungen; ungeachtet der Erkenntnis, dass seine Ausgaben niemals nur Ausgaben sind, sondern immer auch Einnahmen bedingen; und schließlich ungeachtet der Erfahrung, dass der soziale Frieden als immense Einnahme allen Bürgern auchIndividualrenditen inGestaltvon Sicherheit und
Freiheit einträgt. Ungeachtet all dessen ist doch zumindest historisch zu konzedieren, dass der Sozialstaat und seine Einzelsysteme kein Produkt des Zufalls sind; dass es im Gegenteil gute Gründe gab, ihn auf- und auszubauen. Ihn nun aus Kostengründen zu zerlegen, macht schon niemals einen Sinn, weil Einsparungen so wenig nur positiv zu Buche schlagen wie Ausgaben nur negativ. Ihre Kehrseiten zu verkennen, ist das Tagwerk schlichter Geister.
Der Auf- und Ausbau des Sozialstaats erfolgte stets in souveränem Staatsinteresse. Wobei der Grundimpuls darin bestand, durch die Systemleistungen und öffentlichen Zuwendungen einen sozialen Ausgleich zu erzielen. Diese Zielsetzung ist freilich nicht gegen andere auszuspielen: Gerechtigkeit ist nur herzustellen, wenn der Gedanke des Ausgleichs, der ihr innewohnt, auchumfänglich beachtet ist - also alle Bürger einschließt. Genau das jedoch ist nicht der Fall: der Sozialstaat wird wesentlich von der mittleren Schicht getragen, wohingegen die obere infolge proportional geringerer Steuerzahlungen überproportional von ihm profitiert.[7] Da sie ihm allenSchutz- und Freiraum zur ökonomischen Entfaltung verdankt, wäre es nur gerecht, wenn sie sich am Ausgleich der Lasten stärker beteiligt. Und bitte: dieser Beitrag versteht sich genauso als Recht und nicht nur als Pflicht. Wer privilegiert ist, über hohe Einkommen und Vermögen zu verfügen, der kann sich freuen - er darf hohe Steuern zahlen.[8]
Die ewige Klage über Steuerbelastungen ist an sich schon ärgerlich und peinlich. Das blinde Lob der Entlastungen, das ihr zwanghaft folgt, rührt indes an die Grenze des Erträglichen. Es vergeht kein Tag, ohne dass irgendjemand sich vorzugsweise darin politisch elitär wähnt, dass er dieser absurden Heilsdialektik vom Wort zur Tat verhilft - damit auch das ganze Land nur gründlich von ihr profitiere. Als ob das Wohl der Bürger, wenn nicht allein, so doch vor allem von ihrer Steuerlast abhinge. Als ob Steuersenkungen eine Leistungserhöhung des Staates zur Folge hätten. Wer verkündet solche Logik? Und wer meint allen Ernstes, dass der Staat seinen Aufgaben besser nachkommt, wenn er weniger Steuern einnimmt? Das denkt doch nur, wer der Quadratur des Kreises anhängt, statt sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.Aber so verhält es sich eben mit waschechten Ideologien: sie nehmen jeden Geist gefangen, der bereit ist, sich zu beugen und zu fügen. Da bildet der Neoliberalismus keine Ausnahme.
Das Senken von Steuern erfolgt aber nicht blindlings. Es in Worten zu versprechen und durch Taten umzusetzen, erscheint nur dann irrsinnig, wenn der Staat - trotz aller gebotenen Kritik - als eine Hoheitsinstanz anerkannt ist, weil ihm die Sicherung und Mehrung des Gemeinwohls obliegt. Wenn er stattdessen wesentlich als Erfüllungsgehilfe privatökonomischer Interessenbetrachtet und missbraucht wird, dann macht das Senken von Steuern sogar einen exzellenten Sinn. Denn dann braucht es weder einen soliden Staatsetat noch überhaupt einen Sozialstaat. Eine Politik der Steuersenkungen nimmt somit eine Erosion des Staates bewusst in Kauf, um ihn sukzessive seiner wirtschaftlichen wie auch rechtlichen Fundamente zu entledigen. Nur so kann sie allein jenen nutzen, die sich einen schwachen Staat leisten können: einen Staat, der sich als Markt versteht und die Bürger als seine Kunden. Ob und inwiefern jemand an seinem Angebot teilhat, ist dann einzig eine Frage ökonomischer Potenz. Ohne Ausnahme.
Die rigide Politik einer weiteren Erosion der Staatsfinanzen ist darum mit aller legalen Macht in die Schranken zu weisen. Je früher desto besser. Sollen Staat und Gesellschaft nicht Gefahr laufen, heute schon jegliche Entscheidungsgewalt über ihre Zukunft einzubüßen, so sind ihre Mehrheitsgruppen gefordert, für das Gemeinwohl Position zu beziehen. Dazu bedarf es nun aber endlich auch einer Reform des Sozialstaates, die hält, was sie namentlich verspricht: die seine finanziellen Ressourcen perspektivisch sichert - nicht obwohl, sondern gerade weil und indem sie die Spur nach einem Höchstmaß an Gerechtigkeit verfolgt. Das Sozialgesetzbuch II jedenfalls verläuft sich nur im Niemandsland. Es erfordert zumindest eine Grundrevision, weil es weitaus mehr schadet als es nutzt: mag es arbeitsmarktpolitisch bereits von zweifelhaftem Wert sein, mag es finanzpolitisch ungünstige und sozialpolitisch unwürdige Effekte zeitigen; familien- und bildungspolitisch erweist es sich vollends als Katastrophe.
Der Kardinalfehler dieses Gesetzes besteht eben darin, derart einseitig erwachsene Bürger mit gesetzlichem Hilfebedarf in Betracht zu nehmen, dass es deren Kinder mit ihrem gesonderten Bedarf achtlos übersieht. Diese Tatsache, die das Bundesverfassungsgericht massiv kritisiert hat, verstößt aber nicht nur gegen eine Grundnorm der Gerechtigkeit, wonach jedem das Seine zusteht;[9] sie verletzt überhaupt jeglichen politischen Pragmatismus. Denn schon aufgrund der Korrelation zwischen allen politischen Feldern müssen Staat und Gesellschaft immens daran interessiert sein, dass insbesondere jene Kinder, deren Eltern der Unterschicht angehören, alle möglichen Entwicklungschancen erhalten, um sich durch Bildung von dieser Schicht zu lösen. Nur so sind jene Folgekosten, die das Sozialsystem heute belasten, potentiell zu vermindern. Einen Ausgleich der Chancen zu erwirken, ist insofern politisch in jeder Hinsicht geboten. Ihn durch unsoziale Steuersenkungen zu untergraben, verbietet sich rundweg von selbst.[10]
Der Sozialstaat und seine konkrete politische Ausgestaltung offenbaren sich aber nicht bloß in Worten mit primär gesetzlichem Anspruch. Diese bilden nur die Oberflächendimension seiner Gegenwart: sie bringen zum Ausdruck, was das je und je aktuelle staatliche Handeln aufgrund von Parlamentsmehrheiten bestimmt. Seine Tiefendimension, die zwar damit in Kontakt steht, umfasst jedoch alle übrige sozialhistorische Realität in Gestalt jener Worte und Taten, die sie abbilden. Darin eingeschlossen ist somit auch die Gesamtheit öffentlicher und veröffentlichter Meinungsäußerungen, die heute bereits intentional nicht nur auf die Zukunft des Sozialstaates reflektieren, sondern sie bereits präjudizieren. Ob und inwieweit diese Meinungen in Gesetzeeinfließen, ist nicht vorherzusagen. Feststeht, dass sie - wenn sie produktiv sein sollen -, ihr Konfliktpotential offen legen müssen. Die Kernfrage ist nur, welcher Preis dafür zu zahlen ist: was dürfen Konflikte im Zeitalter medialer Massenkommunikation kosten?
Der alltägliche Verlauf, den die Debatte um den Sozialstaat nimmt, erteilt darauf selbst schon eine Antwort. Offenbar meint das Gros der Politikelite, dass ihr jegliche Äußerung erlaubt ist, solange der Schaden, den sie damit verursacht, umgekehrt einen Nutzen für die eigene Sache und die eigene Wählerschaft einträgt. Das Kalkül, das dahinter steht, ist rein parteipolitischer Natur. Es erwirkt nicht bloß keinen Konsens über die Zukunft des Sozialstaats: es beschädigt sogar überhaupt die Kohäsion der Gesellschaft, indem es ihre sozialen Bindekräfte zersetzt. Die Frage nach dem Preis für Kontroversen verlangt daher, das normative wie situative Maß gesellschaftlicher Solidarität fallweise zu justieren: welches Maß an Konsens ist nötig, damit trotz der Fliehkräfte, die durch Konflikte entstehen, ein Maximum an Ausgleich möglich wird oder bleibt? Dieses eine Maß der Mitte gilt es, stets aufs Neue zu suchen und zu finden. Es ist die Formel des Ausgleichs - der Schlüssel zur Gerechtigkeit.[11]
Die Eliten der Gesellschaft erweisen sich hingegen im geringsten Sinne darin als elitär, dass sie auf einen Ausgleich bedachtet sind. Ob in Politik oder Wirtschaft, gewöhnlich verkennensie überhaupt das Erfordernis, das Maß der Mitte anzupeilen - zumal sie es als Widerspruch ihres Status‘ auslegen. Dabei erliegen sie nicht nur dem Irrtum, dass die Gerechtigkeit statt als Mittelmaß als Höchstmaß dessen anzusehen ist, was ein Mensch als Wert für sich und andere zu realisieren vermag. Nein, sie bilden sich auch wider alle Logik ein, ihr Erfolg und Gewinn sei allein ihrer eigenen Person und Leistung geschuldet und also vom Misserfolg und Verlust Dritter abzulösen. Dass beides immer und unbedingt korreliert - dazu mangelt es ihnen, wenn nicht an rationaler, so doch an sozialer Intelligenz und Reife. Diese Tatsache aber, dass sie als Profiteure einer dialektischen Logik ihren eigenen Profit sich selbst zuschreiben, lässt sie dasMaß der Mitte in Ignoranz verfehlen. Es sei denn, sie besinnen sich in Wort und Tat.
Das Versagen der politischen Elite wiegt allerdings umso schwerer, als sie im Unterschied zur ökonomischen auf Kategorien des Ausgleichs verpflichtet ist. Indem sie stattdessen nun schonjahrelang der Dialektik von Gewinn und Verlust anhängt, missachtet sie einerseits latent ihren Verfassungsauftrag, das Gemeinwohl herzustellen. Anderseits preist sie im Interesse und zum Vorteil privatökonomischen Nutzens weiter ein Wachstum an, das in gemeinnütziger Hinsicht längst an sein Ende gelangt ist. Was sich heute rechtmäßig „Wachstum“ nennen will, das muß einen Gewinn für alle bedeuten. Anderenfalls erzeugt es nur Gewinn infolge von Verlust und Reichtum aufgrund von Armut. Wirkliches Wachstum weist sich indes dadurch aus, dass es der Gerechtigkeit zuträglich ist: es verschafft gerade jener Freiheit einen elitären Vorteil, die zum Gemeinnutzen beiträgt. Dabei wäre dieser Utopie fürs Erste gedient, wenn das heutige „Wachstum“ zum Unwort erklärt würde - utopische Taten werden dann folgen.
[1] Aristoteles; Nikomachische Ethik Buch V, Kapitel 7, 1132 b
[2] Vgl. Martin Mosebachs Artikel „Anarchismus der Barmherzigkeit“ in: DIE ZEITvom 30.11.2009, S. 44
[3] Vgl. zum Sozialstaatsprinzip Rudolf Weber-Fas, Grundrechte Lexikon, Tübingen 2001, S. 180 ff
[4] Vgl. zum Paradigmenwechsel der Sozialpolitik exemplarisch:
http://www.diakonie-bayern.de/armutswirkung-von-sozialpolitik.html
[5] Platon definiert die Gerechtigkeit als die Grundtugend, dass jeder das Seinige tut und hat; Politeia 433 e
[6] Im Folgenden wird zunächst auf die Phase der Debatte Bezug genommen, die mit Peter Sloterdijks Artikel „Die Revolution der gebenden Hand“in: FAZ vom 10.06.2009 einsetzt (http://www.faz.net/s/Rub9A19C8AB8EC84EEF8640E9F05A69B915/Doc~E3E570BE344824089B6549A8283A0933B~ATpl~Ecommon~Scontent.html). Vgl. zum Verlauf der Debatte die Zitatesammlung in: DIE ZEIT vom 29.10.2009, S. 45f ; Richard David Precht in: DER SPIEGEL vom 02.11.2009, S. 150 ff
[7] Vgl. Boris Groys‘ Artikel „Revolution der Tugend“ in: DIE ZEIT vom 17.12.2009, S. 56
[8] Vgl. hierzu Paul Kirchof in:FAZ vom 07.11.2009, der die Steuer aber letztlich negativ als „Preis der Freiheit“ tituliert. (http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~EC80A1D66914648E6AFF6710426DCFCF9~ATpl~Ecommon~Sspezial.html).
[9] Siehe Anm. Nr. 5; bzgl. des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010vgl. den Kommentar von Heribert Prantl „Das neue Minimum“ in: SZ vom 10.02.2010
[10] Vgl. hierzu exemplarisch die Ausführungen von Renate Köcher „Der Statusfatalismus der Unterschicht“ in: FAZ vom 16.12.2009 (http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E73D589DA6F0B4123B592EF733BA46137~ATpl~Ecommon~Scontent.html)
[11] Vgl. die Interpretation der aristotelischen Mesotes-Lehre von Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953)/Stuttgart 2007, S. 43 ff; Jürgen Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag; Jus privatum Bd. 21, Tübingen 1997, S. 57 - 60