Karl Heinz Bohrer, „Welche Macht hat die Philosophie heute noch?“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Jg. 64, H. 734, S. 559-570.

Peter Sloterdijk, Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, 147 S.

Die Prekarität der Philosophie

von Robert Lembke

Wenn man den geistigen Autoritäten und Inhabern der kulturellen Deutungshoheit Glauben schenken darf, so ist etwas im Begriff, an sein Ende zu gelangen – oder es ist schon zu Ende. In der Zeitschrift Merkur stellt Karl-Heinz Bohrer im Juli 2010 die resignativ anmutende Frage: „Welche Macht hat die Philosophie heute noch?“ Ebenso kreist Peter Sloterdijks neues Buch, das aus einer Tübinger Vorlesung vom Sommer 2009 hervorgegangen ist, um dieses Problem, hat aber gegenüber Bohrer den didaktischen Vorteil, zunächst große Mühe auf die Beantwortung der Frage „Was ist Philosophie?“ zu verwenden.

Im Ergebnis sind sich, soviel kann hier schon vorweggenommen werden, beide Autoren einig: Das Wort Philosophie meine im engeren Sinne jene metaphysische Tradition, die mit Platon beginnt und mit Hegel endet. Ebenso wie Sokrates und seine Vorgänger zur Vorgeschichte rechnen, ist alles, was auf Hegel folgt, als Infragestellung, Zersetzung und schließliche Abwicklung des philosophischen Denkens zu begreifen, die nun zu einem gewissen Abschluss gelangt sei.[1] Bevor jedoch die Frage beantwortet werden kann, was zur finalen „Verabschiedung des alteuropäischen Theoriesubjekts“[2] geführt hat, lohnt es sich, mit Sloterdijk einen Blick auf Genese und Geschichte des Projekts Metaphysik zu werfen.

Sokrates hatte beizeiten die Entdeckung gemacht, dass man sich durch konzentrierte Selbstversenkung in die Lage versetzen kann, Gegenstände und Prozesse anders als gewöhnlich aufzufassen, sie durch Analyse zu durchdringen und gewisse dem Ungeübten verborgene Gesetzmäßigkeiten zu entdecken. (Edmund Husserl, den Sloterdijk als eine Art letzten Mohikaner der Metaphysik aufruft, wird dieses Vorgehen, das die Griechen als Zwiegespräch mit dem Dämon anschaulich machten, später epoché, d.h. Urteilsenthaltung nennen und zur Grundhaltung seiner Philosophie machen.)

Platons Verdienst war es nun, aus dieser Bewegung ein höheres Prinzip abzuleiten und ihr mit der Gründung seiner Akademie eine wirksame Institutionalisierung zu verschaffen. Der Platonismus als die Behauptung, mittels eines von den Schlacken des empirischen und alltäglichen Lebens gereinigten Geistes ließen sich überweltliche und ewige Gegenstände nicht nur wahrnehmen, sondern man könne an ihnen teilhaben, wird von Sloterdijk mit der Metapher vom „Scheintod“ versehen, der Theoretiker als glücklich entronnener „Scheintoter“ apostrophiert.

Bekanntlich hatte schon die antike Tradition das Philosophieren als Einübung in das Sterben begriffen; Sloterdijk unternimmt es nun im Fortgang seiner Vorlesung, die Wandlungen und Erscheinungsweisen dieses Motivs zu untersuchen. Mit Hilfe einer von Nietzsche inspirierten genealogischen Untersuchung werden die Entstehungsbedingungen des Unternehmens Philosophie als Metaphysik aufgesucht und durchsichtig gemacht.

Zentral ist dabei die Einsicht in das höchst problematische Verhältnis von Demokratie und Philosophie: Während jene auf Partizipation und Einmischung beruht, versucht diese, den externen und unbeteiligten Beobachter zu konstituieren, der sich jenseits der Verhältnisse zu stellen bemüht ist. Sloterdijk scheut sich nicht, die platonische Philosophie als Ergebnis des Scheiterns der athenischen Politik zu interpretieren und sie als „Verliererromantik“ zu kennzeichnen, für die der Versuch charakteristisch sei, eine Niederlage – die der Polis – in einen Sieg umzudeuten.[3] Das theoretische Verhalten zur Welt werde so für all diejenigen attraktiv, die sich angesichts trostloser politischer Aussichten anderweitig schadlos halten wollen: „Das Denken bietet sich als das Vehikel zur Heimkehr ins himmlische Archiv an.“[4]

Die schließliche Entstehung des bios theoretikos als achtbarem Lebensmodell auf breiter Front verdankt sich Sloterdijk zufolge noch drei weiteren Bedingungen: Erstens den melancholischen Menschen, die zum Denken geradezu prädestiniert scheinen und dort ihre größten Leistungen vollbringen; zweitens der Herausbildung eines pädagogischen Bereichs, verbunden mit der Entbindung von körperlicher Arbeit bei gleichzeitiger Ruhigstellung des Körpers und der Einübung von Konzentration; drittens dem Siegeszug der abendländischen Schriftkultur, die das Fundament und die Form der theoretischen Ambitionen bildet.[5]

Die Lage des Unternehmens Philosophie bleibt jedoch von Beginn an prekär: hervorgegangen aus dem Prozeß der Auflösung der Polis und dem damit einhergehenden Verlust politischer Partizipation, kann sie sich nur durch Selbstüberhöhung Legitimität verschaffen; Sloterdijk spricht von „imaginärem Souveränismus“.[6] Das beschriebene Schauspiel wiederholt sich noch einmal in der römischen Welt, als sich nach dem Sturz der Republik der Redner und Rechtsanwalt Cicero zum stoischen Platoniker bekehren läßt. Entscheidend zu spüren bekommt die abendländische Philosophie ihre Prekarität zum ersten Mal in der Spätantike, als sie vom Christentum aufgesogen wird. Wozu noch theoretisieren, wenn die konkrete Gestalt des Heils in der Geschichte erschienen ist?

Mit der Renaissance beginnt das Spiel von neuem, die „Verliererromantik“ namens Philosophie tritt erneut auf den Plan – nur mit dem Unterschied, daß ihr jetzt in Gestalt der aufkommenden Naturwissenschaften, die sie aus sich entläßt, eine Macht an die Seite tritt, die das zivilisatorische Programm von Selbstbeherrschung in Richtung Weltbeherrschung verschiebt; daran wird fortan auch die Philosophie lebhaften Anteil nehmen. Im Durchgang einiger prägnanter Gestalten der Geistesgeschichte langt Sloterdijk schließlich wieder in der Gegenwart und damit bei Bohrers Eingangsfrage an, welche Bedeutung der Philosophie heute noch beigemessen werden könne.

Auffällig ist dabei die Ähnlichkeit der Diagnosen der beiden Denker: Von der akademischen Philosophie sei nicht mehr viel zu erwarten, seit sie zu einer Fachdisziplin regredierte, deren Erkenntnisse sich „sowohl akkumulieren als auch verbrauchen“;[7] höchstens tauge sie noch zur „Vorzimmerdame der Demokratie“.[8] Man müsse deshalb Erkenntnis, die diesen Namen verdiene, eher in der Literatur suchen, ja es gebe einen spezifischen Typus des literarischen Philosophen oder philosophischen Literaten, der das Denken im 20. und 21.Jahrhundert lebendig und gegenwärtig halte. Es folgt der innere Vorbeimarsch der üblichen Verdächtigen, allen voran Nietzsche, dann Sartre und Camus, von den Literaten etwa Paul Valéry und Robert Musil.

In der Frage, was zum Bedeutungsverlust der Philosophie geführt habe, für den Sloterdijk die griffige Formel von der „Tötung des reinen Beobachters“ parat hat,[9] scheiden sich jedoch die Geister: Während Bohrer neben Nietzsche – der eine Ablösung des Gedankens durch den Stil, eine Ersetzung des Leitbegriffs Denken durch den Leitbegriff Leben verantwortet hat – vor allem Wittgenstein ins Feld führt, sind es bei Sloterdijk nicht weniger als 10 (!) Faktoren, die zur Verabschiedung des reinen Beobachters geführt haben. Wittgensteins Sprachkritik findet sich allerdings nicht darunter; hier darf man vermuten, dass Sloterdijk die mächtig gewordene Tradition der analytischen Philosophie einfach ignoriert, weil er sich dem alteuropäischen Erbe verpflichtet fühlt.

Sloterdijks 10 Gründe lassen sich grob in zwei Gruppen einordnen: erstens der Zweifel an der Interesselosigkeit des Denkens, verbunden mit der aufkommenden Einsicht in dessen Bedingtheit: hierher gehören Nietzsches Erkenntniskritik, die Wissenssoziologie (Scheler, Kuhn, Foucault), der Feminismus, die Neurowissenschaften und nicht zuletzt die Atombomben als Sakrileg der Naturwissenschaften, die jeweils auf ihre Art die Reinheit und Neutralität reinen Beobachtens in Frage stellen. Der zweiten Gruppe gemeinsam ist der Primat der Praxis und des Lebens vor der Theorie und dem Denken: das beginnt mit Marx und den Junghegelianern, setzt sich fort mit Existentialismus und Marxismus in ihren verschiedenen Formen, bis schließlich unsere Gegenwart die Rückbindung des Wissens an die Gesellschaft und eine damit verbundene Einbettung des Wissenschaftlers fordert (Bruno Latour).

Wie bewerten nun beide Autoren diese vielstimmige und grundstürzende „Kritik der neutralen Vernunft“,[10] die offenbar zu einem vorläufigen Abschluss gekommen scheint? Hier setzt nun – bei beiden – ein auf den ersten Blick merkwürdiges Schwanken ein: Weder wird für ein Leben „philosophiefrei von der Wiege bis zur Bahre“ plädiert,[11] noch wird eindeutig – was nach ihren Ausführungen aber auch kaum zu erwarten war –, für eine Rückkehr zu Formen traditionellen Philosophierens plädiert. Und doch ist es Bohrer, der mit seinen abschließenden Leseempfehlungen überrascht; keine philosophierenden Schriftsteller, sondern die akademischen Philosophenkönige John Rawls und Charles Taylor werden genannt. Im Gegensatz dazu schließt Sloterdijk zwar mit Fernando Pessoa, jedoch nicht ohne zuvor sein Einverständnis mit der metaphysikkritischen Moderne zu relativieren und dem „reinen Bobachter“ eine kleine Träne nachzuweinen.

Und wie könnte es auch anders sein? Beide, Bohrer und Sloterdijk, sind im Grunde späte Exponenten jenes Denkens des god’s point of view, dessen Verabschiedung sie aktuell beiwohnen; beide fühlen sich wohl bisweilen wie Angehörige einer aussterbenden Spezies – denn was sind die freischwebende Kritik und der philosophische Essayismus anderes als die letzten, bereits von Dekadenz umwehten Erben der großen Philosophie, die sich ihre Nostalgie ob jener fernen Tage nicht verkneifen können, und denen darum nichts anderes bleibt, als zwischen den Zeilen auszurufen: „Die Philosophie ist tot, es lebe die Philosophie!“?


[1] Bohrer hat auch den passenden Buchtitel für diese Diagnose parat: Joseph Margolis, Pragmatism’s Advantage. American and European philosophy at the end of the twentieth century , Stanford UP 2010.

[2] Sloterdijk, a.a.O., S. 133.

[3] Vgl. ebd. S. 69.

[4] Ebd., S. 73.

[5] Bei all diesen Erläuterungen Sloterdijks muss man sich jedoch darüber im Klaren sein, dass durch sie im strengen Sinne nichts erklärt wird; sie gleichen eher einer assoziativen Zusammenstellung gleichzeitig aufgetretener Faktoren, wie sie sich dem geneigten Auge des Essayisten darbieten.

[6] Sloterdijk, a.a.O., S. 76. Weiter heißt es: „Nun soll der Zuschauer stets der Überlegene sein, indessen die Handelnden sich unweigerlich blamieren.“

[7] Bohrer, a.a.O., S. 562.

[8] Sloterdijk, a.a.O., S. 83.

[9] Gleichzeitig ist es auch eine „Wiederbelebung“, denn der Philosoph im platonischen Sinne war ja ein „Scheintoter“, der nun ins Leben zurückgeholt wird. Hier sind Sloterdijks Einsichten m.E. besonders treffend: „Oft steht der epistemischen Berufstätigkeit ein zweites Leben in wissenschaftsfreien Situationen gegenüber, in denen das Subjekt der Theorie mehr oder weniger unauffällig in die Denk- und Wahrnehmungsweisen des gewöhnlichen Lebens zurückschwingt. Das Dasein im Alltäglichen dient so als ein nicht deklariertes Kompensationstraining gegen die Vereinseitigungen, die für die berufsmäßig betriebene Wissenschaft erbracht werden müssen.“ (Ebd., S. 131)

[10] Sloterdijk, a.a.O., S. 134.

[11] Botho Strauß, Die Unbeholfenen. Bewußtseinsnovelle, München: Hanser 2007, S. 76.