von Michael Lausberg
Als Philanthropismus wird die Lehre von der Erziehung zur Natürlichkeit, Vernunft und Menschenfreundschaft bezeichnet. Das Erziehungsprogramm des Philanthropismus, eines wesentlichen Zweiges der deutschen Pädagogik während der Aufklärung (1720-1790), stand am Anfang der modernen Bildungsreformen im 19. Jahrhundert.[1] Schon vor dem Erscheinen von Rousseaus "Emile" verfolgten philanthropische Pädagogen eine Erziehung, die auf die Natur von Kindern und Jugendlichen abgestimmt war. Im Mittelpunkt der Erziehung standen keine „gottgeschaffene“ kosmologische Weltordnung, sondern der Mensch und eine von seinem Verstand ausgehende Ordnung. Alles Naturwidrige und Mechanische wurde in dieser Erziehungstheorie verworfen und durch eine naturgemäße freie Entwicklung des Kindes durch weitgehend selbsttätiges Lernen ersetzt. Der Philanthropismus lehnte jede bekenntnismäßige und kirchliche Bindung der Schule ab.
Zu den maßgeblichen philanthropischen Pädagogen gehörte Christian Gotthilf Salzmann. Das von Salzmann 1784 gegründete und danach schrittweise ausgebaute Philanthropin in Schnepfenthal bei Gotha wurde zur erfolgreichsten Musterschule des 18. Jahrhunderts, weil hier die pädagogische Praxis im philanthropischen Schulalltag ausgebaut wurde und deshalb die Schule von Salzmanns Nachkommen bis 1945 weitergeführt werden konnte.[2] Vor seiner Schulgründung hatte Salzmann als Liturg und Religionslehrer am Dessauer Philanthropin gearbeitet und von dort wichtige innovative Reformelemente nach Schnephenthal mitgebracht. Dazu reflektierte er in der Gründungsschrift: [3]
„Diese Verbindung mit dem Dessauischen Institut war mir außerordentlich wichtig. Ich kam auf einen Platz, wo selbstdenkende Erzieher schon seit einigen Jahren mit fast unumschränkter Freiheit gearbeitet hatten und noch arbeiten, und wurde dadurch in den Stand gesetzt, zu beurteilen, was in der Erziehungskunst ausführbar oder nicht ausführbar, warum dieser Plan gelungen, ein anderer gescheitert, wodurch diese Anstalt so weit gekommen, und aus was für Ursachen sie nicht noch weiter gekommen sei.“
Für Salzmann war es entscheidend, dass eine Reform von Schule und Erziehung im philanthropischen Geist empirisch existent war und mentalitätsverändernde Wirkungen heben konnte.[4] Der wichtigste finanzielle Förderer der Schnepfenthaler Erziehungsanstalt war Herzog Ernst II. von Gotha-Altenburg. Als einen weiteren, außergewöhnlichen Vorzug von Schnepfenthal unterstrich Salzmann die Erziehung zur Sauberkeit und das Erlernen geselliger Umgangsformen. Zentral war für ihn auch eine Gesundheitserziehung der Kinder, die neben einer bekömmlichen Ernährung in dem Wissen bestand, selbst gesund zu essen. Er legte großen Wert über die allgemeinen Bestrebungen der Philanthropen hinaus auf die körperliche Betätigung. Neben turnerischen Übungen sollte Gartenarbeit geleistet werden – als Symbol hing über der Tür in Schnepfenthal ein Spaten.
Wo immer möglich, sollte der Unterricht durch sinnliche Gestaltung in der Natur oder, wo dies nicht möglich war, durch anschauende Erkenntnis im Unterricht mit Hilfe von Kupferstichen handlungsbezogen inszeniert werden. [5]
Kinder und Schülerorientierung hatten ihren festen Platz im philanthropischen Alltag der Musterschule. Die Selbsttätigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Schüler wurden in vielfältig pädagogisch inszenierten Situationen immer wieder neu herausgefordert.
Grundsätzlich stand bei allen pädagogischen Überlegungen die Individualität jedes Schülers im Mittelpunkt. Dabei wurde im Schulalltag die Anerkennung unterschiedlicher Meinungen für Lehrer und Schüler zu einem Diktum:[6] „Und wenn die besten und weisesten Menschen sich miteinander verbinden, so hat doch jeder seinen eigenen Gesichtspunkt (…), wie jeder Mensch sein eigenes Gesicht hat.“. Die Gleichbehandlung der Kinder ohne Rücksicht auf Vermögen oder Stand der Eltern dokumentierte die für die Zeit moderne und bürgerliche Perspektive der Schnepfenthaler Schule:[7] „Gleiche Kleidung, Wohnung, Kost, gleicher Unterricht und gleiche Vergnügungen. Geld, Stand und alle Schmeicheleien der Äußerlichkeit und des Zufalls entscheiden hier nichts.“
Schnepfenthal war wenige Jahre nach seiner Gründung bekannt geworden; Gelehrte wie Klopstock, Wieland, Jean Paul, Goethe und Fichte machten sich ein eigenes Bild von den Erziehungsmethoden. Bis zu Salzmanns Tod im Jahre 1811 wurden 272 Schüler am Schnepfenthaler Philanthropin eingeschult. Von diesen waren 79 adliger Herkunft. 67 Schüler kamen aus dem Ausland, die Herkunftsorte waren Amsterdam, London, Kopenhagen, Lissabon, Genf, Bordeaux, Moskau, Boston und Baltimore. Die einheimischen Schüler kamen aus allen Regionen Deutschlands.[8]
Von Salzmann stammten neben seiner Heimpraxis weit über 100 Bände volkspädagogischer Schriften, die er zum Teil fortlaufend in seinem etwa 30 Jahre lang erscheinenden Wochenblatt „Der Bote aus Thüringen“ veröffentlicht hat. Er bediente sich dabei der verschiedensten Stilformen: es waren volkstümliche Erzählungen, Briefe, Anekdoten Lieder usw. Durchweg handelte es sich um tendenziöse pädagogische Schriften, auch seine Romane waren von vornherein als unterhaltend-belehrende Bücher gedacht.
Neben der Einfachheit und dem Ländlich-Naturhaften spielten bei Salzmann das Wirtschaftliche, klares Denken und entschiedenes Handeln, sozialer Aufstieg, äußerer Erfolg und auch religiöse Innerlichkeit eine entscheidende Rolle.
Bei ihm kamen – wie überall in der Aufklärung – das Ästhetische und das Irrationale entschieden zu kurz.
In dem für bäuerliche Leser gedachten Roman „Konrad Kiefer“ aus dem Jahre 1794 äußerte sich Salzmann speziell über Fragen der Kindererziehung. [9] Im „Konrad Kiefer“ war nichts zu finden von Esprit und Radikalismus, wohl aber von bürgerlicher Ehrbarkeit und Moral. Statt Konstruktion und Experiment wurde hier ein Bild natürlicher Familienerziehung gegeben. Es wurde gezeigt, dass gute Erziehung nicht vom Geld abhing und wie Luft und Bewegung, der Umgang mit Tieren und das rechte Verständnis der Eltern den Menschen wachsen ließen. Der Ansatzpunkt für die religiöse Erziehung sollte nicht der Bibeltext oder der Katechismus sein, sondern die moralische Erzählung. Mit Erzählungen und Spielstunden wurde Konrads Kiefers Unterricht gewürzt. Er wurde früh zum selbständigen Wirtschaften mit Geld angehalten. Nach der Schulzeit begann seine eigentliche Selbsterziehung durch nützliche Bücher und strebsame Gesellschaft.
Salzmanns pädagogisch bedeutendste Schrift war das der „Erziehung der Erzieher“ gewidmete „Ameisenbüchlein“. Mit dieser Schrift leistete er einen wesentlichen Beitrag zur Literatur über die Bildung des Erziehers und Lehrers. Salzmann pries hier die Erziehung als die edelste und segensreichste Aufgabe des Menschen. Niemand konnte so unmittelbar und so durchgreifend Gutes stiften wie der Erzieher; denn von dem Leben, an dem er formte, hing auch die Entwicklung der allgemeinen Verhältnisse und der menschlichen Werke ab. Da nach Salzmanns Auffassung die Kinder dem Guten noch am nächsten standen, waren sie auch mehr als alle anderen für das Gute empfänglich, und auch der Erzieher selbst verjüngte und veredelte sich durch die Arbeit an dem jungen, relativ unverdorbenen Leben. Als ersten Grundsatz für die pädagogische Arbeit stellte Salzmann den Satz auf:[10] „Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich selbst suchen. Das ist eine harte Rede, werden viele denken; sie ist aber wirklich nicht so hart, als sie es bei dem ersten Anblick scheint. Man verstehe sie nur recht, so wird die scheinbare Härte sich bald verlieren. Meine Meinung ist gar nicht, daß der Grund von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge in dem Erzieher wirklich läge, sondern ich will nur, daß er ihn in sich suchen soll. Sobald er Kraft und Unparteilichkeit genug fühlt, dieses zu tun, ist er auf dem Wege, ein guter Erzieher zu werden.“
Der Erzieher sollte sich stets dessen bewusst sein, dass die Natur aus sich selbst heraus wachsen musste, dass die rechte Erziehung ihr nur Anreiz zu geben hatte und dass ihr Ziel der selbständige Mensch war. Statt abstrakter Geistigkeit und lebensfremden Wissen benötigte der Erzieher Kenntnis des Naheliegenden und praktische Fähigkeiten: ein unmittelbares Verhältnis zur Natur, zur Heimat, zum Volksleben, praktische Lebenskunde, Gemüt, die Gabe des lebendigen, kindertümlichen Sprechens, des Bastelns und Spielens, kurz: die Kunst des lebendigen Umgangs mit Kindern.[11]
- Burggraf, G.: Christian Gotthilf Salzmann im Vorfeld der Französischen Revolution, Berlin 1966
- Herrmann, U.: „Das Exempel wirkt“. C.G. Salzmanns psychologisch-pädagogische Lehre vom entwickelnden, erziehenden und bildenden Umgang mit Kindern, in: Neue Sammlung 44 ,(2004), S. 23-37
- Pfauch, W.: Chr. G. Salzmann – der Bauherr von Schnepfenthal, in: Pädagogische Rundschau 48 (1994), S. 301-314
- Salzmann, C. G.: Noch etwas über die Erziehung nebst Ankündigung einer Erziehungsanstalt, Leipzig 1784
- Salzmann, C.G.: Reisen der Salzmannschen Zöglinge, 5. Bde, Leipzig 1784/1787
- Salzmann, C.G.: Nachrichten aus Schnepfenthal für Eltern und Erzieher, Leipzig 1786
- Salzmann, C.G.: Ameisenbüchlein oder Anwendung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher, Schnepfenthal 1806
- Schmitt, H.: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn 2007
- Schmitt, H.: Vom Naturalienkabinett zum Denklehrerzimmer. Anschauende Erkenntnis im Philanthropismus, in: Oelkers, J./Tröhler, D. (Hrsg.): Die Leidenschaft der Aufklärung, Weinheim 1999, S. 103-124
- Verzeichnis der sämtlichen Schnepfenthäler Zöglinge von 1784-1884, in: Festschrift zur Hundertjährigen Jubelfeier der Erziehungsanstalt Schnepfenthal, Schnepfenthal 1884, S. 207-214
[1] Schmitt, H.: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn 2007, S. 13
[2] Herrmann, U.: „Das Exempel wirkt“. C.G. Salzmanns psychologisch-pädagogische Lehre vom entwickelnden, erziehenden und bildenden Umgang mit Kindern, in: Neue Sammlung 44 ,(2004), S. 23-37, hier S. 35
[3] Salzmann, C. G.: Noch etwas über die Erziehung nebst Ankündigung einer Erziehungsanstalt, Leipzig 1784. Wiederabgedruckt in N.N. (Hrsg.): Pädagogische Schriften, Langensalza 1887, S. 121-194, hier S. 148
[4] Burggraf, G.: Christian Gotthilf Salzmann im Vorfeld der Französischen Revolution, Berlin 1966, S. 152
[5] Schmitt, H.: Vom Naturalienkabinett zum Denklehrerzimmer. Anschauende Erkenntnis im Philanthropismus, in: Oelkers, J./Tröhler, D. (Hrsg.): Die Leidenschaft der Aufklärung, Weinheim 1999, S. 103-124, hier S. 112
[6] Salzmann, C.G.: Reisen der Salzmannschen Zöglinge, 5. Bde, Leipzig 1784/1787, S. 154
[7] Salzmann, C.G.: Nachrichten aus Schnepfenthal für Eltern und Erzieher, Leipzig 1786, S. 278
[8] Verzeichnis der sämtlichen Schnepfenthäler Zöglinge von 1784-1884, in: Festschrift zur Hundertjährigen Jubelfeier der Erziehungsanstalt Schnepfenthal, Schnepfenthal 1884, S. 207-214
[9] Pfauch, W.: Chr. G. Salzmann – der Bauherr von Schnepfenthal, in: Pädagogische Rundschau 48 (1994), S. 301-314, hier S. 309
[10] Salzmann, C.G.: Ameisenbüchlein oder Anwendung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher, Schnepfenthal 1806, S. 3f
[11] Pfauch, Chr. G. Salzmann – der Bauherr von Schnepfenthal, in: Pädagogische Rundschau 48, a.a.O., S. 306