Franz Walter: Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung. Frankfurt (edition suhrkamp): 2008. 256 Seiten. Euro (D) 10,00. ISBN: 978-3518125557.
Daniel Krause
(Krakau)
Franz Walter, Göttinger Parteienforscher, scheint aus der Zeit gefallen. Ihm gleicht an selbst gewählter Überzeugungstäterschaft und splendid isolation kaum irgendeiner – es sei denn Peter Bofinger, der unverbesserlich von links und Keynes her denkende Würzburger Ökonom und ‚Wirtschaftsweise’. Im „Exzellenz“- und „Evaluations“-Betrieb der deutschen Akademia sind Walter wie Bofinger Fremde, was, wenigstens in Walters Fall, manche (siegreich bestandene) Konflikte mit der Universitätsleitung nach sich zog.
Franz Walters Größe und Einsamkeit liegt in der Fähigkeit beschlossen, ‚andere’ Zusammenhänge zu sehen; Zusammenhänge durch Jahrzehnte und Jahrhunderte. Bismarcks Sozialistengesetze sind ihm gegenwärtig wie Adenauers halb klerikale Kleinbürger- und Großbürgerwelt, Willy Brandt wie die „Netzwerker“ und Modernisierer um Steinmeier, Platzeck und Steinbrück. Solche historische Weitsicht ist außergewöhnlich und heilsam, wo sich die mittlere Erinnerungstiefe selbst unter nachdenklichen Sozialdemokraten kaum weiter als bis Lafontaine, dem Verfemten, zuweilen bis Brandt erstreckt. Nicht viele machen sich bewusst, dass der Zwiespalt zwischen den Prinzipien ‚Schröder’ und ‚Lafontaine’ die Sozialdemokratie seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert prägt, wenngleich unter wechselnden Namen: Bernstein vs. Kautsky etc.
Größe – durchaus im charakterlichen Sinne – wird sichtbar, wo Walter, ganz Partei, doch unparteilich, engagierter Intellektueller im vornehmsten Sinne, von ‚seiner’ Sozialdemokratie handelt – ohne Anflug von Koketterie oder Apologetik. Niemand wird bei Walters Art und Weise der Datenerhebung – und deren Auslegung – Voreingenommenheit feststellen können. Dennoch macht Franz Walter keinen Hehl aus seiner Bindung an die SPD und dem Widerwillen gegen manche andere, darunter Liberale und Grüne, die jener einst nahe zu stehen schienen, doch längst, recht ungeniert, als Parteien der „Besserverdienenden“ firmieren. Walter weiß, je nach Belang, mit Zorn und Eifer wie ohne zu agieren – eine seltene, kostbare Verbindung.
Prognose-Grundlage der Baustelle Deutschland sind unter anderem die graphisch aufbereiteten ‚Sinus-Milieus’ der Marktforschung, auch der politischen und religiösen, die, im Unterschied zu archaischerem Beschreibungswerkzeug der Soziologie, gesellschaftliche Gruppen unter materiellen wie ideellen Kriterien – Einkommen, Vermögen bzw. Werte und Lebensstil – erfassen, mithin zu vergleichsweise kompletten Darstellungen gesellschaftlicher Wirklichkeit gelangen. Franz Walter weiß das knappe Dutzend deutscher Sinus-Milieus – von „Traditionsverwurzelten“ und „DDR-Nostalgischen“ über die „Bürgerliche Mitte“ bis zu „Modernen Performern“, „Experimentalisten“ und „Hedonisten“ – auf beiden Achsen, der materiellen wie ideellen, ungewöhnlich genau zu charakterisieren, in deutsche Sozialgeschichte, zumal der Nachkriegsjahrzehnte, einzuordnen und aufs Wahlverhalten zu beziehen. Die prognostische Kraft seiner Analysen verblüfft: So nimmt er den Triumph der FDP bei den Bundestagswahlen 2009 präzise vorweg – ohne das selbst verschuldete krude Scheitern der Westerwelle-Partei prognostizieren zu können.
Das eigentliche Thema von Baustelle Deutschland ist freilich die Schwierigkeit von Prognosen des Wahlverhaltens:
„[…] so ist die SPD […] nicht mehr die Partei der Arbeiter. So sind ebenfalls die Liberalen nicht länger die Partei der klassisch honoratiorenhaften Bürger. Auch die Christdemokraten sind keine sonderlich prinzipienfesten Gefolgsleute oder gar Künder kirchlicher Gebote mehr; und der Postmaterialismus der Grünen hat mit alternativem Rebellentum längst rein gar nichts mehr zu tun. […] Und nun? Was erwartet uns bei Parteien ohne Lager?“ (9)
Die populäre Rede von ‚neuer Unübersichtlichkeit’ war in den achtziger Jahren auf ‚postmoderne’ philosophische Gemengelagen bezogen. Nun ist sie politisch geworden und affiziert die deutsche Parteienlandschaft. Bonn ist nicht Weimar, aber Franz Walter konstatiert eine Krise der repräsentativen Demokratie, zuvörderst wegen ideologischer Erlahmung und rhetorischer Entleerung allerorten. Auch kennt das politische Deutschland keine Charismatiker, nicht einmal deren Karikatur (Sarkozy). Es herrscht der Verwaltungsfachschul-Typus vor, und damit scheint man allgemein zufrieden. Walter hält plebiszitäre Elemente für ein mögliches ‚Heilmittel’. Auch ist er bemüht, Populismus, ob von rechts oder links, als Ausdruck des Versagens der Status-quo-Verwalter (gewesener) Volksparteien einzuordnen – und damit zu entdämonisieren.
Franz Walter nimmt manche Selbstverständlichkeit ‚linken’ Denkens ins Visier. So weist er nach, welche Zumutung in der Idee des ‚vorsorgenden Sozialstaats’ enthalten ist, nicht zuletzt in der Rede von ‚gleichen Bildungschancen’ oder ‚Hilfe zur Selbsthilfe’, die nicht wenigen sich fortschrittlich dünkenden Sozialdemokraten als letzte und stolzeste Rückzugslinie ihrer Ideenwelt gilt, wo sie in Wahrheit den Kern liberaler Weltbetrachtung, z. B. bei John Stuart Mill, darstellt und vor dem Hintergrund genetischer Einflüsse und der Milieuabhängigkeit aller ‚Bildung’ zunehmend fragwürdig scheint. Das eigentlich sozialdemokratische Interesse gälte jenen, die Bildungschancen, weswegen auch immer, ungenutzt lassen, mithin von Liberalen wie ‚modernen’ Sozialdemokraten verstoßen werden. Franz Walter bringt ein vielsagendes Zitat Peer Steinbrücks aus dem Jahr 2005 an:
„’Soziale Gerechtigkeit […] muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um die – muss sich Politik kümmern.’“ (68)
Franz Walter:
„[…] als zündende Slogans für Wahlkämpfe taugen die Teilhabe-, Chancen-, Bildungspostulate […] nicht. Die Wahkampfniederlagen der SPD waren historisch beispiellos. Das verwirrt […] viele Interpreten des politischen Geschehens. Schließlich ist der Bildungsimperativ einleuchtend, sind die Aussichten auf gleiche Chancen mustergültig demokratisch. Und dennoch mobilisierte dies das bildungsbenachteiligte untere Fünftel der Gesellschaft nicht. Dort verband und verbindet sich mit ‚Bildung’ nicht Hoffnung, sondern die Erinnerung an Demütigung, Versagen, Scheitern – letztlich die Alltagserfahrung des Abgehängt-Seins gegenüber denen, die leichter lesen, besser rechnen, problemlos fremde Sprachen lernen konnten.“ (69f)
Es kündigt sich ein sozialdemokratisch geförderter Pauperismus an: Wer seine Chance nicht nutzt, fährt zur Hölle. Franz Walter in wunderbarer Verkürzung:
„Der technokratisch unterfütterte ‚Vorsorgende Sozialstaat’ begreift Menschen als Material, als Produktionsfaktoren, in die man rentabilitätsorientiert investieren muss. Die Chancen, die der ‚Vorsorgende Sozialstaat’ den Menschen anbietet, sind keineswegs ein Angebot, das man ablehnen darf. Es herrscht nachgerade ein Zwang zur lebenslangen Eigenoptimierung durch die Bildungsinvestitionen des Staates.“ (69)
Wer liberal denkt, mag das Elend der Schlechterverdienenden, so ihnen Chancen geboten wurden, gerechtfertigt finden. In dieser Sicht scheinen Walters Klagen und Anklagen müßig. Aber erstens ist Chancengleichheit in Belangen der Bildung auf absehbare Zeit, gerade in Deutschland, schlicht nicht gegeben; zweitens ist es Walter um die Selbstbesinnung der Sozialdemokratie, nicht der Liberalen, zu tun, die, was Gerechtigkeit betrifft, ‚immer schon’ mehr wollte und eben daraus ihre Existenzberechtigung bezog.
Dass Walter ökonomische Wirkungen sozialpolitischer Maßnahmen unberücksichtigt lässt, bezeichnet gewiss eine Grenze der Zuständigkeit. Er bietet jenen Angriffsflächen, die im Zeichen des Wettbewerbs mit Billiglohnländern die Finanzierbarkeit sozialstaatlicher Transferleistungen in Abrede stellen. Gleichwohl ist es sein großes Verdienst, den Vorrang der Politik herzustellen: Vor Fragen der Machbarkeit sind Fragen der Wünschbarkeit zu verhandeln.
Nun wurde Baustelle Deutschland 2008 publiziert, Zeiten der Großen Koalition und allgemeiner Prosperität. Seither ist viel geschehen: Finanzkrise, Incipit Obama, Bundestagswahl und Schwarz-Gelb, Krise des Euro, Schwarz-Gelbs nordrhein-westfälisches Armageddon, New Labours Untergang. Franz Walters Betrachtungen sind in nichts widerlegt, allenfalls zu ergänzen. Das Gesamtbild zunehmender Sprunghaftigkeit und erschwerter Prognosen ist jedenfalls bestätigt worden. So besteht Walters Rang als Analytiker deutscher Zustände fort. Nur seine Einsamkeit wird schwinden, je häufiger die Richtigkeit Walterscher Analysen anerkannt wird.