Goethes "Phänomenalismus"
Welche Folgen hat seine Widerlegung?
Goethes Leistung für die Farbenlehre wird heute kaum noch bezweifelt: er hat die eigenständige Bedeutung der Farben zwar nicht als erster erkannt, wohl aber in vollem Maße ausgewertet. Wenn man noch in meiner Studentenzeit einen Physiker oder einen Anatomen fragte, was eigentlich Farben seien, bekam man als Antwort in der Regel "Farben? Farben sind Wellenlängen"" Damit hatte aber Goethe bereits gründlich aufgeräumt. Ihm war vor allem bei der Italienreise aufgegangen, daß Farben etwas Eigenes sind und daß sie nur aus sich heraus zu verstehen sind. Auch wenn das erst später völlig ausgebaut worden ist - man denke an Wilhelm Ostwalds Farbenlehre und an neuere amerikanische Forschungen -, bleibt Goethes bahnbrecherische Leistung, sogar mit der Ausdehnung auf `sinnlich-sittliche Wirkungen` unangetastet. Man kann es ihm nachfühlen, daß er den Wert seiner Farbenlehre über die Bedeutung seiner Dichtungen stellte - so seltsam das klingen mag.
Nun ist freilich Goethe in einem Punkte zu weit gegangen: für ihn erschöpft es sich die Farbenlehre in den wahrgenommenen oder auch vorgestellten Farben, wie sie zuweilen in Träumen recht lebhaft auftreten können. Zwar ist er in manchen Fällen darüber hinausgegangen, so bei allen physiologisch bedingten Phänomenen wie den Nachbildern oder den Komplementärfarben, aber in der Theorie wollte er sich auf die gesehenen Farben beschränken, auf die Farben als `anschauliche Phänomene': "Suchet doch nichts hinter den Phänomenen! Sie selbst sind die Theorie." Da müssen wir freilich doch widersprechen! Auch bei Spezial-Führungen im Goethehaus in Weimar wird darauf hingewiesen, daß es außer den anschaulichen, gesehenen Farben und den physiologisch bedingten Phänomenen noch einen weiteren Bereich gibt, dessen Einbeziehung erst die Lehre von den Farben vollständig macht: die hinter den Farben stehende Wirklichkeit, durch die erst die Farberlebnisse, die Wahrnehmung von Farben über das Auge hinweg ausgelöst, bewirkt wird; ohne sie wüßten wir nichts von Farben. Wir wären blind.
Uns geht es nun darum: wie können wir Goethes Beschränkung auf die `Phänomene', seinen `Phänomenalismus' widerlegen? Wir können dafür die zu betrachtenden Gegenstände noch erweitern auf das Gebiet der Töne. Auch sie hat ja Goethe einbezogen und bei ihnen diesselbe Forderung der Beschränkung auf die `Phänomene', also auf die gehörten Töne, aufgestellt: auch hier sollen alle zu beobachtenden Tatsachen aus den Tönen selbst abgeleitet werden - auch hier bleibt Goethe `Phänomenalist'. Wir wollen an zwei Beispielen zeigen, daß das nicht angeht, daß wir viel mehr über deren Bereich hinausgehen und die Erklärung `hinter' den Phänomenen suchen müssen. Bei dem ersten Beispiel haben wir es allerdings heute leichter als zur Zeit Goethes.
Wir würden ihn heute zum Beispiel von Belvedere (südlich von Weimar gelegenes Schloß - Anmerkung der Redaktion) aus weiter durch den Wald führen, bis wir an dessen Ende die Autobahn und die auf ihr rasenden Autos zu Gesicht und zu Gehör bekämen. Und da machen wir nun eine frappierende Beobachtung: Wenn ein Pkw an uns vorbeisaust, sinkt die Tonhöhe des Geräuschs, das er macht, je nach seiner Geschwindigkeit ab. Goethe konnte eine solche Beobachtung nicht machen, denn seine Pferde-Kutschen bewegten sich viel zu langsam. Man könnte gespannt sein, wie er das aus den Farben allein hätte erklären wollen - vielleicht durch gesteigerte Intensität beim Herannahen und entsprechend verminderte beim Sich-Entfernen? Das wäre nicht einmal so ganz abwegig. Aber die richtige Erklärung ist eben gar nicht aus den Farben als gesehenen Phänomenen selbst zu gewinnen, sondern erst aus den ihnen zugrunde liegenden, sie auslösenden `realen' Wellen-Vorgängen. Sie war ja auch zu Goethes Lebzeiten noch unbekannte. Erst 1842 hat sie der Mathematiker und Physiker Christian Doppler gefunden. Er wurde 1803 in Salzburg geboren und ist und ist m 17. März 1853 in Venedig gestorben. Zur Zeit der Entdeckung lehrte er, von 1835 bis 1846, als Dozent in Prag, von 1847 bis 1850 war er Professor für Physik in Chemnitz und dann in Wien. Er hat diesen "Doppler-Effekt" zunächst nur mathematisch abgeleitet und formuliert; nachgewiesen wurde er erst 1845, als inzwischen mit dem Aufkommen der Eisenbahnen auch größere Geschwindigkeiten real wurden. Wir können ihn heute sogar in der Stadt erleben, am deutlichsten, wenn das Rettungsauto mit seinen Sirenen-Tönen vorbeifährt. Schon Doppler hat an eine Übertragung auch auf optische Vorgänge gedacht.
Wir wollen aber zuerst noch das zweite Beispiel betrachten. Wir nehmen 2 Stimmgabeln auf Resonanz-Kästen, die eine mit konstanter Tonhöhe, die andere verstellbar; nehmen wir an, die zweite stehe zunächst eine Terz höher als die andere: schlagen wir beide zugleich an, so hören wir deutlich die beiden Töne getrennt, wie sie sich zu einem Akkord verbinden, übrigens zu einem recht wohllautenden Akkord. Nun stellen wir den oberen Ton allmählich tiefer: zunächst ändert sich da nichts wesentlich, nur klingt der durch die beide Töne gebildete Akkord allmählich weniger angenehm. Wir stellen den oberen Ton weiter tiefer und erwarten, daß die beiden Töne schließlich verschmelzen. Da geschieht nun etwas ganz Seltsames, das auch Goethe weder voraussehen noch aus den Farben hätte ableiten können: je näher die beiden Töne zueinander kommen, desto mehr hören wir nur noch einen Ton, aber mit erst schnellen, dann immer langsameren Stärke-Schwankungen. Die Intervalle werden immer größer, und schließlich, aber eben erst nun verschmelzen die beiden Töne zu einem einzigen. Das Ganze ist völlig überraschend und jedenfalls aus den Tönen selbst nicht ableitbar, wohl aber, ebenso wie bei unserem ersten Beispiel, aus den die Töne auslösenden realen Vorgängen, nämlich aus der Wellen-Natur. Die technische Akustik, etwa des Klavierstimmers, macht sich das denn auch zunutze.
Also da hätten wir Goethe vorgeführt, und nun hätte er doch wohl zugeben müssen, daß eben doch `hinter' den erlebten Phänomenen noch eine andere Welt besteht, die sich dann bei den Phänomenen auswirkt. Sie sind von da aus auch nicht nur völlig zu erklären, sondern auch qualitativ voll beherrschbar. So kann man mit der leicht abgeleiteten Formel Dopplers aus der Größe des Intervalls einfach auf die Relativ-Geschwindigkeit schließen. Man braucht schon recht erhebliche Geschwindigkeiten, wenn die Tonhöhe im ersten Beispiel um eine Quinte sinken soll. Aber das können wir nun dem Physiker überlassen - uns kommt es ja auf die philosophischen Folgen an. Dabei ist noch zu beachten, daß sich die akustischen Tatbestände ohne weiteres auch auf optische anwenden lassen; schon Doppler selbst hat das ja versucht: es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, welche erst erstaunlichen und fruchtbaren Anwendungen sich dabei ergeben. Was bei den Tönen sich bei wachsender Entfernung als Erniedrigung der Tonhöhe auswirkt, bewirkt bei den Farben eine Verschiebung gegen das durch längere Wellen ausgelöste Licht, also gegen Rot hin, beobachtbar am deutlichsten an den Spektral-Linien. Diese `Rot Verschiebung der Spektral-Linien' läßt also darauf schließen, daß die Lichtquelle sich von uns entfernt, und zwar desto schneller, je größer die Verschiebung ist. Das erst hat uns die riesigen Ausmaße des Kosmos erschlossen, indem wir auf dem Umwege über unmittelbar Gesehenes auf dessen reale, sie auslösenden Ursachen schlossen.
Ob Goethe nicht doch, angesichts dieser Tatsachen, die Beschränkung auf `Phänomene' aufgegeben hätte? Er bekam ja ohnehin mit seiner Farbenlehre durch neue Entdeckungen immer mehr Schwierigkeiten: schon der Regenbogen, bei dem `Licht' spektral zerlegt wird, war mit seinen Mitteln nicht zu erklären, und dann kamen so merkwürdige Entdeckungen wie die des polarisierten Lichtes, das sich mit der Annahme realer Schwingungs-Vorgänge leicht und vollständig erklären läßt. Aber dieser "Augenmensch" war eben so fasziniert von den Farben selbst, daß er nicht über sie hinaus oder `hinter' sie schauen mochte, und für deren Untersuchung haben wir ihm ja auch genug zu danken.
Was ergibt sich nun aus all dem philosophisch? Auf jeden Fall dies, daß wir bei den Phänomenen nicht stehen bleiben können: sie reichen nicht aus, alles da zu erklären, was uns die Beobachtungen melden. Sie sind eben nicht nur Phänomene und geben Kunde von einer zugrundeliegenden realen Welt. Ein Physiker, dem ich Goethes Deutung darlegte, sagte darum mit Recht: "Nun - dann kann ich ja meinen Laden zumachen." Was alles hat die Naturwissenschaft seit Goethe erschlossen und zugänglich gemacht! Erst dadurch wissen wir um viele Geheimnisse unserer Welt so unentbehrlich auch die Kenntnis und Erforschung unserer phänomenalen Welt für den Alltag oder etwa für den Künstler sein mag. Goethe selbst war freilich auch nicht ganz konsequent: in seinem Zimmer im Dornburger Schloß sehen wir an der Wand zu unserem Erstaunen ein Barometer! Er verabscheute ja sonst Geräte und instrumentelle Hilfsmittel, aber es gab nun halt kein Phänomen, das Kunde gab vom Luftdruck und seinen Veränderungen. Damit hatte er aber bereits die Grenzen seines Phänomenalismus überschritten! Damit wäre also mit zureichenden Gründen glaubhaft gemacht, daß es eben doch eine reale Welt hinter den Phänomenen gibt: der (kritische!) Realismus hat recht und die "Ontologie" bleibt eine Aufgabe der Philosophie, wie sie etwa von Nicolai Hartmann entwickelt worden ist. Wie weit Kant dadurch betroffen ist, mag hier offen bleiben, sein "transzendentales Subjekt" ist ja doch wohl ein Versuch, die phänomenale Sphäre zu retten, und der ehedem Jenaer Neu-Kantianer Bruno Bauch hat doch wohl auch recht, wenn er es als "Inbegriff gegenständlicher (!) Gesetzlichkeit" deutet, wobei er wohl von Frege gelernt hat. Aber bilden wir uns nicht ein, daß damit die fundamentalen Rätsel unserer Welt gelöst oder auch nur lösbar geworden sind! Was `Zeit' ist, bleibt trotz Newton, Kant und Einstein nach wie vor völlig geheimnisvoll! Auch bei Heidegger wird ja wohl nur dieser geheimnisvolle Zug weiter gebracht. Aber eine Erkenntnis möchte dieser Aufsatz doch beanspruchen: die Annahme einer realen, von jeglichem Subjekt unabhängigen Welt ist gesichert! Sie bildet die Grundlage auch unserer Existenz, und ihre Erkenntnis sowohl mit Mitteln der Naturwissenschaften wie der Philosophie bleibt, wie schon seit Jahrtausenden, die große Aufgabe der Wissenschaft, wobei Wissenschaft ein Verfahren ist, das nicht bei Vermutungen stehen bleibt, sondern wie Bolzano forderte, auf Gründen fußt. Wir alle können dabei mithelfen!