Embryonenschutz im ausgehenden 18. Jahrhundert?

Vom Menschwerden und -sein in Naturrecht und medicinischer Polizey um 1800

Tino Nazareth (Kelkheim/Erfurt)

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lassen sich Appelle von Medizinern an die Töchter Deutsch­lands finden, wie in dem vom Lüneburger Johann August Pitschaft, in denen diese zum richtigen Umgang mit Schwangeren und Neugeborenen sowie zur richtigen Erziehung und Ernährung in den ersten Lebensjahren angehalten werden.1 Das Lesen dieser Bücher könnte den Eindruck erwecken, als lag die Obhut der Schwangeren, die Geburtsbegleitung wie auch die Zeit des Wochenbettes gänzlich in den Händen hilfsbereiter Anverwandter, Hausbe­dienst­e­ter oder Nachbarinnen. Allenfalls, so könnte man meinen, waren Hebammen bei der Geburt zugegen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man bei dem bereits erwähnten Pitschaft doch von so manch wundersamen Hausmitteln liest, die scheinbar tot aufgefundene Neugeborene wieder beleben sollen. Neben dem dauerhaften Besprengeln des Brustkorps mit Wasser­tropfen oder der mit Bürsten zu erfolgenden Massage der Fußsohlen kommt auch der Tabak zu seinen Ehren, denn letztlich lasse man „ihm von Zeit zu Zeit einen Löffel voll starken Wein in den Mund laufen, kitzle [dem Kind] die Nasenlöcher mit einer Feder [und] blase ihm Taback in dieselben.“2 Dieses Verfahren sollte man einige Stunden lang fortsetzen!3

Doch muss diese hausmedizinische Lehrstunde des Lüneburger Arztes nur noch als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden, da bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in weiten Teilen des Alten Reiches alle Fragen rund um den Geburtsvorgang durch zahlreiche Rechts­vorschriften geregelt waren. Die Behandlung, Betreuung bzw. Begleitung von Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen war nur noch Wund­ärzten, Geburtshelfern und Hebammen und eben nicht mehr jeder Tochter Deutschlands gestattet.

Die besonders in den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erlassenen Edikte, Instruk­tionen, Zirkularbefehle und Ordnungen regelten wie auch ab 1794 das Allge­meine Land­recht für die Preußischen Staaten alle Vorgänge, die im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett standen.4 Der Gesetzgeber hatte dabei nicht nur eine Standardisierung und somit eine Optimierung des technischen Ablaufs im Sinn, sondern verfolgte auch durch eine rechtliche Würdigung aller Geschehnisse rund um die Schwanger­schaft und Entbindung die Überwachung der Volksgesundheit und somit des volkswirtschaft­lich bedeutenden Faktors Mensch. Es verwundert daher nicht, wenn neben der Ausbildung der Hebammen und Geburtshelfer auch die Regelungen zur Frage der Unterhaltspflichten standardisiert wurden. Diese Bestimmungen regelten sowohl die Folgen einer ehelichen oder nichtehelichen Schwanger­schaft als auch einer landesfremden Nieder­kunf­t.5 Andere Vor­schriften regelten die Geschlechtsbestimmung von Zwittern zum Zeitpunkt der Geburt durch die Eltern,6 die Aufsicht über das Medicinalwesen,7 somit auch über die Accouchier­häuser und die Hebammen, das „Missgeburten ohne menschliche Form und Bildung [sind zwar] zu ernähren und soviel als möglich zu erhalten, keineswegs aber der Familien- und bürgerlichen Rechte fähig“8, die Verpflichtung zur jährlichen Abgabe der Einwohner an das Hebammen­institut9 oder die Anweisung, „eine gesunde Mutter ist, ihr Kind selbst zu säugen ver­pflich­tet.“10

Mit all diesen angesprochenen rechtlichen Vorgaben wollte der Souverän wie bereits erwähnt, den technischen Ablauf vereinheitlichen. Dabei beteiligte er sich am Rande auch an einer Diskussion, die vorwiegend von Vertretern des Naturrechts, die den Juristen wie den Philo­sophen zugerechnet werden können, ebenso von Medizinern und Theologen geführt wurde und nach einer Antwort auf die Frage nach einer Bestimmung des Beginns des Lebens suchte. Eine Frage, die man als eine Suche definieren kann, an deren Ende zu klären ist, wann ist, wird oder bleibt man Mensch?

Wie mit dieser dreigeteilten Frage um 1800 umgegangen wurde, soll anhand der zeit­ge­nöss­ischen Diskussion gezeigt werden, die zwischen den Vertretern des Naturrechts unter Beteili­gung der Mediziner geführt wurde. Zuvor soll ein Überblick über die rechtlichen Bestimm­ungen gegeben werden, die für das Gebiet Sachsen-Weimar-Eisenach und die jenaische Landes-Portion bestanden, um an Hand dieser Beispiele, die Entwicklung der Rechts­ver­ord­nungen zum Thema im Alten Reich deutlich machen zu können.

1  Rechtliche Bestimmungen auf dem Gebiet des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, den Geburtsvorgang betreffend

Blickt man auf die Großherzoglich Sachsen-Weimar-Eisenachischen Gesetze, Verord­nungen und Circularbefehle, so lässt sich das vorgefundene Material in zwei Gruppen einteilen. In einer ersten Gruppe lassen sich alle Normen zusammenfassen, welche die Aufgaben, Aus­bild­ung sowie Entlohnung der Hebammen und Ge­burts­helfer, letztere auch Accoucheure genannt, oder die Errichtung und Finanzierung von Geburtshäusern und Hebammenschulen betrafen.11 Diese Regelungen beziehen sich auf die Sicherung und den Ausbau der Qualität der Geburts­hilfe.

Hierzu lässt sich vor allem ein Befehl der Herzogin Amalie von 1771 zählen,12 wonach in Jena ein Accouchierhaus mit angeschlossener Hebammenschule einzurichten war. Die Um­setzung dieses Planes erfolgte jedoch erst 1779.13 Mit dieser Aufgabe wurden der Weimarer Leibarzt Christoph Wilhelm Hufeland14 sowie die Jenaer Professoren der Medizin Justus Christian Loder15, ihm unterstand zudem die ökonomische Leitung des Hauses, und Johann Christian Starke16 beauftragt.17 In den Jenaischen Gelehrten Anzeigen vom 14. Juni 1779 hieß es, dass hier ein Institut geschaffen worden sei, „das für unserer ganzes Land sowol, als für unsre Akademie, von unläugbarem und ausgebreiteten Nutzen seyn wird.“18 Zugleich war sie auch als Ort der Niederkunft für unehelich Schwangere gedacht, an dem diese unentgeltlich die letzte Zeit der Schwangerschaft und das Wochenbett verbringen konnten.19 Die Aufgaben der Accou­cheure und Hebammen war bereits mit der „Instruction für den Provinzial-­Accou­cheur Herold“ vom 20. Februar 1771 geregelt worden.20 Hierin befand sich u.a. die An­weis­ung „Armen und Reichen, ohne Unterschied, gleich pflichtmäßig beystehen und sie nicht ver­lassen, bis Mutter und Kind außer Gefahr sind.“21 oder das der Accoucheur die Fehler der Heb­ammen nicht öffentlich zu machen hat, sondern zu besprechen und die Fortbildung der Heb­ammen zu bewerkstelligen hat.22 Eine Erneuerung fanden diese Anweisungen unter anderem durch den Erlass der Medicinal-Ordnung vom 01. Juli 1858.23

Zu einer zweiten Gruppe lassen sich Regelungen zusammenfassen, die den Umgang mit Schwangeren und die Folgen der Niederkunft selbst be­trafen. Zudem sind hier Normen hinzuzurechnen, welche die Melde­pflichten bei vermeintlicher Kindstötung regelten.24 Im Weiteren finden sich Regelungen im Umgang mit nicht­- und außerehelich Geschwächten25, inklusive deren gesonderten Meldepflichten,26 sowie der Strafandrohung des nichtehelichen Beischlafs mit Dirnen.27 Die hier getroffenen Regel­ung­en dienten besonders einer verein­facht­en Feststellung von Erbansprüchen und einem neugestalteten Erb­recht.28 Das Ver­schweigen des Vaters oder das sich Weigern diesen anzugeben, stand so mit dem Patent vom 25. September 174129, dass die Jenaische Landes-Portion betraf, unter Strafe und wurde mit der Zahlung von 20 Reichstalern geahndet. Überhaupt war jede Schwangerschaft bei der Obrig­keit oder einem Geistlichen anzuzeigen. Wurde die Anzeige absichtlich versäumt, so musste die Schwangere und jeder Mitwissende eine Strafe ent­sprech­end dem Circular-Befehl vom 15. Mai 1786 erdulden.30 Im Übrigen war das Einlassen und Ehe­ver­­­sprechen zwischen Studenten und Weibs­personen jeden Standes bei empfindlicher Leibes­strafe und nach Be­schaffen­heit anderer harter Strafe mit Verkündung vom 13. Juli 1773 unter­sagt.31 Wörtlich heißt es da: „Es soll den dortigen Einwohnern bekannt gemacht werden, dass keine von den dortigen Weibspersonen, wes Standes dieselbe auch sey, sich mit einem Studenten I eine ehe­lich Versprechung, bey Vermeidung empfindlicher Leibes- und nach Beschaffenheit anderer harter Strafe, einlassen soll.“32 Auch die ordnungsgemäße Be­stattung Totgeborner wie auch im Kindsbett Verstorbener wurde bspw. explizit in der „Neuen Begräbniß-Ordnung der Stadt Weimar“ vom 18. Dezember 1827 geregelt. 33

Dieser Einblick in das durch Sachsen-Weimar-Eisenach in Paragraphen gegossene Recht soll reichen, um die Dichte an Bestimmungen rund um den Geburtsvorgang zu demonstrieren. All diesen Regelungen war dabei eines gemeinsam, sie dienten der Wahrung der guten Sitten und der Aufrechterhaltung der Ordnung des Gemeinwesens. Die eigentlichen Fragen, die hinter dem Menschwerden und -sein stehen, konnten sie nicht klären. Zudem gehen die Vorschriften an keiner Stelle auf die Frage nach dem Beginn bzw. Ende des Lebens ein. Hier wurde allein auf das Geschick der Geburtshelfer vertraut, dass die Entscheidung über lebend oder leblos, eine richtige war.

2  Wann beginnt das Leben? Jenaer Naturrechtler und Mediziner im Streit

Um 1800 entstand eine große Zahl an Publikationen, die naturrechtliche Positionen bemühten, um den Streit über das Vorhandensein unveräußerlicher Ur- bzw. Menschenrechte zu ent­scheiden. Die in diesen Schriften geführten Diskussionen führten auch zu der Frage, ob man diesen Anspruch auf unveräußerliche Rechte erwerben und auch wieder verlieren kann. Gerade in der Vergegenwärtigung einer schwierigen Geburt, bei der sich der Geburtshelfer zwischen dem Leben der Mutter oder dem des Kindes entscheiden muss, ist es vorstellbar, das zudem diskutiert wurde, ob ein Mensch ein höhere bzw. edlere Rechte haben könne als ein anderer. Diese Debatten wurden gerade in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1800 von Wissen­schaftlern geführt, deren medizinische, juristische oder philosophische Wirkungsstäte in Jena oder Weimar lag. Im Besonderen waren der Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland34, der Jurist Gottlieb Hufeland35 und die Philosophen Johann Gottlieb Fichte36, Carl Christian Erhard Schmid37 und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling38 die Teilnehmer der angeführten Diskussion. Mit diesen Autoren soll letztlich eine medizinische als auch naturrecht­liche Beur­teilung der einzuleitenden Maßnahmen gelingen, die beim Auftreten eines soge­nannten Gebär-Unvermögens, also bei Problemen während des Geburtsvorgangs, notwendig sind. Dabei steht nun die zuvor für die Theorie formulierte Frage in ihrer praktischen Anwendung im Mittelpunkt, ob neues Leben, auch um den Preis das Bestehende aufzugeben, auf die Welt gebracht werden muss und wem darüber die Entscheidung obliegt. Kurz, dürfte die Schwangere für den Fall des Gebär-Unvermögens Entscheidungen über sich selbst bzw. die Leibesfrucht treffen? Dürfen die Geburtshelfer in kritischen, lebensgefährlichen Situationen zugunsten einer Partei abwägen? Zudem wer nimmt die Interessen der Leibesfrucht wahr?

Die Ausführungen zum Naturrecht beginnen meist mit der Feststellung, dass allen ver­nünft­igen Wesen Vermögen und Kraft zukommt, deren höchste Ausbildung auf der Stufe der Voll­kommenheit bzw. Glückseligkeit des Menschen zu finden ist.39 Danach heißt der allgemeinste Grundsatz der Sittlichkeit „Verhindre dass die Vollkommenheit aller Menschen nicht ge­mindert werde.“40 Danach muss man zu dem Schluss kommen, dass nur der Rechthabende seine Rechte selbst kennen und ausüben kann.41 Man müsse sich daher bewusst machen, dass eben jene Rechte ausgeübt werden dürfen, denn „das was ich darf [ist] Recht.“42 Das Recht besteht also im Dürfen und ist frei von Geboten. Wer seine eigenen Rechte erkennt, der weiss auch, was er schützen darf und letztlich muss. Daher heißt es auch: „Ich bin Person, d.h. ein Subjekt, welches sich selbst Zwecke seiner Freyheit bestimmen soll und kann; ich habe als Person ein Recht auf Freyheit, d.h. auf Selbstbestimmung meiner Zwecke und meiner Thätig­keit in Bezug auf dieselben.“43 Gegen Angriffe auf die eigene Vollkommenheit besteht somit ein Recht diese zu hindern. Dies bedeutet, dass gegen jeden Zwang ausgeübt werden kann, der die Vollkommenheit eines andern mindern will.44

Für den Fall des Gebär-Unvermögens würde es an dieser Stelle bedeuten, dass die Schwangere sich durchaus gegen die Leibesfrucht entscheiden dürfte, da diese die Ursache ist, welche ihre Vollkommenheit angreift. Dem entgegnet Fichte, dass der Naturinstinkt der Mutter die physische Erhaltung des Kindes wollen wird: „Es ist darin ein Mechanismus der Natur und Vernunft, in ihrer Vereinigung, aus welchem diese Erhaltung des Kindes not­wendig folgt – es versteht sich, da die Vernunft auch mitwirkt, daß diesem Triebe wider­standen werden könne, wenn der Mensch zur Unnatürlichkeit herabsinkt.“45 Auch aus medizinischer Sicht sind derlei Entscheidungen gegen das Ungeborene als eine Tötung anzu­sehen, denn „kein Mensch hat das Recht, über die Nothwendigkeit des Daseins eines andern Menschen zu entscheiden und ihn zu tödten.“46 Hierfür wird vorausgesetzt, dass schon der Leibesfrucht die gleichen Rechte zukommen, wie den bereits Lebenden.47 Gleichlautendes lässt sich auch in einer naturrechtlichen Position finden, wonach zur Vollkommenheit alle Kräfte und Anlagen des Menschen ohne Rücksicht auf deren Ausbildung gehören: „Der Mensch in der Anlage ist für die Vernunft schon ein Mensch, ob er gleich noch nicht vollständig als Mensch erscheint und würkt, und daher auch sein Recht, Mensch zu seyn, noch nicht selbst kennen und ausüben kann.“48 Daher kommt „das Recht der Menschheit [...] selbst Embryonen, Kindern, Blödsinnigen und Wahnsinnigen zu, in so fern an diesen Wesen nur nicht alle empirischen Kennzeichen der Menschheit und alle Bedingungen der Möglich­keit fehlen, jemals als Person erscheinen und handeln zu können.“49 Diese Position, die in der Tradition der Scholastik steht, sieht das Ungeborene als Menschen an, was zur Konsequenz hätte, da von Natur aus die Menschen keine Rechte übereinander haben sollen, 50 dass „das Recht der einen Person an sich so heilig und unverletzlich [ist], als das Recht der andern.“51 Mithin hat auch das Ungeborene bereits ein Recht auf den Erhalt seiner Existenz und somit Teilhabe an den allen Menschen zukommenden Ur- bzw. Menschenrechten.

Die Interessen des Ungeborenen scheinen mit denen der Schwangeren unlösbar zu kon­kurrieren. Diese „Collision ist der Widerstreit von zwey in ebendemselben Falle anzuwen­den­den Gesetzen.“52 Im Kollisionsfall muss deshalb ein Zwangsrecht ausgeübt werden, „und wenn dieses Zwangsrecht gegen das Zwangsrecht, das ein anderer hat, auszuüben ist, so heißt dies ein Nothrecht, und ein solcher Collisionsfall ein Nothfall.“53 Doch hat eine Leibesfrucht letzt­lich immer nur die noch nicht erfüllbare Möglichkeit vernunftgemäß zu handeln und seinen Willen auszudrücken. Das Ungeborene müßte so eine „selbst bewußte freye Thätig­keit“54, den eigenen Willen, erkennen lassen. Der eigene Wille, ist daher auch höchstes Kriterium und die wichtigste Kraft gegen den gemeinen Willen, wenn es um die Sicher­stellung der eigenen Vollkommenheit geht.55 Schelling selber formuliert, daß man sich „dem allgemeinen Willen nur insofern unterwerfen [kann, als man] durch ihn den individuellen Willen behaupte.“56 Deshalb erfolgt mit der Behauptung des individuellen Willens, als Wider­standerlebnis gegen den allgemeinen Willen, die Geburt des Individuums, im Kampf um die Freiheit in Erfahrung moralischer und physischer Grenzen.57 Genau dieser Möglichkeit er­mangelt es aber noch dem Ungeborenen, ebenso wie übrigens den Unmündigen und Minder­jährigen, weshalb man sie auch nach der Geburt in der Obhut der Eltern belässt.58 Fehlt es folglich dem Ungeborenen an der Wirklichkeit der Willensäußerung, so sind seine Interessen denen der Mutter unterzuordnen. Ein weiteres Argument im Sinne der Mutter lässt sich vor­bringen, wenn man die Leibesfrucht nur als ein Teil der Mutter betrachtet, „als ein zu ihr ge­hörender Teil,“ eines organischen Leibes, „in deren einem ein Trieb ist, einem Bedürfnisse im anderen, welchem dieser andere nicht durch sich abhelfen kann, abzuhelfen.“59 Ein solches Verständnis der Leibesfrucht, ermöglicht der Schwangeren frei über das Ungeborene zu ent­scheiden, da ihr im Sinne der eigenen Vollkommenheit auch eine Entscheidung zu kam, welche Sie nicht nur im Ganzen sondern auch in Teilen betreffen konnte. Letztlich gilt es nach Schmid nicht als Unrecht „seine eigene Existenz als Mensch gegen andere Menschen so­wohl in der Anlage als in der würklichen Aeusserung der Menschheit, selbst mit Zerstörung ihres menschlichen Daseyns zu behaupten und zu vertheidigen.“60

3  Auswirkungen auf die Medizinische Praxis

Das die hier vorgetragenen Positionen des Naturrechts einen entsprechenden direkten Einfluss auf das Wirken der Geburtshelfer und damit auf die medizinische Praxis zu haben schienen, kann man u.a. in der Veröffentlichung des Berliner Friedrich Adolph Wilde über „Das weibliche Gebär-Unvermögen“61 nachvollziehen. Die Entscheidung in der Diskussion, ob eine Abtreibung durch den Arzt oder Geburtshelfer Mord sei, erfährt ihre Begründung darin, dass es sich auch nach rechtsphilosophischen oder naturrechtlichen Gesichtspunkten nicht um eine „absichtliche und unbefugte Tötung eines Menschen“62 handelt. Wilde zeichnet detaill­iert die breite Diskussion der Zeit zum Thema nach und empfiehlt ganz im Sinne der Natur­rechtler lieber das Kind als die Mutter zu opfern, da das Leben der Mutter gewiss ist und das des Kindes nicht.63 Ist zwar die menschliche Frucht belebt, beseelt und „zwar von dem Mo­mente der Zeugung an“ und hat alles was belebt ist eine Empfindung, so „fehlt der Frucht [einzig] sowie dem neugeborenen Kinde, noch das Bewusstsein.“64 Letztlich würde es nicht ver­­wundern, wenn auch im Moment kritischer und lebensge­fähr­licher Situationen, wie sie zum Gebär-Unvermögen gehörten, die Geburtshelfer einer Schwangeren den Vorzug vor ihrer Leibes­frucht gaben. Damit die Schwangere Menschbleiben konnte, wurde der Verlust der Leibes­frucht hinge­nommen. Dies vor allem dadurch, dass über den Zeitpunkt, ab dem man Menschsein konnte – ob bereits schon als Embryo oder doch erst mit der Loslösung der Frucht von der Mutter – keine Einigung erzielt wurde. Letztlich bestand auch Uneinigkeit über den Zeitpunkt des Menschwerdens, also ob man erst mit dem Ausdruck des freien Willens zu einer mit allen Mitteln ausgestatteten Person wurde. Da verwundert auch die Em­pfehlung nicht, das zwar zu Bedenken sei, dass ganz im Sinne Schmids der ungeborenen Frucht Menschenrechte zustünden, soweit sie keiner lebenden Person schadet, solange aber diese Frucht nicht geboren sei, sollte man diese lieber nicht Mensch nennen, denn solange besteht für eine Frucht noch kein Anspruch auf Menschenrechte.65 Wilde macht sich ferner die Argumentation Fichtes zu eigen, wonach das Ungeborene ein Teil der Mutter sei und so diese auch allein über Teile ihres Körpers bestimmen dürfe. Nur der Mutter selbst kommt die Entscheidung zu, ob eine Operation im Zusammenhang mit der Entbindung durchgeführt werden soll.66

Es soll aber auch der Eindruck nicht unerwähnt bleiben, dass gerade in Verbindung der Lektüre des Buches von Wilde mit den genannten rechtlichen Bestimmungen zum Gebär-Unvermögen auch die Sicherstellung der volkswirtschaftlich bedeutsamen Ressource Mensch eine große Rolle gespielt haben dürfte. Unter anderem erfolgten 1838 Diskussionen aus dem Gesichtspunkt, welchen volkswirtschaftlichen Nutzen die Mutter geleistet hat und das Kind wohl leisten wird. Dabei stellt man fest, dass die Leistung der Mutter gewiss und die des mög­licherweise der Mutter vorgezogenen Neugeborenen fraglich ist: in der Mutter „erblicken wir ein schon völlig ausgebildetes Wesen und nützliches Mitglied der menschlichen Gesell­schaft; wogegen das Kind – wäre es auch wirklich schon geboren – ja nur die erste Stufe der Lebens­leiter erstieg. Schon im alltäglichen Leben ist uns der Tod eines Kindes viel gleich­gült­iger und minder schmerzlich, als der Verlust einer erwachsenen Person.“67 Das Neugeborene könnte ein Verbrecher, Faulenzer oder gar sonst wie ein Schädling der Gesellschaft sein.68 Somit stehen, nicht nur zuletzt in diesen Ausführungen, die Interessen des Staates an ge­sunden weiblichen Arbeitskräften höher als der Schutz des ungeborenen Lebens. Die Frau hat auch an das Wesen eines Staates und ihre dortige Pflicht zu denken, diese Pflicht geht aber auch über die des Gebärens hinaus,69 wenngleich es als großes Unglück und eine große Schuld gilt, wenn die Ehe als Ort der Fortpflanzung kinderlos bleibt.70


1 Johann August Pitschaft (1783-1848), Unterricht über die weibliche Epoche, die Schwangerschaft, das Wochen­bett und über die physische Erziehung der Kinder in den ersten Jahren. Heidelberg 1812.

2 Pitschaft, Unterricht [Anmerkung 1], S. 82.

3 Vgl. Pitschaft, Unterricht [Anmerkung 1], S. 82-83.

4 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (i.W.: ALR/ vom 01. Juni 1794).
Im Weiteren finden sich zum Thema „Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett“ sehr ausführliche Übersichten zu den im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert für das Gebiet des Alten Reiches erlassenen Rechtsvorschriften in: Friedrich Ludwig Augustin (1776-1854), Die königlich preußische Medicinalverfassung, oder vollständige Darstellung alles, das Medicinalwesen und die medicinische Polizei in den Königlich Preußischen Staaten betreffenden Gesetze, Verordnungen und Einrichtungen. 2 Bände, Potsdam 1818;
Zu regionalen Bestimmungen des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach: a) Karl Leopold Wilhelm Schmidt (17...-18.../ Hg.), Zweyter Nachtrag zu dem alphabetischen wörtlichen Auszug der S. Weimar. Landes­gesetze enthaltend die Ordnungen und Befehle von 1805 bis 1810 incl. In: Karl Leopold Wilhelm Schmidt: Aeltere und neuere Gesetze, Ordnungen und Circular-Befehle für das Fürstenthum Weimar und für die Jenaische Landes-Portion bis zum Ende des Jahres 1799: in einem alphabetischen wörtlichen Auszug gebracht. Ange­fangen von Johannes Schmidt (-1811). Jena 1800-1819, hier Bd. 11. b) Ferdinand von Göckel (1781-1858/ Hg.), Sammlung Großherzoglicher S. Weimar-Eisenachischer Gesetze, Verordnungen und Circularbefehle in chrono­logischer Ordnung. 18 Bände. Eisenach und Jena 1828-1859; c) Carl H.T. Röhlig (Hg.), Gesetzes-Sammlung für das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach mit Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen des Norddeutschen Bundes. Jena 1869-1871 (Fortsetzung von b) ).

5 Großherzogliche Landes-Direction zu Weimar vom 18. November 1830, In: Göckel, Sammlung [Anmerkung 3], Eisenach 1832, Bd. 4. S. 280.

6 ALR Theil I, Titel 1, § 19. In: Augustin, Die königlich preußische [Anmerkung 3], Bd. 2. S. 830.

7 § 3 Polizey-Collegium zu Weimar 3. April 1807, Circ. H. Reg. Z. W., in: Schmidt, Zweyter Nachtrag [An­merk­ung 3], S. 308f.

8 ALR Theil I, Tit. 1 § 17, sowie die Instruction für die Land-, Kreis- und Stadtphysiker der K. Pr. Lande vom 17. Oktober 1776. In: Augustin, Die königlich preußische [Anmerkung 3], Bd. 2. S. 270.

9 1808. 8 März Circ. H. Landes-Pol.-Colleg. Zu W. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [Anmerkung 3], S. 202.

10 ALR Theil II, Tit. 2 § 67. In: Augustin, Die königlich preußische [Anmerkung 3], Bd. 2. S. 57.

11 Zu den einzelnen Bestimmungen: vgl. Schmidt und Göckel [Anmerkung 3].

12 Vgl. Instruction für den Provinzial=Accoucheur Herold, 1771, 20. Februar F.G. Pol. Direction. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [Anmerkung 3], Jena 1800, Bd. 1. S. 102-107.

13 Vgl. Jenaische Gelehrte Anzeigen vom 14. Juni 1779, 48 Stück, S. 406.

14 Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836).

15 Justus Christian Loder (1753-1832).

16 Johann Christian Starke (1753-1811).

17 Vgl. Jenaische Gelehrte Anzeigen vom 14. Juni 1779, 48. Stück, S. 406 und 408.

18 Jenaische Gelehrte Anzeigen vom 14. Juni 1779, 48. Stück, S. 406.

19 Jenaische Gelehrte Anzeigen vom 14. Juni 1779, 48. Stück, S. 406 ff.

20 Instruction für den Provinzial=Accoucheur Herold, 1771, 20. Februar F.G. Pol. Direction. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [Anmerkung 3], Jena 1800, Bd. 1. S. 102-107.

21 Instruction für den Provinzial=Accoucheur Herold, 1771, 20. Februar F.G. Pol. Direction. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [Anmerkung 3], Jena 1800, Bd. 1. S. 102.

22 Vgl. Instruction für den Provinzial=Accoucheur Herold, 1771, 20. Februar F.G. Pol. Direction. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [Anmerkung 3], Jena 1800, Bd. 1. S. 104.

23 Medicinalordnung vom 01. Juli 1858, in: Röhlig, Gesetzes-Sammlung [Anmerkung 3], Bd. 13. Jena 1861. S. 425-461.

24 Vgl. u.a. „Edict wider den Mord neugebohrner unehelicher Kinder, Verheimlichung der Schwangerschaft und Niederkunft“ vom 8. Febr. 1765, in: Augustin, Die königlich preußische [Anmerkung 3], Bd. 2. S. 58; zum Kindsmord und seiner Bestrafung §§ 887, 965-976, 982f A.L.R. In: Augustin, Die königlich preußische [Anmerkung 3], 2. Bd., S. 58-64.

25 Geschwächte gleichbedeutend mit Schwangere!

26 Vgl. Rescript an die Regierung vom 15. Mai 1786 (Bestrafung des Fleisches-Verbrechen). In: Göckel, Samm­lung [Anmerkung 3], Bd. 1, Eisenach 1828. S. 278.

27 Vgl. Rescript an die Fürstl. Regierung zu Eisenach vom 13. Juni 1786 (Fornicationsfälle). In: Göckel, Samm­lung [Anmerkung 3], Bd. 1, Eisenach 1828. S. 279f.

28 Vgl.: § 19 Abs. 2 (Erbrecht der Unehelichgeborenen) Gesetz vom 06. April 1833 über die Erbfolge ohne Testament und Vertrag (Intestat-Erbfolge) und über die damit in nächster Verbindung stehenden Rechts­ver­hält­nisse. In: Göckel, Sammlung [Anmerkung 3], Bd. 4, Eisenach 1832. S. 162f.

29 Patent vom 25. September 1741. S. Weim. in die Jen. L. Port. Erl. Pat. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [An­merkung 3], Bd. 2, 1801. S. 180.

30 Vgl. 15. May 1786, Rescr. an F. Reg. zu W. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [Anmerkung 3], Bd. 2, 1801. S. 179f.

31 Vgl. 13. Juli 1773 Rescr. an F. B. Pol. Dir. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [Anmerkung 3], Bd. 2, 1801. S. 526.

32 Vgl. 13. Juli 1773 Rescr. an F. B. Pol. Dir. In: Schmidt, Zweyter Nachtrag [Anmerkung 3], Bd. 2, 1801. S. 526.

33 Vgl. § 7 Neue-Begräbniß-Ordnung der Stadt Weimar. Bekanntmachung Großherzog. Landes-Direction zu Weimar vom 16. Decbr. 1827. In: Göckel, Sammlung [Anmerkung 3], Bd. 4, Eisenach 1832. S. 65-75, hier S. 68.

34 Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836), Journal der praktischen Heilkunde. Berlin 1809-1836/ 1844.

35 Gottlieb Hufeland (1760-1817), Versuch über den Grundsatz des Naturrechts nebst einem Anhange. Leipzig 1785; Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften zu Vorlesungen. Jena 1790.

36 Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, [zuerst Jena und Leipzig 1796], in: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, Bd. 3, hg. von I.H. Fichte, Berlin 1845; Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre [zuerst Jena und Leipzig 1798], in: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, Bd. 3, hg. von I.H. Fichte, Berlin 1845.

37 Carl Christian Erhard Schmid (1761-1812), Grundriß des Naturrechts. Für Vorlesungen, Jena und Leipzig 1795.

38 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775-1854), Neue Deduktion des Naturrechts, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrter 4 (1796), H. 4, S. 277-301 und 5 (1797), H. 4, S. 297-305, hier nach: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Bd. 3: Philosophische Briefe, hg. von H. Buchner u.a., Stuttgart 1982, S. 113-175.

39 Vgl. Gottlieb Hufeland, Lehrsätze [Anmerkung 32], S. 37f, dgl., Versuche [Anmerkung 32 ], S. 2443. Im Weiteren: Vgl. Fichte, System [Anmerkung 33], S. 312.

40 Gottlieb Hufeland, Lehrsätze [Anmerkung 32], S. 40.

41 Vgl. Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 65. Ebenso Gottlieb Hufeland, Versuch [Anmerkung 33], S. 253.

42 Schelling, Neue Deduction [Anmerkung 35], S. 154. Im Weiteren Gottlieb Hufeland, Versuch [Anmerkung 33], S. 220.

43 Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 52.

44 Vgl. Gottlieb Hufeland, Lehrsätze [Anmerkung 32], S. 49f i.V.m. dgl., Versuch [Anmerkung 32], S. 293.

45 Fichte, Grundlage [Anmerkung 33], S. 352.

46 Vgl. Wilhelm Hufeland, Journal [Anmerkung 31], Bd. LVI, Stk. 1 S. 16.

47 Wilhelm Hufeland, Journal [Anmerkung 31], Bd. LVI, Stk. 1 S. 16.

48 Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 79.

49 Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 79f.

50 Vgl. Gottlieb Hufeland, Versuch [Anmerkung 32], S. 6. Im Weiteren Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 54f.

51 Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 62.

52 Gottlieb Hufeland, Lehrsätze [Anmerkung 32], S. 51.

53 Gottlieb Hufeland, Lehrsätze [Anmerkung 32], S. 51.

54 Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 78f.

55 Vgl. Schelling, Neue Deduction [Anmerkung 35], S. 148.

56 Vgl. Schelling, Neue Deduction [Anmerkung 35], S. 148.

57 Vgl. Schelling, Neue Deduction [Anmerkung 35], S. 143.

58 Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 64-66. Vgl. hierzu auch Fichte, System [Anmerkung 33], S. 331-340.

59 Fichte, Grundlage [Anmerkung 33], S. 350f.

60 Schmid, Grundriß [Anmerkung 34], S. 80.

61 Friedrich Adolph Wilde, Das weibliche Gebär-Unvermögen. Eine medicinisch-juridische Abhandlung zum Gebrauch für practische Geburtshelfer, Aerzte und Juristen. Berlin 1838.

62 Wilde, Das weibliche [Anmerkung 58], S. 398

63 Vgl. Wilde, Das weibliche [Anmerkung 58], S. 177.

64 Wilde, Das weibliche [Anmerkung 58], S. 174.

65 Vgl. Wilde, Das weibliche [Anmerkung 58], S. 365f.

66 Vgl. Wilde, Das weibliche [Anmerkung 58], S. 374f.

67 Wilde, Das weibliche [Anmerkung 58], S. 140.

68 Vgl. Wilde, Das weibliche [Anmerkung 58], S. 361f.

69 Wilde, Das weibliche [Anmerkung 58], S. 395f.

70 Vgl. Fichte, System [Anmerkung 33], S. 330.