Burkhard Kühnemund (Frankfurt/Main)
Gemeinhin wird unter dem Adam Smith-Problem der Widerspruch zwischen der auf Sympathie gegründeten ‚Theorie der ethischen Gefühle’ und dem auf Eigeninteresse beruhenden ‚Wohlstand der Nationen’ verstanden. Auch wenn Sympathie nicht mit altruistischem Handeln gleichzusetzen und Eigeninteresse nicht als radikaler Egoismus zu interpretieren ist, so bleibt zunächst eine Differenz zwischen ethischer und ökonomischer Theorie. Die ‚Theorie der ethischen Gefühle’ basiert auf der menschlichen Befähigung zum empathischen Verstehen der Beweggründe der Anderen, der ‚Wohlstand der Nationen’ dagegen auf egoistisch am Markt handelnder menschlicher Selbstliebe. Trotz des rein am Eigeninteresse orientierten Handelns entsteht gesellschaftlicher Reichtum, an dem alle gesellschaftlichen Gruppen partizipieren.1
Patzen fasst die bisherigen Versuche, das Adam Smith-Problem zu lösen, zu insgesamt fünf theoretischen Ansätzen zusammen:
Die ‚Umschwungtheorie’ meint einen Gesinnungswandel von Adam Smith anlässlich eines Frankreichbesuches im Jahr 1759 feststellen zu können. Die materialistische Ausrichtung von Adam Smith Denken habe zu gewandelten anthropologischen Grundannahmen in seiner Untersuchung des Wohlstandes der Nationen geführt. Die Umschwungtheorie ist aber leicht zu entkräften, da Adam Smith die Theorie der ethischen Gefühle nach der Veröffentlichung des Wohlstandes der Nationen nochmals für eine Neuauflage erneut überarbeitet hat, ohne auf die Sympathie verzichtet zu haben.
Die ‚Aspekttheorie’ meint Smith habe phänomenologisch in einem Buch die menschliche Natur als mitfühlendes Wesen und im anderen das eigennützige Verhalten des Menschen darstellen wollen. Insbesondere glaubten in der frühen Auslegung viele Interpreten, Smith habe aus methodologischen Gründen ein jeweils selektives Menschenbild dargestellt.
Die ‚Sein/Sollen-Theorie’ erweitert die deskriptive Interpretation der ‚Aspekttheorie’ zu einer deskriptiv/präskriptiven. Die Theorie der ethischen Gefühle sei ein ethischer Entwurf, wie sich der Mensch zu Verhalten habe, der Wohlstand der Nationen dagegen eine Beschreibung wie der Mensch wirklich ist. Die Schwäche dieses Ansatzes ist es, dass er die deskriptiven Elemente der Theorie der ethischen Gefühle ebenso vernachlässigt, wie die präskriptiven Elemente von Smith Theorie der politischen Ökonomie.
Die ‚Natürliche-Harmonie-Theorie’ legt den Schwerpunkt der Interpretation in das System der natürlichen Freiheit, das auf eine wohltätige Ordnung in der Natur vertraut, die unter einer göttlichen Lenkung die Wohlfahrt aller Menschen befördert. Lässt man der natürlichen Ordnung auch im wirtschaftlichen Leben freien Lauf, so die These, wird der Menschheit ein Höchstmass an Wohlfahrt gewährt.
Die ‚Realismustheorie’ ist Patzens Sammelbegriff für den modernen Ansatz der Adam Smith-Forschung, die sich stark beeindruckt zeigt von ‚Smiths Realismus und seiner tiefen Einsicht in die Natur des Menschen’. Allerdings zeichnet sich diese Forschungsrichtung auch durch die Tendenz aus, neben dem alten Adam Smith-Problem noch weitere neue zu schaffen.2
Trotz der beachtlichen Anzahl unterschiedlicher Ansätze zur Aufhebung des Adam Smith-Problems, liegt noch keine Interpretation vor, die in der wissenschaftlichen Diskussion als tragfähig gilt. In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob der Wohlstand der Nationen nicht auf Vorannahmen beruht, die bereits in der Theorie der ethischen Gefühle formuliert wurden. Zunächst gilt es die deskriptiv-präskriptiven Elemente von Smith ethischer Theorie kurz darzustellen, um herauszuarbeiten welche ethischen Prinzipien und anthropologischen Vorannahmen die Basis für Smith ökonomische Theorie sind. Sollte sich die Annahme einer engen Verzahnung von ethischer und ökonomischer Theorie bestätigen, so ist anschließend zu prüfen, ob im Spannungsverhältnis von Gemeinwohl und Eigeninteresse, nicht Smith selbst einen Widerspruch zwischen unternehmerischem Eigeninteresse und Allgemeininteresse verortet, der die Vision einer freien, wettbewerbsorientierten Gesellschaft konterkariert, die Wohlstand und Glück für alle Marktteilnehmer bereit hält.
Die Theorie der ethischen Gefühle basiert auf der anthropologischen Grundannahme, dass der Mensch nicht nur egoistisch handelt, sondern sich auch in Form sozialer Teilnahme gegenüber seinen Mitmenschen, unter Verzicht auf alle egoistischen Neigungen, wohlwollend verhalten kann. Bezeichnend ist, dass Smith keineswegs versucht, in Abrede zu stellen, dass der Mensch auch egoistisch sein kann. Durch phänomenologisches Beobachten zeigt er aber auf, das es evident ist, dass der Mensch von Natur aus auch zu wohlwollendem Handeln befähigt ist.
Die Befähigung zu wohlwollendem Handeln aus ‚Mitleid’ oder ‚Erbarmen’ verortet Smith in der anthropologischen Anlage zur Sympathie. Sympathie ist zunächst nur die Fähigkeit, die Affekte anderer Menschen zu erspüren, beinhaltet aber auch einen doppelten Rollentausch. Der Mensch empfindet die Gefühle der Anderen als wären es die eigenen, ohne zu vergessen, dass er sich nur in die Situation der beobachteten Person einfühlt. So wie er sich in den Anderen einfühlt, kann er sich vorstellen selbst von einem unbeteiligten Dritten beobachtet zu werden.3
Sympathie ist nicht nur die Motivationsquelle, sie ist zugleich auch eine wesentliche Voraussetzung für die epistemologische Analyse ethischen Handelns. Ethische Handlungen können mit Gewissheit als solche erkannt werden, wenn sie vier hierachisch aufeinander aufbauende Bedingungen erfüllen:
Wir sympathisieren mit den Beweggründen des Handelnden.
Wir nehmen teil an der Dankbarkeit derjenigen, die die wohltätigen Folgen seiner Handlung empfangen.
Das Verhalten ist den allgemeinen Regeln angemessen, nach denen sich die beiden Formen der Sympathie gewöhnlich richten.
Die Handlung ist Teil eines Systems von Verhaltensweisen, die die Tendenz haben die Glückseligkeit des Individuums oder der Gesellschaft zu fördern.
Die ersten beiden Bedingungen beruhen auf einer unmittelbaren empathischen Empfindung des Beurteilenden und sind somit der emotionalen Ebene zuzuordnen. Die letzten beiden Bedingungen können nur durch den Gebrauch der Vernunft erfüllt werden. Die Vernunft ist bei Smith die Quelle der allgemeinen Regeln der Sittlichkeit und der sittlichen Urteile. Das besondere an Smith Vernunftbegriff ist, dass er dem Prinzip der Induktion unterworfen ist. Die allgemeinen Grundsätze des Sittlichen werden wie alle anderen allgemeinen Grundsätze aus Erfahrung und darauf aufbauender Induktion gebildet. Aus der Vielfalt der Eindrücke, die unserem moralischen Vermögen gefallen oder missfallen, entwickeln wir durch die Induktion die allgemeinen Regeln der Sittlichkeit.4
Der Mensch verfügt nicht nur über die Fähigkeit, Handlungen als ethische zu erkennen, er wendet sein Urteilsvermögen nicht nur gegenüber anderen an, es motiviert ihn vielmehr auch selbst, das eigene Leben gemäß ethischer Prinzipien zu führen. Er hat den Wunsch von anderen als tugendhafter Mensch geachtet zu werden, zugleich strebt er die Gewissheit an, sich die Anerkennung der Anderen durch tugendhaftes Handeln verdient zu haben. Die soziale Kontrolle der Anderen wird durch das Streben danach, von anderen geachtet zu werden, in weitaus stärkerem Masse handlungswirksam.5
Smith geht keineswegs von einer sich gegenseitig verstärkenden Förderung ethischen Handelns durch soziale Kontrolle und ethische Selbstverpflichtung aus. Vielmehr beobachtet er mit großem Unbehagen eine allgemeine Verfälschung ethischer Gefühle, angesichts des starken menschlichen Hanges die Reichen und Mächtigen allein wegen ihres sozialen Status zu bewundern und die Armen zu verachten oder wenigstens zurückzusetzen. Verachtung, die sich eigentlich gegen ‚Laster’ und ‚Torheit’ wenden sollte, trifft vielmehr Armut und Schwäche. Statt Weisheit und Tugend, sind es viel häufiger Reichtum und Vornehmheit die Achtung und Bewunderung hervorrufen. Die Weisen und Tugendhaften sind deshalb nicht nur eine auserwählte, sondern auch eine kleine Schar von Menschen.6
Der Ehrgeizige dagegen, der durch ‚niedrigste Mittel’ zu Ansehen und Reichtum gelangt ist, wird zwar vom ‚gemeinen Volk’ verehrt und von den ‚Vornehmen’ und ‚Gelehrten’ umschmeichelt, in seinem Inneren dagegen wütet sein Gewissen und er fürchtet von der ‚Schande’ eingeholt zu werden. Ganz anders dagegen der Weise und Tugendhafte, der nicht handelt um des Lobes der Anderen willen, sondern um der Lobenswürdigkeit der Handlung willen. Maßstab für die Lobenswürdigkeit ist nicht das Urteil der Mitwelt, es ist das Urteil des vorgestellten unparteiischen Zuschauers. Das Urteil des vorgestellten unparteiischen Zuschauers ist für Smith von so starker motivierender Kraft, dass der unbeteiligte Beobachter von Smith auch als ‚innerer’ Mensch bezeichnet wird, der für den Menschen die höchste Instanz verkörpert, das eigene Gewissen.7
Getragen wird Adam Smith ethisches System von der Lehre der Stoa und des Deismus. Der englische Deismus zeichnet sich durch die „Reduktion der christlichen Glaubensaussagen auf eine universale ‚natürliche’, aller geschichtlichen Elemente, vor allem der Heilsbedeutung Jesu entschränkten Religion“ aus. Der Deismus basiert auf dem Vertrauen in einen Schöpfergott, der die Welt mit dem höchsten Ziel der menschlichen Glückseligkeit geschaffen hat. Die typische Beschreibung der kosmischen Ordnung ist das Bild des Werkes eines Uhrmachers, das zwar in höchster Präzision arbeitet, dessen einzelne Räder aber nicht wissen, was ihre eigentliche Aufgabe und Bestimmung ist.8
Mit dem Deismus vereint Smith der Glaube an ein höheres Wesen, das allwissend, allmächtig und allgütig ist. Entsprechend dieses Glaubens ist die Ordnung der Welt eine göttliche Ordnung, die alle Menschen mit einer maximal möglichen Ausstattung an Glücksgütern versorgt. In einer von Gott geschaffenen natürlichen Ordnung ist das Wort ‚natürlich’ als ein Synonym für eine gottgewolltes Geschehen zu Verstehen. Insbesondere sind die Regeln der Sittlichkeit als natürliche Gesetze der Gottheit anzusehen.
Typisch für Smith ist die Vereinigung von deistischen und stoischen Überzeugungen in der Vorstellung von göttlichen Eigenschaften, die der Mensch, trotz seines unvollkommen menschlichen Wesens, versuchen sollte möglichst vollkommen zu leben. Es ist das ‚Wohlwollen’ und die ‚Weisheit’ eines göttlichen Wesens, das die ‚Maschine des Universums’ so ersonnen hat, dass es das ‚größtmögliche Maß von Glückseligkeit’ für jeden Menschen hervorbringt. Derjenige, der sich mit den ‚erhabenen’ Betrachtungen des höchsten Wesens beschäftigt wird ebenfalls Gegenstand der Achtung seiner Mitmenschen sein. Doch alle ‚erhabene’ Betrachtung rechtfertigt nicht, dass der Mensch sein eigentlichen Aufgabengebiet vernachlässigt. Er hat sich um das Wohl seiner selbst, seiner Familie, seiner Freunde und seine Landes zu kümmern. Das Wohl des Universums ist dagegen allein die Aufgabe Gottes.9
Der stoische Weise hat nach Smith zwar die Aufgabe, sich in die Absichten des ‚Lenkers des Universums’ hineinzudenken. Allerdings ist er sich bewusst, dass ihm nur ein kleiner Abschnitt zugewiesen ist, in welchem ihm eine beschränkte Verwaltung und Leitung zusteht. Er bemüht sich seine Aufgabe zu erfüllen, ohne dass der Erfolg oder Misserfolg seiner Handlungen auf seine Seelenruhe eine Auswirkung hätte, da er nicht beurteilen kann, ob der Erfolg oder Misserfolg ein Teil des göttlichen Planes ist. Für den Stoiker kommt es lediglich darauf an, sein Spiel gut zu spielen, unabhängig vom Ergebnis des Spieles. Die Natur lehrt lediglich, dass das Wohlergehen von Mehreren höher einzustufen ist als das eines Einzelnen und das Aller am höchsten. Demzufolge ist es die Aufgabe des Menschen das Wohl der Familie, der Freunde, des Landes und der Menschheit im Allgemeinen anzustreben.10
Der positive Aspekt der Religion ist für Smith, dass sie den Menschen motiviert, göttlichen Gesetzen auch dann zu folgen, wenn er mit keiner irdischen Strafe bei Zuwiderhandlung rechnen muss. Gott ist als Richter vom gläubigen Menschen stets gefürchtet. Die ‚Achtung vor dem Willen der Gottheit’ ist für Smith das höchste Gebot menschlichen Handelns. Allein der Gedanke der Zuwiderhandlung ist für Smith der Ausdruck ‚empörender Unsittlichkeit’, zugleich aber auch der Grund, warum er den Zweifel an der Existenz Gottes nicht thematisiert und von einem Versuch, die Existenz Gottes zu begründen, ganz absieht.11
Wie weit das Vertrauen von Adam Smith in eine natürliche kosmische Harmonie der Weltentwicklung geht, kann man anhand der euphemistisch anmutenden Interpretation der Wohlstandsentwicklung angesichts ungleicher Vermögensverhältnisse erkennen. Smith erkennt in der Verteilung zunächst ungleichen Vermögens das Wirken einer ordnenden ‚unsichtbaren’ Hand.
‚Der Ertrag des Bodens erhält zu allen Zeiten ungefähr jene Anzahl von Bewohnern, die er zu erhalten fähig ist. Nur daß die Reichen aus dem ganzen Haufen dasjenige auswählen, was das kostbarste und ihnen angenehmste ist.’ ‚Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre, und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung.’ ‚Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei der Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen. Auch diese letzteren genießen ihren Teil von allem, was die Erde hervorbringt. In all dem, was das wirkliche Glück des menschlichen Lebens ausmacht, bleiben sie in keiner Beziehung hinter jenen zurück, die scheinbar so weit über ihnen stehen. In dem Wohlbefinden des Körpers und in dem Frieden der Seele stehen alle Lebensstände einander nahezu gleich und der Bettler, der sich neben der Landstraße sonnt, besitzt jene Sicherheit und Sorglosigkeit, für welche Könige kämpfen.’12
Unschwer ist zu erkennen, dass Smith der stoischen Vorliebe für ein einfaches, bescheidenes, aber auch unabhängiges Leben verpflichtet ist. Dennoch zeigt er eine erstaunliche Gleichgültigkeit sowohl gegenüber ungleichen Vermögensverhältnissen wie gegebenen hohen Standesunterschieden, ohne auf den Begriff der Gerechtigkeit zu verzichten. Gleichwohl ist Smith offensichtlich der Meinung, dass es im Allgemeininteresse der Gesellschaft ist, wenn sich der Wohlstand der Gesellschaft vermehrt. Insbesondere meint er eine List der Natur zu erkennen, die den Reichen im Interesse der Armen handeln lässt. 13
Neben diesem Vertrauen in eine prästablisierende harmonische Ordnung ist Adam Smith die Bedeutung der Gerechtigkeit für ein ziviles gesellschaftliches Zusammenleben bewusst. Insbesondere kennt er die verschiedenen Formen der Gerechtigkeit in der platonischen Philosophie. Er gruppiert sie in die kommutative (ausgleichende) Gerechtigkeit, distributive(austeilende) Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit der vollkommenen Sittlichkeit des Verhaltens. Die kommutative Gerechtigkeit enthält sich all dessen, was anderen gehört. Die distributive Gerechtigkeit besteht in ‚richtiger’ Wohltätigkeit und die dritte Form der Gerechtigkeit beinhaltet die Tugenden der Klugheit, der Tapferkeit und der Mäßigkeit. Platon, so urteilt Smith, fasst unter Gerechtigkeit die Vollendung aller möglichen Formen der Tugend zusammen.14
Der Vorgabe Platons folgt Smith in seinen gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen nicht. Er unterscheidet vielmehr in die zwei Grundtugenden der Gerechtigkeit und des Wohlwollens. Während Wohlwollen immer eine freiwillige Handlung ist, kann Gerechtigkeit erzwungen werden. Wohlwollen umfasst alle Handlungen, die aus uneigennützigen Gründen auf den wohltätigen Erfolg eines andern abzielen und wird auch als Freundschaft, Menschenliebe und Edelmütigkeit bezeichnet. Gerechtigkeit beinhaltet den Schutz der persönlichen Freiheit vor den Übergriffen anderer, die Vertragstreue und den Schutz des Privateigentums. Es handelt sich im Wesentlichen um die Wahrung negativer Freiheitsrechte, deren Verletzung durch rechtlichen Zwang vergolten werden darf.15
Wegen der basalen Notwendigkeit negativer Freiheitsrechte wird die Gerechtigkeit von Smith als ‚Fundament’ und das Wohlwollen als ‚Verzierung’ bezeichnet. Sein Urteil erläutert Smith am Beispiel dreier idealtypischer Gesellschaften, in denen alle Menschen das gleiche Maß an gelebter Tugend zeigen. Es ist jeweils die Gesellschaft des Egoismus, der Gerechtigkeit und des Wohlwollens:
In der Gesellschaft des Egoismus leben alle Menschen ihre egoistischen Neigungen ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen aus. Sie besteht aus Gewalt und disharmonierenden Gefühlen und hat in Folge die Tendenz sich selbst zu zerstören.
Die Gesellschaft der Gerechtigkeit zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass ihre Mitglieder zwar auch egoistisch handeln, aber immer auf streng legalistische Weise. Alles Handeln erfolgt im Einklang mit gesetzlichen Vorgaben. Der Prototyp eines solchen Gesellschaftsmitgliedes ist der Kaufmann, der durch den finanziellen Austausch nützlicher Dienste eine vereinbarte Wertschätzung zeigt.
Die Gesellschaft des Wohlwollens ist nicht nur eine idealtypische, sondern vielmehr auch eine ideale Gesellschaft. Es ist eine ‚blühende’ Gesellschaft solidarischen Handelns, in der alle sich gegenseitig die Hilfe und Unterstützung gewähren, derer sie bedürfen. Alle Mitglieder sind durch ‚Liebe’ und ‚Zuneigung’ miteinander verbunden und ‚gravitieren’ um das gemeinsame Zentrum gegenseitiger guter Dienste.16
Wie bereits beschrieben, vertraut Adam Smith auf eine natürliche Ordnung, die zu einer nach seinen gerechtigkeitstheoretischen Kriterien gerechten Distribution der erzeugten Güter führt. Einzige Voraussetzung ist die allgemeine Anerkennung legalistischen Verhaltens, wie am Beispiel des kaufmännischen Ethos beschrieben. Zu beachten ist, dass eine Gesellschaft, die nur auf der Tugend der Gerechtigkeit, nicht der des Wohlwollens basiert, zwar eine Steigerung des Wohlstandes der Nation erreichen kann, sich aber noch nicht im idealen Zustand der solidarischen Gesellschaft befindet, in der auch die Tugend des Wohlwollens gelebt wird.
Die Untersuchung zum Wohlstand der Nationen ist m. E. im Kern eine phänomenologische Untersuchung, unter welchen Ordnungsbedingungen sich ein Wohlstand entwickelt, an dem alle Schichten der Bevölkerung partizipieren. Diese Feststellung hat zunächst nur Behauptungscharakter, kann aber m. E. erklären, warum Smith die Tugenden des Wohlwollens im Wohlstand der Nationen überhaupt nicht erwähnt. Wie bereits oben dargestellt, erwartet Smith vom ökonomisch Handelnden lediglich, dass er legalistisch handelt und sich keiner Übergriffe gegen andere Personen oder deren Eigentum schuldig macht.
Wie Adam Smith in der Einführung selbst schreibt, ist die Entwicklung der Produktivität und die Verteilung der Güter der Untersuchungsgegenstand seines Werkes. Es handelt sich vom Anspruch her um ein deskriptives Werk, in die gelegentlich präskriptive Überlegungen gerechtigkeitstheoretischer Art einfließen.17
Die Voraussetzung für einen sich stetig vermehrenden Wohlstand ist Adam Smith zufolge eine sich stetig weiterentwickelnde Arbeitsteilung in der Ökonomie. Den Ursprung der Arbeitsteilung vermutet Adam Smith in der natürlichen Anlage des Menschen, durch Tausch die Güter zu erwerben, an denen es ihm mangelt. Je größer der Markt ist, an dem die eigenen produzierten Güter veräussert werden können, desto mehr kann sich der Produzent spezialisieren, neue Technologien entwickeln und die Produktivität nochmals steigern.18
Zudem steigt die Produktivität, wenn ein möglichst hoher Freiheitsgrad bei der Wahl der Produktionsmittel und –verfahren, sowie des Standortes der Produktion herrscht. Adam Smith verurteilt deshalb vehement alle Beschränkungen einer Zunftordnung und fordert einen Abbau aller Handelsschranken, freie Berufswahl, sowie die freie Wahl des Arbeitsplatzes für Lohnarbeiter.19
Der Ort der wirtschaftlichen Gerechtigkeit ist für Adam Smith der Markt. Am Markt werden alle Produkte entsprechend des geleisteten Arbeitsaufwandes entlohnt. Wobei Unterschiede in der Anstrengung der Arbeitskraft, der Qualität der Arbeit, der Dauer in der Ausbildung bei der Preisbildung mit einfließen. Adam Smith erwartet, dass am freien Markt ein natürlicher Preis ausgependelt wird, der die erbrachte Arbeitsleistung auf gerechte Weise entlohnt.20
In seiner Werttheorie argumentiert Adam Smith zunächst auf Basis eines von ihm angenommenen ursprünglichen Zustandes, in dem der Boden frei und noch kein Kapital angesammelt ist. In dem ursprünglichen Zustand erhält der Arbeiter den ganzen Ertrag seiner Arbeit. Mit der Überwindung des ursprünglichen Zustandes ist zunächst vom Ertrag der Arbeit eine Bodenrente und eine Kapitalrente abzuziehen, um den Arbeitslohn zu ermitteln. Im Arbeitslohn ist kalkulatorisch auch die unternehmerische Tätigkeit enthalten. Die Kapitalrente ist lediglich die Rente für den Einsatz von Kapital.
Eine normative Wertung bezüglich der Entwicklung von privatem Kapital und von privatem Grundbesitz findet sich nicht. Adam Smith beschreibt lediglich die Veränderung für die Wertentwicklung der Arbeit. War der Arbeiter zuvor derjenige, der allein an der Wertsteigerung des Produktes partizipierte, so sind es jetzt auch Grundeigentümer und Kapitaleigner. Der natürliche Preis setzt sich in Adam Smith ökonomischer Theorie aus drei Faktoren zusammen: natürlicher Lohn, natürlicher Zinssatz und natürliche Bodenrente.
Höhere Reallöhne sind nur zu erwarten, wenn in einem wirtschaftlichen Aufschwung die Nachfrage nach Arbeitskräften das Angebot übersteigt, so dass in Folge höhere Löhne zu zahlen sind. Generell ist die höchste Lohnhöhe im Aufschwung zu erwarten, in der Phase der Stagnation, wenn der Zenit des Wohlstandes erreicht ist, ist der Reallohn bescheidener, in der Phase des Abschwungs ist die Lage für den Lohnarbeiter ‚elend’.21
Der Kapitalgewinn verändert sich nach anderen Gesetzmäßigkeiten als der Lohn. Im Aufschwung vermindern steigende Löhne den Gewinn. Es sei denn, der Aufschwung findet in so vielen Produktionssegmenten statt, dass es einen Mangel an Kapital gibt. In einem Land mit höchstem Wohlstand sind nur noch geringe Kapitalzinsen zu erwarten, weil es keinen Mangel an Kapital gibt. Nimmt die Ausstattung mit Kapital in einem Land ab, ist dagegen mit steigendem Geldzins und niedrigen Löhnen zu rechnen. Die Unternehmen können mit einer zweifachen Erhöhung des Gewinnes rechnen, weil sie wegen der geringeren Investitionsmittel ihre Waren zudem teurer verkaufen können.22
Die Bodenrente richtet sich lediglich nach dem zu erwartenden Preis für das produzierte Gut. Ist der zu erzielende Gewinn nach Abzug aller Kosten hoch, ist die Bodenrente ebenfalls hoch, ist der zu erzielende Gewinn nach Abzug aller Kosten niedrig, so ist die Bodenrente ebenfalls niedrig, da ein Pächter für den Boden nur zu finden ist, wenn er einen gewissen zu erwartenden Ertrag erwirtschaften kann. Der Grundbesitzer wird demzufolge immer am wirtschaftlichen Aufschwung in Form steigender Bodenrente partizipieren.23
Adam Smith belässt es nicht bei einer Analyse der ökonomischen Parameter, die die Lohnhöhe der Lohnarbeiter verändern. Er formuliert auch seine normativen Kriterien, an denen ein gerechter Lohn zu erkennen ist. ‚Es ist zudem nicht mehr als recht und billig, wenn diejenigen die alle ernähren, kleiden und mit Wohnung versorgen, soviel vom Ertrag der eigenen Arbeit bekommen sollen, dass sie sich selbst richtig ernähren, ordentlich kleiden und anständig wohnen können.’24
Adam Smith argumentiert zwar für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter, da es den ‚natürlichen’ Hang der Unternehmer zu Absprachen bei der Entlohnung gebe, der auch durch gesetzlichen Vorgaben nicht zu unterbinden sei. Eine entscheidende Verbesserung der Arbeitsbedingungen erwartet er aber von freier gewerkschaftlicher Betätigung nicht. Bei der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnempfänger argumentiert Smith markttheoretisch und setzt seine Hoffnungen auf einen Nachfrageüberhang nach Arbeit im Zuge eines allgemeinen Wirtschaftsaufschwunges, von dem er eine entscheidende Verbesserung der Kaufkraft der Loharbeiter erwartet.25
Wächst der Wohlstand eines Landes, so führt dies nicht nur zum Anstieg der Löhne sondern ebenfalls zu steigenden Grundrenten. Das Interesse der Großgrundbesitzer ist untrennbar mit dem Allgemeininteresse der Gesellschaft verbunden. Alles was den Interessen der Großgrundbesitzer dient ist, so Smith, auch mit dem Allgemeininteresse des Landes verknüpft.26
Am Ende des 1. Buches seiner Untersuchung zum Wohlstand der Nationen kommt Adam Smith zu einem furiosen Schluss. Die Gewinnspanne der Unternehmer steigt so wenig im wirtschaftlichen Aufschwung wie sie in der Depression sinkt. Sie ist normalerweise in reichen Ländern niedriger und in armen Ländern höher. Sie ist normalerweise am höchsten in den Ländern, die sich im Niedergang befinden. Kaufleute und Fabrikanten sind in einer marktwirtschaftlichen Ordnung die beiden Gruppen, die gewöhnlich die größten Kapitalien investieren, ihr Interesse hat aber verglichen mit den Eigeninteressen der Lohnarbeiter und Großgrundbesitzer den geringsten Bezug zum Allgemeinwohl.27
Zwar stimmen in Smith Analyse die ökonomischen Eigeninteressen der Lohnarbeiter und Großgrundbesitzer mit dem Allgemeininteresse der Gesellschaft überein. Auf Grund gewisser Vorbedingungen sind beide Gruppen aber nicht in der Lage ihre Interessen in dem Masse bei staatlichen Entscheidungen einzubringen, wie die Unternehmer Einfluss auf den Staat nehmen können. Die Großgrundbesitzer haben wegen ihrer komfortablen Lage einen ‚Hang zur Trägheit’ und die Arbeiter sind nicht informiert genug. Zudem erlaubt ihre ‚Erziehung’ und ihre ‚Gewohnheit’ nicht, selbst wenn sie umfassend informiert sein sollten, die geeigneten Forderungen zum Umsetzen ihrer Interessen aufzustellen.28
Ganz anders dagegen die Unternehmer, die wegen ihrer Erfahrung beim Entwickeln und Vorantreiben von Projekten einen enormen ‚Scharfsinn’ und ‚Sachverstand’ entwickelt haben.
Ohne den Beitrag der Unternehmer zur kreativen und innovativen Verbesserung produktiven Wirtschaftens, ließe sich der Wohlstand der Nationen nicht vermehren. Gleichwohl haben die Unternehmer das Bestreben, den natürlichen Anteil der Arbeiter und Grundbesitzer am Gewinn zu ihren Gunsten zu mindern. Die Unternehmer verstehen es aber auch, Interessensforderungen, die dem Gemeinwohl entgegengesetzt sind, als vermeintliche Allgemeininteressen auszugeben. Smith spricht von ‚bereden Beispielen’ und rät dem Staat dringend, die Forderungen von Unternehmern ‚misstrauisch’ und ‚argwöhnisch’ zu prüfen. Denn die soziale Schicht der Unternehmer sei daran interessiert‚ die Allgemeinheit zu täuschen’ und zu übervorteilen. Trotz des von Smith selbst analysierten Gegensatzes von Unternehmensinteresse und Allgemeininteresse verharrt Smith bei der zuvor bereits formulierten Forderung, den Markt und den Wettbewerb auszuweiten.29
Das von Smith erkannte Problem der Superiorität der unternehmerischen Interessensvertretung gegenüber dem gesellschaftlichen Allgemeininteresse drängt nach einer systematischen Auflösung. Angesichts der Forderung von Smith nach einem allgemeinen staatlichen Bildungsauftrag könnte auf eine emanzipatorische Absicht geschlossen werden.30
Zunächst wäre eine solche Schlussfolgerung bei einem prominenten Vertreter des ‚scottish enlightment’ nahe liegend Doch sollte berücksichtigt werden, dass der Bildungsauftrag des Staates bei Smith nur ein eingeschränkter ist. Bei der Universitätsausbildung vertritt Smith die Meinung, dass sie vollständig von den Eltern finanziert werden sollte. Der Staat hat lediglich die Aufgabe, eine Elementarausbildung der Bevölkerung zu finanzieren. Um die staatlich finanzierte Elementarausbildung zu begründen, argumentiert Smith, dass ein möglichst hoher Bildungsstandard auch die Produktivität des Landes erhöht. Zudem erwartet er, dass eine Grundbildung die Menschen von ‚Unwissenheit’ und Dummheit befreit. Er betont aber auch, dass mit der Bildung die Menschen auch ‚ordentlicher’ und ‚zuverlässiger’ werden und die Ziele hinter dem ‚Geschrei nach Zwietracht und Aufruhr’ besser erkennen können. Es findet sich aber keine Textpassage in der Smith argumentiert, dass die einfache Bevölkerung durch gute Bildung befähigt wäre, ihre eigenen Interessen zu erkennen, geschweige denn sie zu formulieren und im gesellschaftlichen Diskurs durchzusetzen.31
Besonders erstaunlich ist, dass Smith zwar bereits im analytischen Teil des Wohlstands der Nationen die Aporie von unternehmerischem Eigeninteresse und gesellschaftlichen Gesamtinteresse aufzeigt, aber eine mögliche Auflösung dieses Grundwiderspruchs im Fortgang seiner Untersuchung nicht weiter thematisiert. Eigentlich hätte Smith mehreren grundsätzlichen Fragen nachgehen müssen. Zum einen fordert seine ökonomische Theorie eine maximal mögliche Realisierung des freien Marktes, ohne aufzuzeigen wie in einem freien Markt verhindert werden, dass die superioren unternehmerischer Interessen ungehindert staatliche Entscheidungen lenken können.
Zudem hätte Smith wegen des unerwarteten Ergebnisses seiner ökonomischen Analyse die Ausgangsbasis seiner Überlegungen, die Vorannahme einer prästabilisierenden göttlichen Ordnung, erneut auf ihre Stimmigkeit befragen müssen. Denn wäre die Vorannahme korrekt, so hätte eine natürliche Ordnung gesellschaftlicher Produktivkräfte offenbar werden müssen, die zu einer natürlichen und gerechten Preisbildung der drei unterschiedlichen Produktionsfaktoren führen und den Gewinn nach einem gerechten Prinzip aufteilen. Statt dessen entwickelt Smith das Modell einer freien Marktwirtschaft, die bestenfalls, so sie deutlich wächst, einen Wohlstand erwirtschaftet an dem partiell, aber unterhalb ihres eigentlichen Wertbeitrages, auch die einfachen Lohnempfänger partizipieren.
Eine mögliche Auflösung der Aporie erwähnt Smith beiläufig, ohne sie als solche zu begreifen. Es ist die Identität von Arbeitskraft und Eigentum an Produktionsmitteln, die Identität von Arbeiter und Unternehmer in einer Person. Smith beschreibt bloß phänomenologisch, dass die Minderheit der Handwerker noch selbst Eigentümer ihres Unternehmens sind, während die Mehrheit kein Eigentum an Produktionsvermögen mehr besitzt. Für die zivilisatorische Entwicklung ist es, so legt es die Semantik des Abschlusses von Buch 1 des Wohlstandes der Nationen nahe, wohl typisch, dass mit der Herausbildung von Kapitaleignern für die produktiv Arbeitenden Kapital ein zunehmend defizitäres Gut wird.
Immerhin weist Smith selbst auf den Sachverhalt hin, dass in dem angenommenen ursprünglichen Zustand Arbeitslohn und Gewinn identisch sind, während im natürlichen Prozess des Herausbildens zivilisatorischer Eigentumsverhältnisse nur noch einer von zwanzig Handwerkern selbst Eigentümer eines Unternehmens ist und demzufolge seinen Gewinn nicht mit Kapitalgebern teilen muss. In Smith ökonomischer Analyse findet sich keine Überlegung, inwiefern es in einem rechtsstaatlichen Prozess möglich wäre, den Lohnabhängigen zu ermöglichen, einen Anteil am Produktivvermögen ihres Unternehmens zu erwerben und auf diese Weise am Entscheidungsprozess des eigenen Unternehmens, beispielsweise der Verteilung des erwirtschafteten Gewinnes, teilnehmen zu können.
Die asymmetrische Kommunikationssituation zwischen Unternehmern, Lohnempfängern und Großgrundbesitzern ist keineswegs nur ein Ergebnis der ökonomischen Analyse von Smith. Sie hat ihre Analogie bereits in der Theorie der ethischen Gefühle. Dort beschreibt Smith die in ihrer emotionalen Gestimmtheit äußerst ähnlichen Phänomene der Verehrung tugendhaften Lebens und Verehrung der Reichen und Mächtigen. Obwohl tugendhaftes Leben in seiner ethischen Qualität wesentlich höher zu bewerten ist, neigen die meisten Menschen viel eher dazu die Reichen und Mächtigen unabhängig von ihren Tugenden zu bewundern. Mit dieser Neigung, Reichtum und Macht bereits als ethische Gütekriterien zu beurteilen, können die Unternehmer mit leichter Hand ihren Vertrauensbonus für die massive Unterstützung ihrer Eigeninteressen gegenüber den Lohnempfängern nutzen.
Mit der asymmetrischen Kommunikationssituation beschreibt Smith aber auch ein grundsätzliches Problem, das über einen innersystematischen Widerspruch von Smith Theorie weit hinausgeht. Generell hat jede emanzipatorische Sozialphilosophie das Problem, theoretisch eine Strategie politischen Handelns aufzuzeigen, die einerseits das Prinzip individueller Freiheit wahrt und andererseits die tendenzielle Überlegenheit organisierter Unternehmerinteressen in der öffentlichen Meinungsbildung auszuhebeln. Nicht zuletzt wegen ihrer größeren finanziellen Ressourcen können die unternehmerischen Interessenverbände die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Forderungen durch wohldurchdachte Medienkampagnen unterstützen, die Ziele des kalkulierenden Eigeninteresses einfordern, indem sie auf vermeintliche Vorteile im Gemeininteresse verweisen. Im Gegenzug würden gesetzliche Hemmnisse individuell-unternehmerischen Handelns zugleich kreative und innovative Prozesse unterbinden.
Die Argumentation von Smith zugunsten einer sich beständig weiterentwickelnden Wohlstandsgenerierung beruht auf der Annahme, dass nicht die Differenz zwischen Arm und Reich, sondern die positive Veränderung der eigenen Vermögenswerte für das Wohlbefinden und das Glück des Einzelnen entscheidend ist. Es liegen neuere empirische Untersuchungsergebnisse vor, die eher den gegenteiligen Schluss nahe legen. Menschen sind weitaus glücklicher, nicht wenn sich primär ihre eigene Vermögenssituation verbessert hat, sondern wenn sie sich in einer materiellen und sozialen Lebenssituation befinden, die nicht signifikant schlechter ist als die vergleichbaren Durchschnittswerte der Bevölkerung. Insbesondere sollte die allgemeine soziale Lebenssituation der Menschen durch gegenseitige Anerkennung sowie gegenseitige Kooperation geprägt sein.32
Zudem berücksichtigt Smith in seinem Beispiel vom Bettler nicht, dass zwischen selbst gewählten minimalistischen Lebensstandards und fremdbestimmter Armut zu unterscheiden ist. Es ist auf Basis einer stoischen Lebensphilosophie zu verstehen, bescheidene Lebensverhältnisse gezielt anzustreben, um Zeit und Kraft für den Dienst am Gemeinwesen zu gewinnen und eine solche Lebensweise wesentlich positiver zu beurteilen als die Gier nach Luxusgütern. Es bleibt aber unverständlich, warum der in sozialer Isolation lebende Bettler wegen seiner Lebensweise eine unvergleichlich höhere Sicherheit haben sollte als der Reiche, der nicht in klirrender Kälte nach einem warmen und sicheren Platz zum Schlafen suchen muss.
Der Wohlstand der Nationen beruht zwar auf der Basis der von Smith entworfenen gerechtigkeitstheoretischen Vorstellungen, er zeigt aber auch das Defizit des nicht einzufordernden Wohlwollens. Eine Gesellschaft die nicht bestimmte Formen der Unterstützung derjenigen zur Pflicht macht, die ihre eignen Interessen nicht selbst in den gesellschaftlichen Entscheidungsprozess erfolgreich einbringen können, kann vom freien Markt der konkurrierenden Akteure nur die Erneuerung bereits vorhandener Ungleichheiten erwarten. Zumal eine Gesellschaft, die ihre Bürger dazu zwingt sich im Wettbewerb stets erneut behaupten zu müssen, dem Einzelnen keine Anreize bietet, sich in gegenseitigem Wohlwollen zu üben.
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1 Hans G. Nutzinger: Das System der natürlichen Freiheit bei Adam Smith und seine ethischen Grundlagen, in: Jahrbuch Ökonomie und Gesellschaft, Bd. 9, Frankfurt 1991, S. 86.
2 Martin Patzen: Zur Diskussion des Adam-Smith-Problems – Ein Überblick in: Peter Ulrich, Arnold Meyer-Faje(Hrsg.): Der andere Adam Smith, Bern 1991, S. 25ff.
3 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 8.
4 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 524f., 536.
5 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 202, Ulrich betont, dass Smith keineswegs ethische Richtigkeit zu sozialer Akzeptanz verkürzt, sondern vielmehr beides auf die Wechselwirkung von ethischem Gefühl und sozialer Kontrolle untersucht. Peter Ulrich: Der kritische Adam Smith – im Spannungsfeld von ethischem Gefühl und sittlicher Vernunft, in: Peter Ulrich, Arnold Meyer-Faje(Hrsg.): Der andere Adam Smith, Bern 1991, S. 169.
6 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 93ff.
7 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 100, 204, 230.
8 Martin Büscher: Gott und Markt – religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die ‚invisible Hand’ in der säkularisierten Industriegesellschaft, in: Peter Ulrich, Arnold Meyer-Faje(Hrsg.): Der andere Adam Smith, Bern 1991, S. 126f., s.a.: Kittsteiner, H.D.: Ethik und Teleologie: Das Problem der ‚unsichtbaren Hand’ bei Adam Smith, in: Kaufmann,F.-X./Krüsselberg,H.G.(Hrsg.): Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt 1984, S. 43.
9 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 384f.
10 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 449, 455, 472f.
11 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 2010, S. 271f.
12 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 296f.
13 Ähnlich urteilt Nutzinger über die Indifferenz von Smith angesichts ungleicher Vermögensverhältnisse, siehe Hans G.Nutzinger: Das System der natürlichen Freiheit bei Adam Smith und seine ethischen Grundlagen.
14 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 443.
15 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 127-129.
16 Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 137f. Einzig in diesem Gesellschaftstyp wird Tugendhats beschreibende Rede vom ‚Einstimmen’ und ‚wechselseitigen Mitschwingen’ erfüllt. E. Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt 1993, S. 286ff.
17 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 3.
18 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 9 -14 Die Segmentierung der Arbeitsprozesse ermöglicht es, die Arbeitsproduktivität so weit zu steigern, dass die materiellen Grundbedürfnisse aller gedeckt werden können. Vgl. Gerhard Streminger: Die unsichtbare Hand des Marktes und die sichtbare Hand des Staates, in Gerhard Streminger: Der natürliche Lauf der Dinge, Marburg 1995, S. 174.
19 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 103f.
20 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 56f.
21 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 70.
22 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 76, 81.
23 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 125ff.
24 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 68
25 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 58f.
26 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 211.
27 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 213.
28 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 212.
29 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 212f. Von Pechmann lokalisiert einen Systembruch an der Stelle, wo Smith seine Arbeitswerttheorie um die Begriffe der Bodenrente und Kapitalrente erweitert. M.E. berücksichtigt von Pechmann nicht, dass bereits Kapital akkumuliert sein muss, damit überhaupt der Prozess der Arbeitsteilung initiiert werden kann, der der Arbeitswerttheorie vorausgehen kann. Die Arbeitswertlehre kann als integraler Bestandteil der Theorie des natürlichen Preises verstanden werden. Der natürliche Preis setzt sich aus natürlichem Lohn, natürlicher Bodenrente und natürlicher Kapitalrente zusammen. Die Überlegenheit des Unternehmer- gegenüber dem Allgemeininteresse verhindert aber, dass der Reallohn niemals den natürlichen Lohn erreichen wird. A. von Pechstein: Der ‚Bruch im System’, in Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 64, 2010, S. 33.
30 beispielsweise in A. von Pechstein: Der ‚Bruch im System’, in Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 64, 2010, S. 48f.
31 Adam Smith: Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 664-668.
32 Wilkinson und Pickett zeigen auf, dass es eine enge Korrelation von demokratisch und egalitaristisch verfassten Gesellschaften zu gesundheitlichem und sozialen Wohlbefinden ihrer Bürger gibt. Insbesondere arbeiten sie heraus, dass das Gefühl der Selbstverwirklichung und Anerkennung in den Gesellschaften besonders hoch ist, die nicht primär konkurrenzorientiert sondern vielmehr kooperativ geprägt sind. Richard Wilkinson, Kate Pickett: Gleichheit ist Glück, Berlin 2009.