von Robert Lembke
Heute vor 50 Jahren war die Welt mit einem Male ärmer geworden. Von ihr gegangen war Albert Camus, gestorben bei einem Autounfall mit seinem Verleger Gallimard, als dieser ihm seinen neu erworbenen Sportwagen demonstrieren wollte. Ein Reifen war geplatzt, und der Wagen rammte zwei Bäume. Vielleicht hätte es einen passenderen Tod für den großen Schriftsteller der Existenz nicht geben können, auch wenn er selber vermutlich vehement widersprochen hätte: Denn erstens konnte er so seinen autobiograpischen Roman Der erste Mensch (posthum 1994), auf den er große Stücke hielt, nicht mehr vollenden; und zweitens widerspricht seine eigene Lehre vom Absurden derjenigen vom möglichen Glück eines frühen Todes. Gegen das antike „Wen die Götter lieben, stirbt jung“ hatte Camus in seinem bekanntesten Werk, dem Mythos des Sysiphos (1943), geschrieben, in einer gottlosen und absurden Welt könne einzig das große Dennoch dem Menschen noch seine Würde verleihen. Ziel müsse es sein, „soviel wie möglich zu leben“, denn allein die Quantität könne noch einen Maßstab abgeben für den, der sich dem Absurden gegenübersieht und es in ihm aushält.
Und trotzdem: Camus hatte, wie sein Fragment gebliebener, seltsam versöhnter Letztling zeigt, der Welt seine Botschaft verkündet. Sein früher Tod hat ihn endgültig zur Legende werden lassen, zu einem der größten und bekanntesten Schriftsteller Frankreichs, ja Europas im 20. Jahrhundert. Drei Jahre vor seinem Tod, im Jahre 1957, hatte er bereits den Nobelpreis für Literatur für sein Lebenswerk bekommen – im Alter von 44 Jahren. Dieses umfasst neben den heute weniger bekannten Theaterstücken und den oben genannten Werken vor allem den Text Der Mensch in der Revolte, Camus’ brillantes philosophisches Hauptwerk, sowie die Romane Der Fremde, Die Pest und Der Fall.
So sehr diese es wert sind, auch heute noch gelesen zu werden – und dass sie es werden, daran ist ob Camus’ Klassikerstatus nicht zu zweifeln –, so schwer muss es jedoch fallen, sie in einen Zusammenhang mit dem Heute zu stellen. (Und siehe da, in der ZEIT versuchte Iris Radisch mit einem forsch-unbekümmerten Sei’s drum, Camus kurzerhand zum Zeitgenossen zu machen.) Was hätte Camus wohl zu unserer heutigen Welt zu sagen gehabt, zur Dauerkrise der soeben zuende gegangenen Nuller Jahre, zum Klimawandel, zum Terrorismus? Nicht dass er selbst nicht die allerschwersten und tragischsten Ereignisse aus nächster Nähe erlebt hätte: erst als Mitglied der Resistance im Kampf gegen Nazi-Deutschland, dann als vom Algerienkrieg unmittelbar Betroffener.
Jedoch scheint das existenzielle Raisonnement in eine beschleunigte, technisierte und virtualisierte Welt nicht mehr recht zu passen: Nach dem Tode Gottes verfiel nach und nach auch noch die Erinnerung an jenes Ereignis. (Oder, kabarettistischer gefasst: Inzwischen ist der Vermeinte in zahlreichen Verkleidungen wieder zurückgekehrt und erfreut sich neuerlich einer gewissen Beliebtheit.) Wer also kann sich jene periodisch wiederkehrende Einsicht in die Absurdität, jene Einkehr, die Heidegger Angst nannte und die darin besteht, sich selbst vor die Gesamtheit des Daseins zu bringen, noch leisten? Was bei Camus und seinen heroischen Vorgängern noch zu Literatur werden konnte, kann angesichts eines entfesselten Weltbetriebs mit immer weniger Nischen höchstens noch als Lähmung erscheinen. Und das Gegenmittel, jenes mediterrane Denken, zu dem Camus nach langem Ringen am Ende von Der Mensch in der Revolte findet, ist nicht frei von bürgerlichen Eintrübungen, mithin vor Trivialisierung nicht gefeit: Zahlreich sind die Rentner aus Deutschland, die es zum Lebensabend nach Mallorca zieht.
Was also tun mit Camus, dieser Ausnahme, die versuchte, den Widerspruch, der unsere Existenz zu zerreißen und auszulöschen droht, auszuhalten, indem man ihn lebt und in Literatur verwandelt? Vor allem: dem es auch gelang, was die wirkliche Ausnahme vom Heer der Gescheiterten unterscheidet? In Paris wollen sie in jetzt ins Panthéon umbetten, in den Tempel zu Balzac und den anderen, die sich um’s Vaterland besondere Verdienste erwarben. Eine zweischneidige Sache, denn Camus brachte nie eine besondere Liebe seinem Vaterland gegenüber zum Ausdruck, Paris im besonderen nicht. Eher schon fühlte er sich als später Grieche, der das Meer und die südliche Sonne liebt, nicht aber die Großstadt und den Trubel.
So sehr auch der allerspätestbürgerlichen Gesellschaft der Sinn danach steht, ihrem sinnentleerten Treiben eine höhere Weihe zu geben, indem sie die tieferen Seelen in ihrer Nähe symbolisch eingemeindet, so sehr sollte man überlegen, ob Camus’ sterbliche Überreste nicht besser auf jenem Dorffriedhof im Süden Frankreichs aufgehoben sind, in dessen Nähe sein Haus sich befand. Der Existenzialismus ist tot, es lebe der Existenzialismus!