Leonardo Boff, Tugenden für eine bessere Welt, Aus dem portugiesischen übersetzt von Bruno Kern, 352 Seiten, Butzon & Bercker, Publik-Forum Edition, Kevelaer 2009, ISBN: 978-3-7666-1285-4, Preis: 29,90 Euro.
von Stefan Groß
„Zivilisatorische Krise“ und „Planetarische Phase“, zwischen diesen beiden Stichworten spannt sich die neue Tugendlehre von Leonardo Boff, 1985 wegen Fehlverhaltens vom Vatikan gerügt und mit einem längeren Rede- und Lehrverbot belegt, aus. Boff, gemäßigter Vertreter der Befreiungstheologie, plädiert in seinem neuen Buch „Tugenden für eine bessere Welt“ für eine globale Ethik, die Züge von Hans Küngs „Projekt Weltethos“ trägt. Für eine planetarische Ordnung muß es ethische Minimal-Standards geben, die allgemein verbindlich und von jedermann respektiert werden sollen. Dabei geht es dem katholischen Theologen keineswegs um einen rigorosen Pflichtenkatalog kantischer Provenienz, sondern insbesondere, um mit Max Scheler zu sprechen, um eine materiale Werteethik, die gebietet, zugleich aber auch die Materie der Pflicht mit bedenkt.
Boffs utopisches Ideal bleibt dabei die globale Weltgesellschaft mit einem christlich fundierten, aber auch humanistisch-marxistisch geprägten Wertekanon, wobei vier Kardinaltugenden in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt werden, die das Fundament für die von ihm ersehnte „Kultur der aktiven Gewaltlosigkeit und des Friedens“ bilden können. Daß diese letztendlich aus der Spiritualität abgeleitet werden, wobei das Individual- dem Gesamtwohl, die Politik der Ethik untergeordnet wird, ist eine der Prämissen des ehemaligen Doktoranten von Karl Rahner und Joseph Ratzinger, der auch als Papst Benedikt XVI. eine Unterordnung der Politik unter die Ethik fordert.
Boff will mit seinem pazifistischen Utopismus zugleich jeglichem Freund-Feind Denken à la Carl Schmitt und Samuel Huntington entgegensteuern, indem er für die zivilen Tugenden der Gastfreundschaft, des Zusammenlebens, für Respekt und Toleranz sowie für die Tischgemeinschaft plädiert. Eine Ethik der Zukunft, in deren Zentrum die Globalisierung der „Gattung Mensch“ steht, ist per se nicht kompatibel mit der zerstörerischen Dialektik von Freund und Feind, die Boff dann auch als historische markiert. Der Absage an die historische Feind-Konstellation korrespondiert auf der anderen Seite eine Philosophie des DU, die Boff in der Nachfolge von Martin Buber entwirft. Das DU wird zum maßgebenden Bestimmungsgrund nicht nur der sozialen Selbstfindung des Ich, sondern als der Andere, als das fremde Gegenüber gedacht, zur Einbruchsstelle, die das jeweilige Ich nicht nur permanent nach sich selbst fragen läßt, sondern diesem zugleich auch immer wieder seine Endlichkeit und Fragilität vor Augen hält. Diesen Anderen, den ganz Anderen, interpretiert Boff in der Nachfolge von Emanuel Lévinas als die Spur Gottes. Im Gesicht des Anderen, das für seine Transzendenz steht, zeigt sich das Göttliche.
Anhand des griechischen Mythos von Philemon und Baucis entwickelt Boff dann eingehender seinen Tugendbegriff der Gastfreundschaft, wobei nicht nur, à la Kant, postuliert wird, daß der Mensch niemals bloß Mittel, sondern immer Zweck an sich selbst ist, sondern auch, daß der Andere immer als Bild des Absoluten wahrgenommen werden soll. „Der Andere ruft in uns das ethische Bewusstsein wach“ (S. 114). Sowohl aus dem Humanum als auch vor dem Hintergrund christlicher Spiritualität leitet sich für Boff die goldene Regel ab, die, wie er selbst schreibt, am treffendsten der Philosoph Enrique Dussel für die notleidende Welt formulierte: „Befreie die Armen“.
Mit diesem kategorischen Imperativ ist zugleich Boffs utopisches Programm einer globalen Humanisierung verbunden, die nicht nur gegen den neoliberalen Kapitalismus und den Mißbrauch der Biosphäre anstreitet, sondern, à la Hans Jonas, für eine Verantwortung der Zukunft gegenüber plädiert, die sich nicht auf ein verantwortlich-gegenseitiges Handeln von Subjekten beschränken will, sondern die ganze Welt in ihre Handlungen mit einzubeziehen sucht. Während sich für Jonas die Verantwortung für Künftiges aus der „Heuristik der Furcht“ ableitet, spricht Boff von „dignitas terrae“ und vom „homo sapiens et demens“.
In Anbetracht des zerstörerischen Potentials, über das die Menschheit der Moderne verfügt, kann diesem nur begegnet werden, wenn anstelle des abendländischen Individualismus eine neue Ethik als Herausforderung tritt, durch die es möglicherweise gelingen kann, den Supergau aufzuhalten.
Immer wieder analysiert Boff in seinem neuen Buch die Welt im Zeitalter der ökologischen Krise, kritisiert vehement die allenthalben anzutreffende soziale Ungleichheit und fordert schließlich ein Ethos des gemeinschaftlichen Handelns, eben eines, das auf den vier Tugenden basieren soll. Bei aller Utopie, eines bleibt für Boff sicher: „Der Prozess der Globalisierung führt zwangläufig zum Dialog aller mit allen“ (S. 143).
Daß für diesen Prozeß die ethische Grundlage einer rechtverstandenen Demokratie sichergestellt werden muß, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch des Theologieprofessors, der 2001 den Alternativen Friedensnobelpreis für sein caritatives Engagement zugunsten der Ärmsten dieser Welt in Empfang nehmen durfte. Dieses, sein Engagement für die Notleidenden – dies ist und bleibt die Lebensleistung des „ehemaligen“ Franziskanermönches. Und sie tröstet auch darüber hinweg, daß sein Tugendbuch letztendlich, wie einst das „Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch, nur mit Sollensforderungen aufwartet, die dann aber doch ans Herz gehen. Nur: Ob sie von jenen gehört werden, an die sich das Buch richtet, an die 20 Prozent der Reichen dieser Welt, dies mag man, leider, bezweifeln. Doch nichtsdestotrotz ist dieser bittende und zugleich auch warnende Auf-Ruf aus Brasilien einer, der dringend notwendig ist, soll sich das Antlitz der Welt ändern. Boff weiß, und dies gibt er, zwischen den Zeilen, als weise Drohung den Lesern mit an die Hand, daß sich die Ärmsten irgendwann ihre Rechte zurückholen werden – und dies, wie derzeit schon in vielen politischen Szenarien zu spüren, möglicherweise mit den schrecklichsten Mitteln der Vergeltung. Um diesem Inferno zu entgehen, das keineswegs utopisch ist, gebietet sich, schon aus Gründen der bedächtigen Weisheit, ein Umdenken, wie es Boff fordert. Sein Tugendbuch bleibt gewichtig, wenngleich viel Bekanntes darin zu finden ist.