von Teresa Tammer
Vor 30 Jahren erschien ein Buch mit dem Titel: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Der Autor, Hans Jonas (1903-1993), schrieb es als Antwort auf die drängenden Fragen der Moral unter den Bedingungen einer gegenwärtig hoch technisierten und automatisierten Welt. Der jüdische Philosoph deutscher Herkunft beabsichtigt darin „neue Dimensionen der Verantwortung“[1] aufzuzeigen, die sich unausweichlich aus der Sorge um die Menschheitszukunft ergeben. Einen eigenen Stellenwert erhält bei ihm die „neue Rolle des Wissens in der Moral“[2]. Jonas erhebt die Aneignung von Wissen zur Pflicht, wobei für ihn darin die Anerkennung von Unwissen enthalten ist.
Die Macht des Menschen erzeugt Verantwortung. In dem Maße, wie unsere Entscheidungen Auswirkungen zeigen auf die Umwelt, so ist unser Handeln moralisch zu beurteilen. Da durch moderne Technologien der Wirkungskreis menschlichen Tuns so stark ausgeweitet und damit unübersehbar und unberechenbar geworden ist, kann auch hier nicht mehr der Maßstab von Moralität greifen, der sich in der Vergangenheit zumeist nur auf nahe zwischenmenschliche Interaktion bezog. Dieser fällt natürlich nicht weg. „Aber diese Sphäre ist überschattet von einem wachsenden Bereich kollektiven Tuns, in dem Täter, Tat und Wirkung nicht mehr dieselben sind wie in der Nahsphäre, und der durch die Enormität seiner Kräfte der Ethik eine neue, nie zuvor erträumte Dimension der Verantwortung aufzwingt.“[3] In dieser Verantwortung liegt eben die Überbrückung der „Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns“[4]. Jonas spricht von „kumulative[r] Selbstfortpflanzung technologischer Veränderung“[5] und begründet damit das Versagen bisheriger Erfahrungswerte bei der Behandlung auftretender Probleme, da solche noch nie da gewesen sein konnten. Wie der Rennfahrer in seinem Sportwagen, der bei 250 km/h nicht mehr überblicken kann, an welchen Gegenständen er vorbei fährt, wobei jede seiner kleinsten Bewegungen am Lenkrad eine wirkungsmäßig potenzierte Kraft auf das Auto und die Straße übersetzt. Eine Unachtsamkeit oder falsche Bewegung könnte tödlich für ihn sein. Der Fahrer ist sich dessen bewusst und darauf trainiert, jeden Fehler so gut es geht zu vermeiden. Die Menschheit ist jedoch keineswegs in voller Kenntnis um die Folgen ihrer Taten und somit nicht in der Lage, die Bedeutung einzelner Handlungen abzuwägen. Jonas´ Forderung, die sich für eine neue Ethik daraus ergibt, ist die Bildung und das Wissen, welche dem „kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein“[6] müssen. Das stellt sich uns fast wie eine Unmöglichkeit vor, da dieses Wissen noch nicht einmal komplett vorhanden ist, um es weiter zu geben. Hier wendet Jonas die „Anerkennung der Unwissenheit“[7] ein, die uns reflektierend daran erinnern soll, dass unsere Macht über die Welt zu groß ist, um sinnvoll mit ihr umgehen zu können. Der damit verbundene Anspruch muss an der Wirklichkeit geprüft werden. Denn die Kehrseite der geforderten Wissensaneignung zeigt sich an den real existierenden Bedingungen und der bereits bestehenden Bedeutung von Wissen.
Wissen ist Macht – nichts wissen, macht nichts. So lautet ein Aufkleberspruch, den sich überforderte Schüler witzelnd gegenseitig auf den Ranzen kleben. Beide Teile dieses Satzes haben für die Erfahrungswelt der Menschen ihre Berechtigung, auch wenn sie erst einmal konträr zu dem zu stehen scheinen, wofür Hans Jonas argumentiert. Wissen ist Macht, sofern es Menschen gibt, mit Hilfe deren Unwissenheit einer die Vorteile auf seine Seite zieht, ohne dass ihm etwas entgegengesetzt wird. Informationen sind in unserer Welt zu einem wertvollen Rohstoff geworden, ohne die auch keine technologischen Entwicklungen möglich gewesen wären. Die Menschheit ist an dem heutigen Punkt angelangt, den Jonas beschreibt, weil wenige Personen durch Forschungen ihr eigenes Wissen erweiterten und anderen die Ergebnisse zur Verfügung stellten. D.h. Macht kann nur zustande kommen, wenn die Handlungsmöglichkeiten ungleich verteilt sind, was wiederum aus den unterschiedlich gelagerten Wissensbeständen resultiert. Es wäre genauer so untersuchen, welche Art der Bildung Jonas zur Pflicht erheben möchte. Scheinbar ist die Ansammlung von Wissen über Ursachen und Wirkungen an irgendeinem Ort keine Lösung. Bildung ist der Schlüssel dazu, den eigenen Forderungen Ausdruck zu verleihen. Wenn viele unterschiedliche Interessen mit gleichstarker Stimme zu berücksichtigen sind, dann muss die Entwicklung langsamer voran gehen.
Die Erfolge in Wirtschaft und Technik der letzten Jahre fußen auf Ungerechtigkeiten und stellen die Menschheit nun vor Herausforderungen, denen sie nicht gewachsen sind. Der springende Punkt ist jedoch die Nichtberücksichtigung der vielfältigen Bedürfnisse. Hätten alle Menschen gleiche Rechte und würden wir uns mehr um gleichmäßige Verteilung materieller Güter kümmern, als um punktuelle Gewinnmaximierung, dann zerfielen die globalen Probleme. Der Schlüssel zur Gerechtigkeit liegt wieder in der Bildung. Und hier geht es auf unterster Stufe um Alphabetisierung. Demgegenüber steht in Genf ein Superteilchenbeschleuniger LHC, der den Strom verbraucht, der nötig wäre, um hunderte afrikanische Klassenzimmer zu beleuchten. Dass dies menschlich ist, erscheint vollkommen verständlich. Wer würde hier schon freiwillig auf sein Bafög verzichten, damit eine junge Frau aus Burundi in Deutschland studieren kann. Und so bin ich beim zweiten Teil des Aufkleberspruches angelangt: Nichts wissen, macht nichts. Keine Entscheidungen treffen zu müssen, ist sehr bequem. Wer nichts kann, muss auch nichts machen. Es wird andere geben, die die Aufgaben erledigen. Die Verantwortung lastet auf den Wissenden. Je weniger es von denen gibt, desto größer ist die Gefahr, dass Entscheidungen getroffen werden, die nicht im Sinne aller sind. Nichts zu wissen, kommt dem Einzelnen nicht unmittelbar als Nachteil vor, also macht es ihm nichts aus. Diejenigen aber, die in der gegenwärtigen Weltsituation die Gefahren und das Potenzial sehen, sind in der Verantwortung, alle Menschen an einer Entscheidung für eine Richtung in die Zukunft zu beteiligen.
Hans Jonas leistete mit seinem Werk einen unverzichtbaren Beitrag dafür, dass schrittweise ein Problembewusstsein entstehen konnte. Es werden heute Entscheidungen getroffen, die mit ihren Auswirkungen die Menschheit aus dem Jahre 2009 in die Zukunft projizieren. Wir haben aber nicht nur Macht über die Lebensgrundlage nachfolgender Generationen, sondern erkennen bereits jetzt eine Welt, in der bessere und schlechtere Ausgangsbedingungen nebeneinander existieren. Wenn es uns noch nicht einmal gelingt, den Erhalt alles derzeitigen Lebens auf dieser Erde in die Dimension der Verantwortung einzubeziehen, wie kann dann das zukünftige unsere Zustimmung bekommen? Solange sich die Menschen nicht darüber einig sind, wie sie heute in einer Welt miteinander leben wollen, behält Das Prinzip Verantwortung seine Gültigkeit und den richtungsaufzeigenden Charakter.
[1] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1979, 3. Auflage 1993, S. 26.
[2] Ebd., S. 28.
[3] Ebd., S. 26.
[4] Ebd., S. 28.
[5] Ebd.
[6] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 28.
[7] Ebd.