Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt (S. Fischer): 2008. 727 Seiten. EURO (D) 29,90. ISBN: 3100751191.
Reiner Stach hat sein Leben als Forscher und Autor Franz Kafka gewidmet – mit einer Ausschließlichkeit, wie sie sonst nur Klaus Wagenbach aufbrachte. Stachs monumentale Lebensbeschreibung, deren zweiter Band: Die Jahre der Erkenntnis jüngst erschienen ist – und ähnlich enthusiastisch besprochen wurde wie der erste: Die Jahre der Entscheidungen –, ist nicht sein erstes Verdienst um die Kafka-Forschung: Reiner Stach hat den Nachlass von Felice Bauer, Kafkas Braut, entdeckt und 1999 der staunenden Weltöffentlichkeit präsentiert.
Am bemerkenswertesten aber ist dies: Stach ist der erste eigentliche Biograph Franz Kafkas. Vor ihm hat keiner den Versuch gemacht, eine umfassende Lebensbeschreibung des wirkungsmächtigsten – und popkulturell einflussreichsten – Schriftstellers des 20. Jahrhunderts zu erstellen. Ob diese eigentümliche Enthaltsamkeit der schreibenden Zukunft je zureichend erklärt werden kann, steht dahin. Vielleicht spielt dies eine Rolle: Kafkas Texte sind die am häufigsten interpretierten. Die Bibel und Shakespeare mögen auszunehmen sein, ansonsten aber hat kein Korpus solchen hermeneutischen Furor ausgelöst. (Längst schießen die Interpretationen ‚zweiter Ordnung’ ins Kraut: Sie interpretieren die mangelnde Interpretierbarkeit Kafkas.) Wenn nun verbindliche Aussagen über die Person Kafkas getroffen worden wären, ihre Absichten und darüber, welches nicht ihre Absichten waren, so hätte die Freiheit des deutenden Wortes – womöglich – gelitten. Allzu deutlich wäre hervorgetreten, dass viele wissenschaftliche wie feuilletonistische Äußerungen geistreich und klug sein mögen, eines allerdings nicht: zutreffend und richtig – wenn ‚richtig’ bedeutet, dass sie den Absichten des Autors entsprechen.
Der schiere Umstand, dass dieses Buch existiert, ist demnach höchst bemerkenswert. Darüber hinaus ist Stachs ideologiefreier Zugang zum Werk wie zur Person Kafkas zu rühmen. Stach vertraut nicht Theorien, am wenigsten den tiefenpsychologischen – sie wurden an Kafka zahlreich erprobt –, sondern dem eigenen, in jahrzehntelanger Arbeit am Quellenmaterial geschulten Urteilsvermögen. Dabei ist er nicht der Illusion verfallen, ein kontextfreier Blick auf den Autor sei möglich oder auch nur wünschenswert. Kafkas Vita wird konsequent in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet. So gelingen suggestive, kenntnisreiche Sittenbilder des beginnenden 20. Jahrhunderts. Besondere Aufmerksamkeit wird Kafkas agnostischem Judentum, einschließlich der gründlichen Hebräisch-Studien, zuteil, und mehr noch dem Weltkrieg. Stach ist unter den Ersten, die dem Krieg und dessen Weiterungen, darunter dem Zusammenbruch der habsburgischen Monarchie, das gebührende Gewicht beimessen. Der Erste Weltkrieg ist das europäische – mehr noch: mitteleuropäische und österreichische – Zentralereignis in der Lebensspanne Kafkas, mit offensichtlichen Auswirkungen auf die Person und – weniger offensichtlich – auch auf das Werk. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie verlor Kafka seine österreichische Staatsangehörigkeit und, von Berufs wegen, die ‚Muttersprache’, denn künftig waren die Geschäfte der Arbeiter-Unfallversicherung in tschechischer Sprache abzuwickeln. Stach weist weiters darauf hin, dass Kafka nach dem Kaiser, Franz Joseph, benannt worden war (175), und sich die sterbenden Kaiserfiguren in seinem Werk (Eine Kaiserliche Botschaft etc.) häufen – just in den Monaten nach Franz Josephs Tod. Vor allem aber: Kafka war körperlich affiziert von den Hungerwintern der Kriegszeit, und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre, samt mangelhafter medizinischer Versorgung, haben seinen körperlichen Verfall befördert. Die Schilderungen des Kriegsgeschehens und Kafkas täglichen Umgangs mit psychisch und physisch Kriegsversehrten gehören zu den eindringlichsten Passagen des Buches.
Ganz selten möchte man protestieren, wenn etwa Österreich – das seine besten Zeiten längst hinter sich hatte – als „Parvenu[s]“ unter den Großmächten des 19. Jahrhunderts firmiert (9). Wenn einer tausende Seiten schreibt – und vorab tausende Seiten verarbeiten musste – sind solche Flüchtigkeiten nicht zu vermeiden. Die imponierende Leistung im Ganzen verbietet Mäkeleien im Detail – umso mehr, als viele Einzelheiten sich lehrreich und erhellend darstellen: Wer hätte gedacht – um irgendein Beispiel zu geben –, dass Kafka Napoleon, Franz Grillparzer, den klassischen Dramatiker Österreichs, und mehrere galizische Wunderrabbis aus denselben Gründen verehrte: weil sie dem eigenen Gesetz gefolgt, sich selber treu geblieben seien (135).
Ein anderer möglicher Einwand hat größeres Gewicht: Nicht selten wurde angemerkt, Reiner Stach verfahre essayistisch. Seine Prosa habe selber literarischen Rang. Darin liegt nun auch eine Gefahr: Neben den zahlreichen Kafka-Zitaten muss Reiner Stachs Duktus notwendigerweise hölzern und holprig scheinen. Neben gängiger Wissenschaftsprosa aber: geschmeidig, lebhaft und – lesbar.
Zuletzt: Reiner Stach bringt den selten gewürdigten Umstand zur Geltung, dass Kafkas Angehörige und Freunde unter der deutschen Besatzung in großer Zahl umgebracht wurden und Kafka selbst – zumindest – in die Emigration gezwungen worden wäre:
„Alle drei Schwestern Kafkas starben in Gaskammern, Elli und Valli in Chelmno, Ottla in Auschwitz. Kafkas Onkel Siegfried Löwy, der Landarzt, entzog sich der drohenden Deportation durch Suizid. Ellis Sohn Felix starb wahrscheinlich in einem französischen Konzentrationslager. Marie Wernerová, die den Kafkas jahrzehntelang als Haushälterin gedient hatte, wurde ebenfalls deportiert und kam nicht mehr zurück. Von den vier Frauen, mit denen Kafka die intensivsten Beziehungen einging, starben zwei in Konzentrationslagern: Julie Wohryzek wurde in Auschwitz getötet, Milena Jesenská starb als politischer Häftling in Ravensbrück. Auch Grete Bloch wurde in Auschwitz ermordet. [...] Kafka [...] hätte nach dem Ende dieser zivilisatorischen Katastrophe nichts mehr wiedererkannt. Seine Welt gibt es nicht mehr. Nur seine Sprache lebt (618ff).“