Ernst Osterkamp, Einsamkeit, Über ein Problem in Leben und Werk des späten Goethe, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse, Jahrgang 2008, Nr. 1, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008, 20 Seiten, ISBN: 978-3-515-09198-5.
Mittlerweile sind sie zu geflügelten Worte geworden, die Begriffe Einsamkeit und Entsagung bei Goethe, nicht zuletzt und dank der umfangreichen Forschungen des Berliner Literaturprofessors Ernst Osterkamp, der mit seiner Habilitationsschrift, Im Buchstabenbilde, Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, bereits einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung des späten Goethes leistete. Aber auch Osterkamps jüngste Beiträge zum Begriff des Klassischen bei Goethe und Schiller werden für Aufsehen sorgen.
Mit seinem kleinen Essay, Einsamkeit, Über ein Problem in Leben und Werk des späten Goethe hat Osterkamp 2008 wiederum einen tiefergreifenden Aufsatz zum Spätwerk des Weimarer Literaten und Wissenschaftlers veröffentlicht, der in den Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz nunmehr vorliegt.
Johann Wolfgang Goethe – ein Einsamer? Alles andere assoziiert man mit dem Staatsminister, Dichterfürsten und Gesellschafter als eben jene Einsamkeit. Doch Osterkamp belehrt eines anderen. Der gravierende Einschnitt im Leben Goethes, so die These, war der Tod Schillers 1805, der beim Weimarer Olympier nicht nur eine schwere künstlerische Krise auslöste, sondern bei dem sich darüber hinaus zugleich das Gefühl umfassender Verlassenheit einstellte. Nicht nur die Preisaufgaben der Weimarischen Kunstfreunde wurden eingestellt, auch der Versuch einer Erneuerung der Kunst aus dem Geist der Antike war nunmehr in unendliche Ferne gerückt. Schillers Tod läutete einen Paradigmawechsel in Goethes Leben ein, was zwangsläufig darauf hinauslief, daß sich der ehemalige Stürmer und Dränger zusehend seiner Zeit widersetzte, dem Zeitgeist und sich, wie Osterkamp betont, ins Eigene und „Nächste“ zurückzog. Diese unfreiwillige Einsamkeit nimmt Goethe fortan in sich auf, Entsagung bleibt das zentrale Thema seines weiteren Lebens und Schaffens.
Der Tod Schillers führte Goethe geradewegs nicht nur in die Einsamkeit und Entsagung, sondern veranlaßte den 56-jährigen Dichter auch zu einer Suche oder einem neuen Konzept, wie diese Einsamkeit produktiv zu bewältigen sei. Zwar fällt bei Osterkamp das Wort Lebenskrise nicht, es läuft aber alles auf eine solche bei Goethe hinaus, wenn vom „fundamentalen Wandel“ der „Lebensweise“ gesprochen wird. Zwar war eine radikale Veränderung der Lebensweise für Goethe unmöglich, möglich ist ihm nur gewesen, eine Strategie zu finden, durch die der schmerzhafte Verlust des Geistesfreundes kompensiert werden konnte.
Diese Bewältigungsleistung Goethes, damit er nicht ins Leere, in die Apathie falle, sieht Osterkamp in einer Doppelstrategie: „Die eine bestand darin, die Einsamkeit für sich als eine Existenzform zu akzeptieren, die ihm zugleich den produktiven Widerstand gegen den Zeitgeist ermöglichte, die andere in der pragmatischen Erledigung des ‚Nächsten’ im Zeichen jener verkürzten Zeithorizonte, die die konkrete Erfahrung, aber auch die Erwartung des Todes nahelegte – eine Erfahrung und eine Erwartung, die Goethe zugleich in seiner Resistenz gegenüber politischen Maximalprogrammen und geschichtsphilosophischen Globalentwürfen bestätigten“ (S. 5).
Gerade jene Verquickung von produktiver Einsamkeit und pragmatischer Abarbeitung am „Nächsten“ läßt sich als Charakteristikum der Existenzweise des späten Goethe beschreiben. Die mit der Einsamkeit einhergehende Abkehr vom Kunstprojekt, auf das Werden und Wesen der Künste nochmals gestalterisch Eingriff zu nehmen, kulminiert letztendlich in der Reduktion auf das Eigene, das nichts anderes als das eigene Werk ist. Goethe wird zum Konservator und Bewahrer seiner selbst, konzentriert und bündelt die Kräfte auf den Schaffenskreis Weimar und Jena. Mit der Rückkehr ins Ich verbunden ist die Absage ans Ganze, ans Globale, an den Bildungsoptimismus der Zeit. Vom Gedanken, auf die „Menschen genetisch zu wirken,“ „die Entwicklung von Kunst, Literatur und Wissenschaft im Zeichen umfassender programmatischer Leitlinie und Idealkonzeptionen“ (S. 6) zum Besseren umzubiegen, ein Projekt, das er mit der Preisaufgaben noch verfolgte, hat er sich ganz verabschiedet.
Vielmehr zeigt sich Goethes „neue Lebensweise“ als geistige Isolation gegenüber der eigenen Zeit. Das tragische Bewußtsein, einer Epoche anzugehören, die nicht mehr die seinige war, hat sich in ihm verfestigt.
Mit dem Rückzug in die Innerlichkeit geht auch einher, daß sich der Einsame nicht mehr auf neue, jüngere Bundesgenossen einzulassen gewillt ist. Neuen Freundschaftsbanden erteilt er eine klare Absage. Ausgenommen bleiben die Urfreunde Carl Friedrich Zelter, Wilhelm von Humboldt und (bedingt) Heinrich Meyer, bei denen er in Zeiten, wo das Schicksal mit ihm hadert, Trost sucht und findet.
Daher verwundert er nicht, daß Goethe zunehmend Abwehrmechanismen aufrichtet, Strategien der Einsamkeit entwickelt, die es ihm ermöglichen, schaler Geselligkeit und dem langweilig-amüsiertem Hofleben zu entfliehen. Er sucht Rückzugsmöglichkeiten, um aus der empirischen Tatsache des Alleingelassenseins eine produktive Existenzweise zu machen. Ein Ort dieses Zurückgezogenseins wird für ihn die nahegelegene Universitätsstadt Jena, wenngleich er anfangs in Jena noch zwischen der Einsamkeit als quälendem Schicksal und ersehnter Zurückgezogenheit schwangt. Erst 1816 wird er die ihn quälende Ambivalenz restlos besiegen.
Goethes Einsamkeit hat, wie Osterkamp in einem zweiten Teil seines Essays nachweist, nachdrücklich auf sein schriftstellerisches Spätwerk gewirkt. Die Poesie der Einsamkeit wurde nunmehr für die behandelten Stoffe zentral. Es sind die großen Einsamen, die fortan ins Zentrum seiner Werke rücken, in Pandora, in Die Wahlverwandtschaften, im Faust II, in der Marienbader Elegie, in Wilhelm Meisters Wanderjahre. Melancholische Selbstzerrüttung, die Reduktion auf das leidende Ich, der Bruch mit der nicht mehr zu synthetisierenden Welt oder Moderne, die Unversöhnlichkeit mit dem Gegenwärtigen – all dies wird jetzt zum Thema. Denn: „Das Schöne kehrt nie mehr in die Welt zurück […], der Repräsentant des sentimentalisch-selbstreflexiven Menschen der Moderne bleibt auf immer einsam in der von Gewalt- und Nützlichkeit geprägten Wirklichkeit zurück“ (S. 11). An die Stelle eines ästhetischen Erziehungsprojektes, mit dessen Hilfe die gesellschaftliche Wirklichkeit neu zu formieren sei, tritt das unvollendete Drama Pandora als Zeichen der poetischen Erfahrung der Einsamkeit.
Die nunmehr selbst gewählte Einsamkeit Goethes beeinflußte aber auch den Charakter des Spätwerks, da der Dichter nunmehr unverhohlen Distanz gegenüber seinem Publikum nahm. Die künstlerische Freiheit, die sich aus der Einsamkeit heraus entwickelte, wurde so zu einer Befreiung vom angedienten Stil und Pathos des Zeitgeistes und der literarischen Form, wie diesem zu entsprechen und genügen zu sei. „Wer dem Publikum dient, ist ein armes Tier; / Er quält sich ab, niemand bedankt sich dafür“, so formuliert es der alte Goethe.
Wie Osterkamp betont, ist es diese sich dem Konzept der Einsamkeit verdankende „formale Radikalität“, die das Spätwerk auszeichnet und maßgeblich bestimmt. „Überall in seinem Alterswerk polt Goethe das Gefühl der geistigen Isolation und der Verlassenheit vom Zeitgeist in eine produktive Distanz zum zeitgenössischen Publikum um, die ihm seine provozierende Altersradikalität in allen künstlerischen Formfragen erlaubt“ (S. 14). So nimmt es auch nicht wunder, daß Goethes späten Werken der Erfolg beim Publikum versagt blieb, das Konzept der Einsamkeit ließ ihn auch in den Augen seines Publikums einsam werden. Poesie der Einsamkeit allenthalben.
Mit der Isolierung Goethes einher ging sein Verhältnis zum eigenen Werk. Er selbst befand sich nicht nur für historisch, sondern auch die Beschäftigung mit dem eigenen Werk wurde museal. Zunehmend tritt der Archivar und Sammler Goethe auf den Plan, der sich – gemeinsam mit Heinrich Meyer – Gattungsfragen, kunsthistorischen Rubrikenzuordnungen, wie Osterkamp schon Im Buchstabenbilde hervorhob, zuwandte. „Der Klassizismus trat damit endgültig in seine retrospektive Phase ein“ (S. 14).
Das Zeitalter des Klassischen, die Zeit Winckelmanns wird zugunsten von Historisierung und Musealisierung eingetauscht, ein Procedere, das 1805, spätestens 1809 begann. Konsequente Historisierung der eigenen Persönlichkeit und der Kunst waren die bewußten und beabsichtigten Folgen. Diese „schriftstellerische Selbsthistorisierung aber hob die Einsamkeit des Dichters nicht auf, sondern begründete und stabilisierte sie im Medium der Selbstreflexion“ (S. 15). Zu dieser Historisierung zählt auch der schnelle Abschluß seiner 13 Bände umfassenden Werkausgabe, die dann zwischen 1806-1810 bei Cotta erschien. Zu retten, was zu retten ist, dies ist Goethes Maxime als Konservator, dies die konsequente Folge seiner Arbeit am „Nächsten“, am eigenen Werk. Der Vergänglichkeit und Vergeßlichkeit des Zeitgeistes galt es das Persönliche, das Erschaffene zu entziehen, es den Wogen des Zeitgeistes zu entreißen, um ihm unabhängig von aller Zeit Gültigkeit zu sichern – pragmatische Sicherung seiner Lebensverhältnisse.
Kurzum: Goethes Doppelstrategie der Einsamkeit, der Rückzug auf das „Nächste“ und Innerste“ verschaffte ihm den Freiraum, sich aus der öffentlich-politischen Sphäre, der großen Politik des Weimarer Hofes, herauszumanövrieren, um Verantwortung für das „Nächste“ übernehmen zu können. Diese Strategie, auf das „Nächste“ oder Naheliegende seine Kräfte zu konzentrieren, hat er dann auch in Zeiten politischer Unruhen durchgehalten. Den Kampf ums Ganze überließ er den jeweiligen Ministern des kleinen Herzogtums, insbesondere Voigt, der sich gegenüber den wichtigsten Sorgen für Gegenwart und Zukunft zu verantworten hatte. Goethe seinerseits richtete, so nach der Niederlage gegen die Franzosen 1806, sein Interesse auf jene pragmatische Tätigkeit „im lokalen wie temporalen Nahbereich im Sinne einer konkreten Verantwortung für dasjenige, was ihm anvertraut war“ (S. 20).