Tilman Jens, Demenz, Abschied von meinem Vater, Gütersloher Verlagshaus, München 2009.
Man mag die künstlich-politisch aufgebauschte und als ethischer Fingerzeig auf Tilman Jens verweisende Kritik, die dieser gerade mit seinem neuen Buch über die Demenzkrankheit seines Vaters Walter Jens, erntet, nicht teilen. In den Medien ist von Vatermord die Rede, von einem unangemessenen Umgang mit dem berühmten Professor aus Tübingen, dem Altphilologen und Literaturwissenschafter. Die Auseinandersetzung, Annäherung und die detaillierte Beschreibung des Demenzkranken sei in der vorgelegten Form unwürdig, ein geradezu abgeschmacktes und geschmackloses Abrechnen von einem, der nach Selbstgeltung begehrt. Die Demenz des Vaters, so die lauthals verkündete Kritik, sei nur die Folie für den anerkennungssüchtigen Sohn. Ablehnung spürt Tilman Jens überall. Dabei ist sein kleines, im Gütersloher Verlagshaus 2009 erschienenes Buch, Demenz, Abschied von meinem Vater alles andere als eine radikale Abrechnung mit der genialen Vaterfigur. Gerade das Gegenteil zeichnet sich ab: Bei dem gutlesbaren und gutgeschriebenen Buch hat man immer das Gefühl, daß Tilman Jens ein würdiges Bild zeichnet, ein würdiges auch dann, wenn man bedenkt, daß der Umgang mit der übergroßen Vaterfigur nicht immer einfach für ihn gewesen sein muß und auch gewesen war. Übergroße Väter, dies weiß man nicht nur aus der Literaturgeschichte, können ein grausames Schicksal für die Nachgeborenen sein. Doch von all dem spürt man wenig, selbst dann, wenn Tilman Jens über seine Jugend und die Erziehungsmethoden des Vaters reflektiert, die ihn als Kind oft überforderten.
Der Leser erfährt viel von den Jens', von ihrem Leben im Tübinger Intellektuellenmilieu, von der Schreibbesessenheit des Vaters, für den das „Nicht-mehr-schreiben-zu-können“ einem „Nicht-mehr-atmen-zu-können“ gleich kam, für den das Leben mit dem produktiven Arbeitsprozeß unmittelbar einherging, dem das Gefühl „totaler Isolation“ Anlaß war, über einen selbstbestimmten Tod nachzudenken. Die Annäherung an den Vater, die Tilman Jens vom Abschied her zeichnet („Der Vater, den ich kannte, der ist lang schon gegangen.“), gerät auch zur eigenen Biographie, die das protestantische Milieu im Elternhaus genauso schildert wie gemeinsam verbrachte Urlaube auf Sylt. Es ist die Askese als Lebensprinzip, die Tilman in Erinnerung ruft, ein Leben – ganz dem protestantischen Geist verpflichtet – in Sparsamkeit. Daß Tilman eine glückliche Kindheit verbrachte, den Eltern Dank schuldet, dazu bekennt sich der Sohn und freie Journalist immer wieder. Dieses Zu-Dank-verpflichtet-Sein wird um so mehr deutlich, wenn Tilman den Verfallensprozeß in aller Detailgenauigkeit nachzeichnet, einen langsam, aber kontinuierlichen Prozeß, der letztendlich in der Sprach- und Schriftlosigkeit des Vaters endete, einen Krankheitsverlauf, der mit Höhen und Tiefen mittlerweile einen Zeitraum von fünf Jahren umspannt. Die Ängste um Walter Jens, das stückweise Verfallen, die Unruhe und innerliche Angst, das „distanzlose Verhalten“, wie es oft heißt, die den erfolgsverwöhnten Rhetoriker und intellektuellen Gedächtniskünstler ab 2004 immer mehr befiel, kommen dabei keineswegs im Stil der Abrechung einher, eben jener von den Medien unterstellten Häme gegen den übergroßen Vater, der nun in seiner Demenz nochmals zur Medienfigur ohne Willen stilisiert wird, sondern tatsächlich als ein Abschied von einem Vater, der nun ein anderer geworden ist. Es ist der Abschied von einem großen Intellektuellen, für den Fontanes Maxime, „Wer am besten redet, ist der reinste Mensch“, zum geflügelten Wort wurde, und mit dem nunmehr keine Kommunikation mehr möglich ist. Seine Tobsuchtsanfälle, seine Gereiztheit, seine Unlauterkeit und Aggressivität – all dies findet Eingang im Buch, doch nicht als Anklage, sondern als phänomenologische Beschreibung dieses Krankheitsbildes.
Ein Leben in Demenz und Zeitvergessenheit, in unbestimmter Leere und geistiger Apathie – vor diesem hatte sich Walter Jens immer gefürchtet, dieses war ihm der größte Alptraum, geistverloren in einer Kleinstadt umherzuirren, bekannt, allzu bekannt. Daß sich Jens in schwierigen Lebenszeiten immer wieder in psychologische Behandlung begab, daraus hat er nie Hehl gemacht, waren doch die Geistesgrößen von Rang, zu denen er sich zweifellos zählte, mehr in der Psychiatrie als das sie sich im wirklichen Leben aufhielten. Auch die fast metaphysische Kraft der Psychopharmaka hatte Walter Jens nachhaltig verklärt, so in einem Spiegel-Gespräch aus dem Jahr 1998, als er bekannte, daß die neuen Medikamente keineswegs Teufelszeug, sondern Gottesgeschenke seien. Nur, daß ihn dieses Schicksal selbst einholt, dies hat er zwar geahnt, aber nicht daran geglaubt. Er selbst wollte, wie einst Sokrates, reflektierend, bei vollem Bewußtsein, dem Tod gegenübertreten. „Ich will sterben – nicht gestorben werden“. Diese Angst vor der Ohnmacht, sich selbst ein Ende zu setzen, hat er immer wieder thematisiert – auch mit seinem Weggefährten, dem Theologen Hans Küng, exemplarisch in ihrem Buch mit dem Titel Menschenwürdig sterben, das 1995 erschienen ist. Dort heißt es: „Darf ich nach einem selbstbestimmten Leben nicht auch einen selbstbestimmten Tod haben, statt als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas zu sterben, das nur von fernher an mich erinnert? Und dieses letzte Bild wird bleiben und überdauert für die Nachfahren auf lange Zeit die Impressionen, da ich ein ‚Ich’ und kein ‚Es’, ein denkendes Wesen und kein zuckendes Muskelpaket war, kein Drahtmensch, sondern ein Wesen, dessen Stolz vielleicht in seiner Schwäche bestand – aber einer bedachten und eingestandenen Schwäche.“ Oder 1996: „Ich glaube nicht, daß derjenige, der am Ende niemanden mehr erkennt von seinen nächsten Angehörigen, im Sinne des Humanen noch ein Mensch ist. Und deshalb denke ich sollte jeder bestimmen können, dann und dann möchte ich, daß ich sterben darf.“
Etwas unbeholfen und gar nicht zur Thematik von Demenz und aktiver Sterbehilfe paßt der zweite Teil des kleinen Büchleins, der sich mit der Partei- und NSDAP-Zugehörigkeit von Walter Jens beschäftigt. Die These des Sohnes, daß sich der Vater nach dem Bekanntwerden einer möglichen Parteizugehörigkeit, die ihm als 19-Jährigen widerfuhr, zum Anlaß nahm, um in die Demenz zu flüchten, scheint absurd. Der sich über viele Seiten hinziehende Vorwurf, daß der ansonsten unangepaßte und radikale Gegner des Naziregimes Walter Jens dieses Stück jugendlicher Vergangenheit bewußt verschwieg, mag seinen Sohn belastet haben und hat mit Sicherheit auch das sonst freundschaftliche Miteinander in einem fragwürdigeren Licht erscheinen lassen; fraglich ist nur, wozu die ganze Diskussion, in der man viel über die NS-Vergangenheit Deutschlands literarischer Elite erfährt, zur sonst überzeugend geschilderten Thematik der Demenz überhaupt etwas beiträgt. Ob hierbei ein Stück weit mit der möglichen NS-Vergangenheit von Walter Jens gepokert wird, um das Buch tatsächlich medienwirksamer zu machen, läßt sich schwer abschätzen.
Überzeugender gerät der dritte Teil, der wieder ganz auf die Demenzthematik hinlenkt. Hier wird ganz deutlich: Mehr als die mögliche NS-Vergangenheit irritiert Tilman Jens sein Schweigen über den dramatischen Krankheitsverlauf. Zu einer Zeit, wo er seinen Vater über die krankheitsbedingten Folgeerscheinungen seiner vaskulären Demenz (von Durchblutungsstörungen im Gehirn ausgelöst) noch hätte informieren können, damit dieser dann seinen Notfallplan einer assistierten Sterbehilfe noch hätte einleiten können, beschwichtigt er, kneift und hat letztendlich nicht den Mut, die Wahrheit zu sagen, säet falsche Hoffnungen. Dieses lange Schweigen sicherlich ist es, das Tilman Jens am meisten belastet, und diese Belastung nimmt man ihm ab, sie ist keineswegs inszeniert. Für den Ernstfall hatte Walter Jens, wie einst Sigmund Freud mit seinem Doktor Max Schur, vorgesorgt, intensive Gespräche mit seinem Arzt geführt, der ihm dann auf Wunsch die tödlichen Medikamente besorgen wollte und sollte. Zum richtigen Zeitpunkt geschwiegen zu haben, dies ist die Pein, die Tilman Jens quält. „Mein Vater aber ist nicht eben vorbereitet in dieses Abenteuer hingeschliddert.“ […] „Aber wir hätten Abschied nehmen können, Bilanz ziehen einer über 50jährigen Vater-Sohn-Geschichte, die für mich, das hätte ich Dir gern noch einmal gesagt, meist um einiges einfacher war, als das mir viele einreden wollten.“ […] „Du bist dement. Dieser Satz hätte genügt. Hätte und wäre – Ausflüchte im Konjunktiv. Es hat nicht sollen sein. Wir haben ihn nicht eingeweiht in seine Krankheit.“
Angesichts der sich permanent verschlechternden Situation von Walter Jens wird auch immer wieder die Frage nach der aktiven Sterbehilfe gestellt, endlich dem in wachen Momenten geäußerten Wunsch um einen gnädigen Tod nachzukommen. In lichten Momenten, darüber spricht das Buch auch, äußert sich auch sein ambivalentes Verhältnis zum Tod. Walter Jens’ Todesbejahung einerseits, „Ich hätte schon längst tot sein sollen“ und „Nun ja, es muss ja nicht gerade heute passieren“ und „Aber schön ist es doch“ andererseits bleiben aber abstrakt, zeigen jedoch, daß der Kranke in irgendeiner Form über seinen Zustand „reflektiert“. Je mehr Walter Jens, so der Sohn, seinen Verstand verlor, so mehr zögerte er, den eigenen Thesen über ein menschenwürdiges Sterben zu folgen.
Und immer wieder stellt sich die Frage, auch für den Sohn, auch für seine Frau Inge, ob der derzeitige Zustand des Vaters und Ehemanns noch lebenswürdig sei, ob man ihm, wenn man ihm diesem Wunsch nicht erfüllt, ein übergroßes Leid antut, vor dem er sich ein Leben lang bewahren wollte. Wie sehr diese Entscheidung immer wieder im Raume stand, jenes schwere Ringen – auch dies nimmt man Tilmann Jens ab, ebenjenes Ringen, das in Deutschland allein täglich millionenfach stattfindet, denn der Umgang mit der Demenz ist nicht nur ein Thema vieler Angehöriger hierzulande, sondern die Zahl der Fälle wird bei zunehmender Veralterung der Gesellschaft steigen. Auf diesen Befund aufmerksam zu machen, ein von der medialen Welt oft gemiedenes Thema aufzugreifen, es problembewußt zu reflektieren, darin kann man die Leistung von Tilman Jens Buch sehen.
Wie aber handeln? Auch hierauf versucht das Buch eine Antwort zu geben. Im Angesicht des „Aber schön ist es doch“ verbietet sich die aktive Sterbehilfe. „Redet so einer, der zum Sterben entschlossen ist? […] Ein Zwar-ist-es-schrecklich-aber-schön-ist-es-manchmal-noch-immer ist keine Grundlage, um einen schwerkranken Mann aus der Welt zu schaffen. Solang er noch einen Hauch jener Freude verspürt, die er einst als das zentrale Lebenselixier beschrieb, und er vor allem keine physischen Schmerzen ertragen muss, kann ich ihm seinen Todeswunsch, den er hat – aber eben auch nicht! – schwerlich erfüllen. Ich darf es nicht tun. Nicht einmal helfen.“ Auch das Wegsperren in die Psychiatrie, weil die Belastung emotional zu groß für alle Beteiligten ist, erweist sich als enorme physische und psychische Belastung für Walter Jens, der darauf emotional reagiert: „Ich werde hier gehalten wie ein Hund“, „Was habe ich Böses getan, Wie lange muß ich hier bleiben?“, „Wann kommst Du wieder?“.
Einzig Trost verschafft in der ausweglosen Situation, die aber keineswegs so ausweglos ist, weil Walter Jens in seinem neuen Leben Glücksmomente verspürt, die der Sohn genau registriert, die fürsorgende Aufopferung einer im Hause Jens neu angestellten Pflege- und Betreuungsperson, die sich aufopfernd um den Kranken kümmert, die ihn nimmt, wie er ist. „Binnen weniger Tage ändert sich das Leben meines Vaters von Grund auf. Er hat nun einen neuen höchst emotionalen Bezugspunkt. Eine Gefährtin, die nicht notgedrungen traurig ist, weil die vertrauten Gespräche, die Fundament einer langen Ehe waren, verstummt sind, sondern den Kerl, so wie er ist, ganz einfach gern hat. Lang schon gehen die beiden wieder spazieren. Wenn er auf der Straße gegrüßt wird, dann strahlt er. [..] Sieht so ein Leben aus, das – wie er einst dachte – im Sinne des Humanen keines mehr ist? […] Ich habe meine Zweifel.“
Wie Stella Braam in ihrem Buch Ich habe Alzheimer, Wie die Krankheit sich anfühlt plädiert Tilman Jens für das dort angesprochene Juliana-Modell und fordert mit Nachdringlichkeit, daß diese Privatpflege auch in Deutschland zum Standard wird. Einen Weg in diese Richtung ist Tilman Jens mit der Nachzeichnung der Krankenakte von Walter Jens schon gegangen, nun müssen ihn andere weitergehen
Auch Hans Küng, der alte Weggefährte, der nur drei, bis vier Gehminuten entfernt wohnt, hat in der FAZ im Februar – im Hinblick auf die vielen Besuche im Hause Jens – erneut die Frage nach einem würdigen Tod gestellt und auf das „Recht, nicht leiden zu müssen“, hingewiesen. Die Ehrfurcht vor dem Leben als Grundelement eines Menschheitsethos gilt vom Anfang des Menschenlebens bis zu seinem Ende. Zum Leben des Menschen gehört aber auch das Sterben, das wie das Leben menschenwürdig sein soll. Im Falle seines Freundes kommt aber auch für Küng eine aktive Sterbehilfe nicht in Frage. Nur: Die Gesellschaft muß sich intensiver mit diesen Fragen beschäftigen, so der Appell an Mediziner, Juristen, Philosophen und Theologen.