Edmund Nierlich: Literarische Gemeinschaftshandlungen. Konstruktion einer empirisch-literaturwissenschaftlichen Erklärungstheorie. Frankfurt (Peter Lang): 2008. 183 S. Kart. EUR (D) 36.90. ISBN – 978-3-631-56419-6.
Hinter dem spröden Titel und einem ebenso asketischen Layout verbirgt sich ein durchaus brisanter Beitrag zur Selbstbesinnung der Literaturwissenschaft. Er betrifft deren Gegenstand und Methode, vor allem aber ihre gesellschaftliche Legitimität. Nierlichs Vorschläge sind radikal. Sie nehmen die Überwindung im weitesten Sinne „hermeneutischer“ wie „phänomenologischer“ Betrachtungsweisen von Literatur ins Visier. Textzentrierte Methoden sollen desavouiert werden, darüber hinaus auch solche rezeptionsästhetischen Zugangsweisen, die auf den individuellen Leser abheben; nicht umsonst ist von „literarischen Gemeinschaftshandlungen“ die Rede.
Edmund Nierlich führt verschiedene Wissensgebiete zusammen: Soziologie, Pädagogik, Literaturgeschichte, Wissenschaftstheorie und Logik. Weiters ist ein entschieden politischer Einschlag festzustellen, mit starkem Akzent auf 'linkem', emanzipatorischem Gedankengut. Nierlich bezieht rigoros Stellung gegen den seines Erachtens wesentlich autoritären Gestus real existierender Literaturwissenschaft und -didaktik. Als methodisches Fundament seiner Erwägungen dient neben umfänglichen wissenschaftstheoretischen Ressourcen zwischen Stegmüller und Thomas Kuhn, Tarski, Marx und Kant der amerikanische Pragmatismus: Wie Henry James zu Nierlichs bevorzugten Forschungsgegenständen zählt, gibt William James einen ideellen Orientierungspunkt ab. So heißt es, durchaus im Sinne des amerikanischen Pragmatismus, von Wissenschaft: „Ein angenähertes Bild einer empirischen Realität erstellt sie [...] nicht, sie verändert aber unsere Wirklichkeit.“ (S. 9)
Die ausgeprägte Präferenz fürs Angelsächsische (samt vielfältiger Digressionen in die Geistesgeschichte der anglophonen Länder) verleiht der Untersuchung einen gewissermaßen idiosynkratischen Zug. Diese Feststellung ist aber zweifach zu relativieren: Zum einen führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass Wissenschaftstheorie seit der Emigration des Wiener Kreises 1938 in erster Linie in englischer Sprache und an amerikanischen wie englischen Universitäten stattfindet. (Ganz ähnlich, wie im Umkreis poststrukturalistischer Philosophie französische Sprache und Mentalität dominieren.) Zweitens ist Nierlich durchaus gewillt, wo es geboten scheint, kontinentale Autoren einzubeziehen. Dies betrifft selbstredend Ludwig Wittgenstein, gleichsam das Bindeglied zwischen kontinentaler und angelsächsischer Wissenschaftskultur, darüber hinaus aber u. a. Roman Ingardens Arbeiten zur Ontologie des Kunstwerks. Sie haben nachhaltig auf die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik eingewirkt, im angelsächsischen Raum allerdings werden sie weitgehend ignoriert.
Die Gliederung der Literarischen Gemeinschaftshandlungen ist auf Übersicht und Deutlichkeit abgestellt. Dies betrifft selbst Details, so die Entscheidung, die einzelnen Kapitel zu nummerieren, wie es aus akademischen Seminararbeiten und Qualifikationsschriften, nicht aber vom Gros literaturwissenschaftlicher Publikationen, vertraut ist. Das ist gewiss nicht schick, aber nützlich und Ausweis einer sachlichen, uneitlen Haltung. Besonders zu würdigen ist Nierlichs Bemühen, zentrale Begriffe seines Vokabulars zu definitorischer Klarheit zu führen und über jede Etappe der Argumentation sorgfältig Rechenschaft zu geben. Der Lesefluss gerät dadurch immer wieder ins Stocken, solcherlei Unterbrechungen sind aber nützlich: zur Selbstvergewisserung des Autors wie Lesers. Schließlich sei festgehalten, dass Nierlich sich trotz seines weitreichenden Anspruchs nicht zur Polemik hinreißen lässt. Hier wird grundsolide wie detailgenau argumentiert – und in bemerkenswerter Dichte, denn 160 Seiten sind nicht viel für ein derart ambitioniertes Unternehmen. Nicht auf große Worte hat es der Autor abgesehen, sondern auf die Feinmechanik des Arguments. Gewisse Sprödigkeiten des sprachlichen wie visuellen Erscheinungsbilds sind so gesehen durchaus am Platze.
Das Vorwort exponiert Nierlichs zentrale Fragestellung: Weil Texte keine empirischen Gegenstände sind – „es sei denn, man nähme unsinnigerweise bedruckte oder beschriebene Blätter für diese“ (S. 7) –, können Texte nicht Gegenstand empirischer Wissenschaft sein. Wenn sich Literaturwissenschaft als Erfahrungswissenschaft begreift, muss ihr ein anderer Gegenstandsbereich geschaffen werden. Aber: „Alle bisherigen Antworten auf diese Frage [...] sind zumindest mehrdeutig oder vage.“ (Ebd.) So wird die Konstruktion des Gegenstands einer empirischer Wissenschaft im Allgemeinen und einer empirischen Literaturwissenschaft im Besonderen zur leitenden Fragestellung.
In diesem Zusammenhang wirft Nierlich die Frage auf, wie sich empirische Wissenschaft auf ihren Gegenstand zu beziehen habe. Eine marktgängige Antwort lautet: Sie habe Eigenschaften des Gegenstands zu 'erklären'. Was unter 'Erklärungen' zu verstehen sei, ist aber umstritten. Zu Recht weist der Autor auf eine Feststellung Joseph D. Sneeds hin, die noch nach vierzig Jahren gültig scheint: „[...] necessary conditions for something being an explanation are not hard to come by, but sufficient conditions elude us“ (S. 10).
Nierlich schlägt nun vor, Wissenschaft konsequent pragmatisch zu deuten, als „gesellschaftliche Teilpraxis“. Damit verschiebt sich ihr Zuständigkeitsbereich: Wissenschaft soll nicht „Objekte empirischer Wahrnehmung“, sondern „problematische Gegebenheiten der Praxis“ erklären – diese bilden ihren Gegenstand –, und zwar „zum Zwecke der Verbesserung einer praktischen Fähigkeit“ (S. 13). Diese Deutung weist einen wesentlichen theoriestrategischen Vorzug auf: Nicht, dass sie die Frage, was 'Erklären' sei, abschließend beantworten könnte. Nierlichs Vorgehen ist subtiler und radikaler zugleich: Es besteht platterdings keine Notwendigkeit, diese Frage zu klären. Die Idee, es müsse möglich sein, ein für alle Mal anzugeben, was 'Erklären' sei, scheint Nierlich, gut pragmatisch, diskreditiert: Die Vielfalt gesellschaftlicher Zwecksetzungen, denen wissenschafliche Praxis sich ein- und unterzuordnen habe, lässt es müßig erscheinen, einen allgemeinen, gehaltvollen Begriff des Erklärens eruieren zu wollen; stattdessen seien in je unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche, durchaus provisorische Definitionen zu bilden. Kurzum: Das Problem des Erklärens wird, eleganterweise, nicht gelöst, sondern 'aufgelöst'.
Mag es vielerlei 'Erklärungen' geben – von Beliebigkeit kann keine Rede sein. Begriffliche Setzungen empirischer Wissenschaft sind am Kriterium gesellschaftlichen Nutzens zu messen. Die Konstruktion der Literaturwissenschaft geschieht in einem 'politischen' Horizont: nicht durch politische Institutionen, wohl aber durch Wissenschaftler in ihrer Eigenschaft als 'citoyens':
„Bewertungskompetenz aller als Leser in ihrer Freizeit am literarischen Leben Teilnehmenden sollte im Unterricht allgemein bildender Schulen gelehrt werden unter dem Globalziel einer emanzipatorischen Heranbildung möglichst selbstbestimmter und ihre demokratischen Möglichkeiten optimal nutzender Individuen. Und zur Verbesserung dieser Fähigkeiten sollte eine empirische Literaturwissenschaft Gesetzeswissen bereitstellen, das praktische Probleme lösen hilft“ (ebd.). Mit diesem kompromisslosen Plädoyer für eine politisch in Dienst genommene Literaturwissenschaft ist nun ein Hauptangriffspunkt der Kritik beschrieben. Nicht viele Leser werden geneigt sein, die Autonomie der Kunstsphäre daranzugeben, am wenigstens solche, deren Sozialisation nicht in die sechziger und siebziger Jahre fällt. Und jene, die sich mit Nierlichs heteronomer Bestimmung der Kunst im Grundsatz einverstanden erklären, werden deren politische Tendenz vor dem Hintergrund eines emphatischen Begriffs von 'Bildung' nicht sämtlich gutheißen wollen.
Auch Nierlichs Begriff der Praxis wird Widerspruch aufrufen. Dieser wird nicht im ursprünglichen griechischen Sinne gedeutet, als Tätigkeit, die in sich selbst ihr Genügen findet, sondern, kaum überraschend, politisch. Die Institution Literaturwissenschaft rechtfertigt sich als Mittel zu emanzipatorischen Zwecken: „Mein wissenschaftstheoretisches Konzept mag Literaturwissenschaftlern mit anderen Positionen etwa der Hermeneutik oder der Phänomenologie befremdlich erscheinen. [...] Der Weg einer methodischen Neuorientierung soll letztlich im Dienste einer emanzipatorischen Heranbildung möglichst selbstbestimmter Leserinnen und Leser von Literatur in einer demokratisch verfassten Gesellschaft beschritten werden.[...] Keinesfalls aber darf sich eine empirische Literaturforschung in den Dienst politischer oder wirtschaftlicher Medienmanipulation stellen lassen“ (S. 7f). Dies ist eine vergleichsweise bodenständige, konkrete Literatur-Politik – gemessen an Cultural Studies, Gender Studies oder dem diffusen 'Macht'-Begriff der Foucault-Agamben-Schule. Was „Emanzipation“ aber im Einzelnen bedeutet, was „Demokratie“, welcherlei politische oder ökonomische Einflussnahme auf Forschung als „manipulativ“ zu gelten hat, muss im gegebenen Rahmen offen bleiben. So bleiben politische Stellungnahmen wie diese gleichsam unausgewiesen: „Nicht ohne Grund war die neuere Literaturwissenschaft bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein also vorwiegend eine 'Interpretationswissenschaft' und eine konservative dazu, welche mittels Interpretationsautoritäten an den Hochschulen (und in nachahmender Form an den Schulen) der Konservierung tradierter Wertvorstellungen im Interesse einer konservativen gesellschaftlichen Führungsschicht betrieb“ (S. 113f). Wenn man Nierlich folgt, hat die Studentenbewegung den Literaturunterricht aus den Zwängen reaktionärer Indienstnahme befreit. So gesehen ist Literarische Gemeinschaftshandlungen eine selbstbewusste, erfrischend 'altmodische' Stellungnahme zur aufgeregt geführten Debatte um 1968 und die Folgen. (Wohltuend differenziert fallen des Autors Einlassungen zum Problem des literarischen Kanons aus: Auch ein 'linker', emanzipatorisch ambitionierter Literaturunterricht kommt nicht umhin, eine Auswahl unter Primärtexten zu treffen, wenngleich unter anderen Kriterien als der „konservative“ Unterrichtsbetrieb. Solche normierenden Eingriffe können aber nicht der Wissenschaft anheimgestellt werden.)
Um schließlich ein nahe liegendes Missverständnis auszuräumen: Edmund Nierlichs Plädoyer für exoterische, demokratisch sich ausweisende Zugänge zur Literatur schließt keine Präferenz für triviale, naiv inhaltsbezogene Lesarten ein. Im Gegenteil: „[...] so besteht zwar ein verlegerisches Interesse, möglichst spannende oder anrührende Erzählungen zu vermitteln [...], aber den Zielen der [...] literarischen Gemeinschaftshandlung insgesamt zuwiderlaufen kann. An dieser Stelle ist die literarische Kooperation zwischen Lesern und Autor durch Kitsch oder Kolportage sogar gefährdet“ (S. 158). Nierlich schränkt allerdings ein, dass „mit sprachlicher Manier eine Grenze der literarischen Kooperation überschritten“ werden kann (ebd.). Radikale Avantgarde läuft Gefahr, der Hermetik zu verfallen.
Wer Edmund Nierlichs pragmatische wie politische Voreinstellungen teilt, wird von der sorgfältigen begrifflichen Analyse der Literarischen Gemeinschaftshandlungen profitieren. Ob es gelingt, jene Leser ins Einverständnis zu ziehen, die solcherlei Affinitäten entbehren, ist allerdings fraglich. Die Schwierigkeit dieses Projekts liegt nicht so sehr darin, dass Nierlichs Erwägungen im Einzelnen anfechtbar wären – in der Form des Arguments ist diesem Autor wahrlich nicht am Zeug zu flicken –, sondern in den Prämissen, die wenig konsensträchtig scheinen. Nierlichs Zugriff auf Literatur ist recht besehen nicht einmal anti-hermeneutisch oder anti-phänomenologisch. Er steht quer zu diesen Zugangsweisen: Die 'Grenzen der Verständigung' sind erreicht. Zumal die karge rhetorische Form und mangelnde Fürsorge für solche Leser, die nicht so sehr überzeugt, sondern überredet werden wollen, könnte zur Folge haben, dass diesem wertvollen Beitrag zur Aufklärung über Literatur und deren Wissenschaft und Didaktik die gebührende Anerkennung versagt bleibt.
Freilich: 'Wissenschaft', die nicht den Widerstand sucht, wäre nicht würdig, sich so zu bezeichnen. Edmund Nierlich kann wenig mehr tun, als den Leser einzuladen, seinen „Ansatz zur Bereicherung und Weiterentwicklung des Fachdiskurses in konstruktivem Austausch zu diskutieren“ (S. 7).