Bekannt ist er vor allem als ehemaliger „Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“: Zehn Jahre leitete Joachim Gauck die umgangssprachlich oft nur als „Gauck-Behörde“ bekannte Bundesbehörde. Der gebürtige Rostocker studierte Theologie und war Jahre lang als evangelischer Pfarrer tätig. Schon in seiner Jugendzeit trat der spätere „Revolutionspfarrer“ der Wendezeit, Mitbegründer des Neuen Forums sowie Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer in Opposition zum Sozialismus und zur Diktatur der DDR. Heute leitet der überzeugte und parteilose Demokrat den Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Aus Anlass des 19. Jahrestages des Mauerfalls vom 9. November 1989 sprach Constantin Graf von Hoensbroech mit dem 68-Jährigen.
„Gegen Vergessen - Für Demokratie“ heißt der Verein, dem Sie vorsitzen. Eigentlich ein schönes Anliegen, und doch stimmt andererseits sehr nachdenklich, dass es offenbar einen solchen Verein geben muss...
Natürlich wäre es schön, wenn wir unseren Vereinszweck einmal so weit erreichen würden, dass wir den Verein auflösen können. Aber bleiben wir Realisten. Es bleibt eine dauernde Aufgabe aller entschlossenen Demokraten wie es eben die Vereinsgründer sind, auf jede Art von Diktatur zu reagieren und unseren Beitrag vor allem zur Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen zu leisten.
Der seit Jahren zu beobachtende vielfach sorglose und geschichtsverfälschende Umgang mit der zweiten deutschen Diktatur erinnert mich an den Ausspruch von Joseph Wulf, einen längst verstorbenen Auschwitz-Überlebenden: „Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“
Dieses Zitat ist sehr treffend, weil es ein sehr wichtiges Phänomen wiedergibt, das mich selbst Jahre lang ratlos gemacht hat: Die Aufarbeitung der Vergangenheit, besonders die mit Schuld behaftete, findet nicht als ein kathartischer Prozess statt. In der Regel stehen zwei Sichtweisen und Traditionen, nämlich die der Opfer und die der Täter, nebeneinander. Die Opfer wissen um die kriminelle Energie einer Diktatur und nennen eine Diktatur Diktatur. Bei den Tätern und vielen Mitläufern werden erstmal die Fakten in Frage gestellt oder geleugnet, die Motive geschönt und mit Sprüchen wie ,Wenn das der Führer oder Stalin oder Honecker gewusst hätte’ wird Unrecht relativiert. Erst im nächsten Schritt werden Fakten dann nicht mehr geleugnet und es kommt nach und nach zu einer Wiedergewinnung und Anerkennung von geschichtlicher Realität. Erst im dritten Schritt erfolgt schließlich die wirkliche Annahme von Schuld, die Akzeptanz eigener Schuld. Und wenn das geschieht, wenn Scham und Trauer zugelassen werden, hat ein kathartischer Prozess eingesetzt – spät in der Regel. Diese Abfolge von verschiedenen Schritten beim Umgang mit der kommunistischen Diktatur in Deutschland ist in einem Großteil der ostdeutschen Gesellschaft längst noch nicht abgeschlossen.
Warum?
Da befinden sich viele noch in einem Denken wie in der alten Bundesrepublik Deutschland vor 1968. Es gibt im Osten ein Erinnern ohne Schmerzen, ein selektives Erinnern an die Kindergärten, an Vollbeschäftigung und andere Errungenschaften. Und schmerzhafte Erinnerungen wie beispielsweise die Beugung von Grund- und Menschenrechten, staatliches Unrecht, die nicht vorhandene Gewaltenteilung oder das Fehlen freier Gewerkschaften finden sich nur bei einem Teil der ostdeutschen Gesellschaft. Viele hüten sich, die Frage nach Schuld und eigenem Versagen aufkommen zu lassen.
Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit der alten Bundesrepublik bis 1968?
Man darf die 68er nicht idealisieren, aber auch nicht dämonisieren. In erster Linie sind es die Söhne und Töchter einer Generation, die die Frage nach der Schuld am und im Nationalsozialismus nicht gestellt hat und bewusst nicht stellen wollte. Wenn es ein Verdienst der 68er gibt, dann womöglich dieses, das sie die Schuldfrage dauerhaft auf die politische Agenda gesetzt haben. Das hat die politische Kultur und den gesellschaftlichen Diskurs völlig verändert und auch zu einem Sinneswandel geführt. Thesen, wie etwa die Unfähigkeit zu trauern, konnten auf einmal diskutiert werden. Und was das Spannende daran ist: Die Nation hat sich dadurch nicht verloren, sondern sie hat sich im Verhältnis zu ihren Nachbarn und auch zu sich selbst gestärkt. Wenn es im Johannes-Evangelium heißt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen “, so gilt das im politischen und zwischenmenschlichen Bereich genau so wie im religiösen.
Wenn ich Ihre Ausführungen nun auf die Wendezeit 1989/90 projiziere, verstehe ich Sie so, dass eine Aufarbeitung der Vergangenheit damals schneller eingesetzt hat.
Richtig. Der Schlussstrich, den viele in der Adenauer-Ära gern unter die NS-Zeit gezogen hätten, ist durch 1968 nicht gezogen worden. Das ist meines Erachtens auch ein entscheidender Grund dafür, dass nach 1989 unter die DDR-Vergangenheit auch kein Schlussstrich gezogen wurde und der Prozess der Aufarbeitung rasch eingeleitet worden ist. Einen Schlussstrich kann und wird es nicht geben, auch weil Deutschland weltweit die ausgeprägteste und subtilste Erinnerungslandschaft, bezogen auf die eigene Vergangenheit, aufgebaut hat.
Wie sollte sich Ihrer Ansicht nach die Erinnerungskultur ganz praktisch darstellen?
In drei Schritten. Erstens geht es um das Sichern und Publizieren von Fakten. Die Akten einer Diktatur sind die Apotheke gegen Nostalgie. Dazu bedarf es offener Archive ebenso wie adäquater personeller und finanzieller Ausstattung für Wissenschaft und Forschung. Und dazu gehören dann auch die Museen, Gedenkstätten, Mahnmale und Dokumentationszentren. Zweitens sollten konkrete und verbindliche Ausbildungsziele für die Schulen formuliert werden. In den Curricula müssen die Daten und Fakten über beide deutsche Diktaturen festgeschrieben werden. Vielfach endet der Geschichtsunterricht mit dem Ende der NS-Zeit. Das ist ähnlich wie in der Schulzeit nach dem Nationalsozialismus, als der Geschichtsunterricht auch lange vor der NS-Diktatur endete. Und drittens müssen beispielsweise Journalisten oder bildende Künstler sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Durch ihr Tun sprechen sie die Menschen durch einen anderen Zugang an. Die erzählende und nacherzählende Form erreicht die Menschen eben anders als die dokumentierende oder lehrende. Denken Sie nur an Filme wie „Das Leben der Anderen“ oder auch die Fernsehserie „Holocaust“.
Welche Rolle kommt den beiden großen christlichen Kirchen in diesem Erinnerungsgefüge zu?
Zunächst werden sie tun, wozu sie gerufen sind: den Menschen die Glaubensinhalte und die Nächstenliebe nahe bringen. So können sie Menschen davor bewahren, falsche Götter anzubeten. Wer glaubt, kann leichter einen Kern entwickeln, aus dem Widerstand erwächst. Außerdem können sie dazu beitragen, im vorpolitischen Raum die Beziehung und Begabung des Individuums zur Freiheit zu intensivieren.
Im Westen scheint der Umgang mit Freiheit viel zu sorglos und selbstverständlich, im Osten entsteht mitunter der Eindruck, man fürchtet sich vor der Freiheit, statt die Chancen und Möglichkeiten zu sehen.
Der große Reiz der Freiheit ist dort verflogen. Wir sind aus dem Raum der Sehnsucht herausgetreten und in der Realität angekommen. Es darf aber nicht sein, dass das Spiel mit Ängsten und Sorgen die positive Beziehung zu Freiheit so verstellt, dass nunmehr die Frage der Sicherheit oder die Sorge um die persönliche Existenz auf möglichst hohem ökonomischen Niveau im Zentrum steht.
Ist es dieses Plädoyer für die Freiheit, die dem 9. November 1989 seine historische Bedeutung verleiht?
Der eigentliche Kulminationspunkt ist der 7. und 9. Oktober 1989 mit den Demonstrationen in Plauen und Leipzig. Der Freiheitswille vom Oktober, sein kraftvolles Motto ‚Wir sind das Volk’, die Tatsache, dass aus Untertanen plötzlich Bürger geworden sind, all das lässt die Mauer fallen. Das ist ein unglaubliches Geschenk der Ostdeutschen an die ganze Nation. Weil wir die Freiheit errungen haben, sind wir geeint und machen Unmögliches wie die Wiedervereinigung oder das Verschwinden der Machtblöcke möglich. Das muss immer wieder erinnert und verdeutlicht werden.
Gleichwohl gibt es derzeit eine politische Partei, die sich dem entzieht und damit offenbar viel Erfolg hat...
Die Linke wird sich überleben, wenn sie kein aufgeklärtes Geschichtsbild hat und sich der Nostalgie bedient. Mit dem Schüren von Ängsten und mit populistischen Versprechungen wird man nicht ewig Erfolg haben.
Ist es das Versagen der Bürgerlich-Konservativen, zu spät die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Linken gesucht zu haben?
Generell ist es doch so, dass in der deutschen Kultur und in den Feuilletons Gefahren von links eher weniger beachtet werden. Da ist man möglicherweise zu duldsam und hat die Demokratiedefizite der Linken zu wenig diskutiert oder deren Simplifizierungen wirtschaftlicher Zusammenhänge nicht beachtet oder deren Populismus unterschätzt. Andererseits: Die PDS oder jetzt Die Linke ist keine alte kommunistische Partei sowjetischer Prägung. Von ihren Mitgliedern und Wählern her ist das eine Mixtur unterschiedlicher linker Positionen. Es gibt übrigens auch eine Gruppierung innerhalb dieser Partei, die sich für die Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzt. Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich eben auch kommunalpolitische Bündnisse von Konservativen mit Linken erklären. Da geht es um pragmatische Zweckbündnisse und die bürgernahe Lösung von Problemen. Dies alles ändert für mich aber nichts daran, dass ich diese Partei für überflüssig halte.
Ist DDR-Nostalgie eine Gefahr für die Demokratie?
Aber selbstverständlich. Ostalgie verringert all das, was unsere Demokratie ausmacht. Durch selektives Erinnern, Bagatellisierungen und Leugnen droht die politische Urteilsfähigkeit bei der grundsätzlichen Unterscheidung von Diktatur und Demokratie verloren zu gehen.
Welche Rolle kommt den Stasi-Akten zu?
Die juristische Aufarbeitung ist eigentlich beendet, das meiste, außer Mord, ist verjährt. Es ist gut, dass es einen längeren Zeitraum als die ursprünglich vereinbarten und bereits abgelaufenen 15 Jahre gibt, in denen Personen für bestimmte Tätigkeiten hinsichtlich einer möglichen Stasi-Verstrickung überprüft werden können. Die weitere Zugänglichkeit der Akten muss darüber hinaus in der aktuellen und bewährten Form gewährleistet bleiben.
Gestatten Sie zum Schluss eine einfache, persönliche Frage an Joachim Gauck, dessen Biographie in so bewegender Weise einen Teil der deutsch-deutschen Geschichte widerspiegelt: Wie fühlen Sie sich heute?
Ich habe 50 Jahre lang unter Diktatoren gelebt. Das ist seit 1989 vorbei; ich bin glücklich und freue mich täglich, dass ich in Freiheit leben darf.
Der Verein im Internet: www.gegen-vergessen.de