Die Gottesgeburt im Seelengrund bei Meister Eckhart als Essenz neuplaton­ischer Philosophie und Triadik

Bernd Ehlert

(Coburg/Deutschland)

Stefan Groß hat die neuplatonische Triadik vom »In-sich-Bleiben«, »Aus-sich-Heraus­gehen« und »In-sich-Zurückkehren« bei den spätantiken Denkern Plotin (205-270 n.Chr.) und Pseudo Dionysios-Areopagita (um 500 n.Chr.) dargestellt, sowie ihren Einfluss auf den neuzeitlichen Idealismus besonders bei Hegel. Wie dort erwähnt begannen diese Fragen nach dem Einen oder Absoluten schon bei Platon und Aristoteles (ca. 300 v.Chr.), wurden vom spätantiken Neuplatonismus weitergeführt und hatten dabei großen Einfluss auf die christliche Philosophie etwa bei Boethius (480-524 n.Chr.), Scotus Eriugena (810-877 n.Chr.) und Nikolaus von Kues (1401-1464 n.Chr.).1

In dieser Aufzählung fehlt allerdings der Name Meister Eckhart (1260-1328 n.Chr.), der nicht nur für den heutigen Theologen Udo Kern „zu den herausragenden Gestalten nicht nur des hohen Mittelalters, sondern des westlichen Denkens überhaupt gehört“2. Eckhart selbst beabsichtigt nach seiner eigenen Aussage „die Lehren des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen“3, wobei Eckhart eindeutig der neuplatonischen Philosophie zuzu­ordnen ist. Die christliche Trinität wird bei ihm in seiner philosophisch-theologischen Auslegungsweise dabei nicht als Verhältnis realer über­natürlicher Götter und Personen wie im herkömmlichen Christentum verstanden, sondern, ganz im neuplatonischen Sinn, als bloße Metapher des möglichen be­sonderen Erkenntnisprozesses des Einen oder Absoluten im Seelengrund eines jeden Menschen. Bei diesem Vorgehen bringt Eckhart zudem noch die oft abstrakten, viel­fältigen und unanschaulichen neuplatonischen Begriffe und Vorstellungen (Seinshier­archie und Stufengliederung) auf den Punkt, auch im Sinne von Occam's Razor. Eckhart geht es nicht um eine alles erklärende Philosophie als festes Wissen, sondern einzig und allein in „großartiger Eintönigkeit“4 um den Kern der neuplatonischen Philosophie, nämlich den besonderen Erkenntnisprozess des Einen oder Absoluten, der wesenhaft nur als »In-sich-Bleiben« (Vater), »Aus-sich-Herausgehen« (Sohn) und »In-sich-Zurückkehren« (Heiliger Geist) möglich ist.

Durch die konsequente philosophische Auslegung des christlichen Gottesbildes in einer strikt negativen Theologie ermöglicht Eckhart desweiteren das Verständnis einer rein natürlichen Entstehung des Christentums als Verquickung jüdischen und griechischen Geistes. Durch Eckharts Auslegung wird nachvollziehbar, dass und wie nicht nur die christliche Gottessohn- oder Logosvorstellung, sondern auch der trinitarische Gottes­begriff ihre eigentlichen Wurzeln in der griechischen Philosophie haben.5 Eckhart legt diese rein natürlichen Wurzeln offen und damit gleichzeitig ein objektiven Wahrheits­kriterien genügendes Verständnis des Christentums. Dadurch ist Eckhart nicht nur seiner Zeit weit voraus und wird, wie es Ludwig Marcuse treffend ausdrückt, der „radikalste Entmythologisierer, lange bevor die >Entmythologisierung< erfunden wurde“ und „aufgeklärter als die Aufklärung“.6

Die Entmythologisierung und Umwandlung christlicher Vorstellungen in philosophische und erkenntnistheoretische bei Meister Eckhart

Eckhart benutzt gemäß der Tradition der negativen Theologie das herkömmliche personale christliche Gottesverständnis nur als Metapher für den göttlichen Erkenntnisprozess, da er auch dieses Bild zum eigentlichen Ziel hin, dem neuplatonischen „einigen Einen“, letztlich durchbricht und relativiert, wie an folgender Stelle:

Dies ist leicht einzusehen, denn dieses einige Eine ist ohne Weise und ohne Eigenheit. Und drum: Soll Gott je darein lugen, so muss es ihn alle seine göttlichen Namen kosten und seine personhafte Eigenheit; das muss er allzumal draußen lassen, soll er je darein lugen. Vielmehr, so wie er einfaltiges Eins ist, ohne alle Weise und Eigenheit, so ist er weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist in diesem Sinne und ist doch ein Etwas, das weder dies noch das ist.7

Auch der Weg dahin ist anders als im herkömmlichen Christentum. Der Weg führt nicht über die Moralität und die äußere Gottesvorstellung und -verehrung, sondern es ist als radikales „Ledigwerden“ des weltlichen Geistes ein Weg nach innen in den eigenen Seelengrund hinein. Folgende Worte Eckharts drücken das in Bezug zu dem herkömmlichen Religionsverständnis mit seinem äußeren Gottesbild klar und drastisch aus, wobei dieses Zitat auch als prägnante Kurzdarstellung seiner negativen Theologie verstanden werden kann:

Daher soll deine Seele allen Geistes bar sein, soll geistlos dastehen. Denn, liebst du Gott, wie er Gott, wie er Geist, wie er Person und wie er Bild ist, - das alles muss weg. ‚Wie denn aber soll ich ihn lieben?‘ – Du sollst ihn lieben wie er ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie er ein lauteres, reines, klares Eines ist, abgesondert von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts. Dazu verhelfe uns Gott. Amen.8

Aus dem nächsten Zitat ergibt sich, wie dieses Versinken „vom Etwas zum Nichts“ gemeint ist. Es ist keine emotionale Liebe, sondern betrifft nichts weniger als unsere fundamentalen Erkenntnisstrukturen, in denen wir die Welt erkennen, und die sind bei Eckhart identisch mit denen von Kant, nämlich die Anschauungsformen von Raum und Zeit. Diese fundamentalen Erkenntnis­strukturen relativiert Eckhart genau wie Plotin auf dem Weg hin zum Einen, wobei das bei Eckhart, wie es sich aus dem folgenden Zitat ergibt, direkt auch unser Kreatur-Sein betrifft, um das sich das herkömmliche Religionsver­ständnis dagegen in absoluter Weise allein dreht:

Nichts hindert die Seele so sehr an der Erkenntnis Gottes wie Zeit und Raum. Zeit und Raum sind Stücke, Gott aber ist Eines. Soll daher die Seele Gott erkennen, so muss sie ihn erkennen oberhalb von Zeit und Raum; denn Gott ist weder dies noch das, wie diese (irdischen) mannigfaltigen Dinge (es sind): denn Gott ist Eines.
Soll die Seele Gott sehen, so darf sie auf kein Ding in der Zeit sehen; denn solange die Seele der Zeit oder des Raums oder irgendeiner Vorstellung dergleichen bewusst wird, kann sie Gott niemals erkennen. Wenn das Auge die Farbe erkennen soll, so muss es vorher aller Farbe entblößt sein. Soll die Seele Gott erkennen, so darf sie mit dem Nichts nichts gemein haben. Wer Gott erkennt, der erkennt, dass alle Kreaturen (ein) Nichts sind. Wenn man eine Kreatur gegen die andere hält, so scheint sie schön und ist etwas; stellt man sie aber Gott gegenüber, so ist sie nichts.9

Über Kant hinaus gehört für Eckhart zu diesen fundamentalen Erkenntnisstruk­turen auch die des getrennten Seins. Das in und durch Raum und Zeit ge­trennte Sein gibt es nur in der Welt, nicht darüber hinaus, denn dort „ist“ Einheit und die „ist“ Gott, wobei aber Gott eben keine Person oder ein sonstiges „dies oder das“ der Welt ist. So sagt Eckhart:

Sage ich ferner: Gott ist ein Sein - es ist nicht wahr; er ist (vielmehr) ein überseiendes Sein und eine überseiende Nichtheit!“10
Ehe es noch Sein gab, wirkte Gott; er wirkte Sein, als es Sein noch nicht gab. [...] Ich würde etwas ebenso Unrichtiges sagen, wenn ich Gott ein Sein nennte, wie wenn ich die Sonne bleich oder schwarz nennen wollte. Gott ist weder dies noch das.11

Das „lautere, reine, klare Eine, abgesondert von aller Zweiheit“ wird bei Eckhart durch das Durchbrechen unserer grundlegenden Erkenntnis vollzogen, in der wir nicht nur das „Dies und Das“ der Welt erkennen, sondern auch uns selbst.

Die philosophische Einordnung Meister Eckharts

Unser heutiges Selbst- und Weltverständnis wird durch den Realismus dominiert, sowohl in der modernen Naturwissenschaft als auch in der Philosophie und Religion. Die von uns erkannte Welt wird darin in ihrem Sein als unabhängig von unserer Erkenntnistätigkeit verstanden, d.h. wir verstehen unsere Erkenntnistätigkeit als Abbildungsfunktion, wobei das Erkannte eben unabhängig vom Erkennenden und der Erkenntnis und somit real und an sich existiert.

Dieser Realismus hat sich in der modernen Naturwissenschaft allerdings von einem naiven zu einem hypothetischen Realismus gewandelt. Der naive Realismus unterscheidet nicht zwischen unserer Erkenntnistätigkeit und der realen Welt, d.h. im naiven Realismus ist die Erkenntnis eine reine Abbildung und die abgebildete reale Welt daher genauso beschaffen, wie wir sie wahr­nehmen, also das Blatt eines Baumes etwa ist wirklich grün und allgemein sind die Farben bzw. alle anderen Eigenschaften der Welt real und unabhängig von unserer Erkenntnis „da“. Heute ist dagegen durch die naturwissenschaftlichen Fortschritte, zuletzt besonders in der Neurobiologie, anerkannt, dass viele unserer Wahrnehmungen wie etwa die Farben nicht real und unabhängig vom Erkennen vorhanden sind, sondern im Erkenntnisprozess erst geschaffen oder „konstruiert“ werden. Man nimmt hierbei jedoch allgemein an, dass das nicht für alle Erkenntnisse gilt (denn das wäre dann der sogenannte Radikale Konstruktivismus) und so zumindest die Grundstrukturen der Welt, insbe­sondere Raum, Zeit und Materie, real vorhanden und nicht erst im Erkennen konstruiert sind. Diese Annahme ist allerdings, wie es der Name der zugehörigen Theorie des hypothetischen Realismus schon sagt, rein hypo­thetisch.

Es ist deswegen hypothetisch, weil sich zwar nachweisen lässt, dass viele unserer Erkenntnisse konstruiert sind, doch trotz der großen naturwissen­schaftlichen Fortschritte lassen sich die daneben vorausgesetzten realen Aspekte oder Strukturen unserer Welt nicht einmal in Ansätzen als solche bestimmen und damit auch nicht von den als konstruiert erkannten unterscheiden. Für den Wissenschaftstheoretiker Gerhard Vollmer wird das sogar selbst im Falle einer eventuellen perfekten Erkenntnisfähigkeit oder eines zukünftigen perfekten Erkenntnisapparats weiterhin gelten, d.h. wie gut unsere Erkenntnisse die Wirklichkeit treffen, ist und bleibt ihm nach grundsätzlich unbekannt und es wird damit nie ein sicheres Wissen über die eigentliche reale Welt geben, die er unbedingt voraussetzt.12 Das widerspricht aber insofern einem Realismus, da das, was real vorhanden ist, als solches grundsätzlich, wenn nicht gar sicher und einfach, zu erkennen und vom Nicht-Realen zu unterscheiden sein sollte.

Im antiken Neuplatonismus und neuzeitlichem Idealismus wird im Gegensatz zum heutigen Realismus davon ausgegangen, dass restlos alles, was wir erkennen, nur als in der Erkenntnis geschaffene oder konstruierte Erscheinung anzusehen ist. Das Reale (das es auch hier sehr wohl gibt!) oder die eigentliche Substanz wandert so in ein für uns und die Welt unzugängliches Jenseits (womit sich hier auf diese Weise die ungelöste Frage des heutigen Realismus klärt, warum das vorausgesetzte Reale in der Welt einfach nicht zu bestimmen und zu unterscheiden ist: Es ist in der Welt als solches gar nicht vorhanden, es hat dort kein Sein). Kant nennt dieses hinter den Erscheinungen Stehende das „Ding an sich“ und sagt darüber kurz und bündig:

Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.13

Bezüglich der im heutigen Realismus als real angenommenen Materie sagt Kant weiter darüber (was darin auch auf die heutigen Fortschritte und Erkennt­nisse in der Quantenphysik bezogen werden kann): „Ins Innre der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde“14. Doch selbst wenn uns in einer vollkommenen Beobachtung und Zergliederung „die ganze Natur aufgedeckt wäre“, so bleibt für Kant dasjenige, „welches der Grund dieser Erscheinung sein mag, die wir Materie nennen, ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch jemand sagen könnte“15.

In Hinsicht auf diese beiden konkurrierenden Philosophien und grundsätzlich verschiedenen Weltverständnisse, die darin auch als Aristotelismus und Platonismus unterschieden werden können, ist Plotin und der Neuplatonismus, wie es der Name schon sagt, dem zweiteren zuzuordnen. So ist für Plotin die Materie selbst anders als für die meisten früheren Platoniker nicht nur von dem überseienden absoluten Einen abhängig, sondern Plotin lehrt als erster überhaupt, dass die Seele auch die Materie erst hervorbringt. „Plotin deutet also die Weltschöpfung als die zeitlose Hervorbringung der gesamten erscheinenden Welt und der ihr zugrundeliegenden Materie durch die Seele“16. Genau das findet sich dann bei Meister Eckhart wieder, wenn er sagt:

Auch hätte Gott die Welt nie geschaffen, wenn Geschaffen-sein nicht mit Erschaffen eins wäre. Drum: Gott hat die Welt in der Weise geschaffen, dass er sie immer noch ohne Unterlass erschafft. Alles, was vergangen und was zukünftig ist, das ist Gott fremd und fern.17
Das reale Weltverständnis, in dem vor allem das Sein der Welt selbst einen festen Anfang in einer dadurch absoluten Zeit hat, spielt für Eckhart als Vorstellung eine gewisse Rolle, da alles Sein nur in dieser Ansicht existiert, doch das Eigentliche, Göttliche ist für ihn in dieser Perspektive nicht zu finden. So unterscheidet er diese beiden Perspektiven in Bezug auf das Wesen der Welt und gemäß dem Wissen seiner Zeit folgendermaßen:

Ich habe schon manchmal gesagt, Gott erschaffe diese ganze Welt voll und ganz in diesem Nun. Alles, was Gott je vor sechstausend und mehr Jahren erschuf, als er die Welt machte, das erschafft Gott jetzt allzumal. [...] Dort, wo niemals Zeit eindrang, niemals ein Bild hineinleuchtete: im Innersten und im Höchsten der Seele erschafft Gott die ganze Welt. Alles, was Gott erschuf vor sechstausend Jahren, und alles, was Gott noch nach tausend Jahren erschaffen wird, wenn die Welt (noch) so lange besteht, das erschafft Gott im Innersten und im Höchsten der Seele. Alles, was vergangen ist, und alles, was gegenwärtig ist, alles, was zukünftig so ist, das erschafft Gott im Innersten der Seele.18

Das eigentliche Anliegen und Ziel Meister Eckharts

Von der philosophischen Einordnung her ergibt sich nun das Anliegen und Ziel Eckharts. Wenn die gesamte Welt nicht in einem einmaligen Akt in einer dadurch absoluten Zeit, einem absoluten Raum und als dann reales Sein geschaffen worden ist, wie es uns als Wesen und Kreatur in dieser Welt erscheint, sondern die Welt als ein andauernder Schaffensprozess des Innersten des Geistes oder der Seele zu verstehen ist (die dann in ihrem Grund nicht mehr als individuell angesehen werden kann), so können „wir“, die wir ja mit all unseren Seins- und Erkenntnisstrukturen selbst erst ein Teil oder eine Folge dieses Schaffensprozesses sind, diesen nicht quasi von außen beobachten und erkennen. Dieser Schaffensprozess bleibt uns grundsätzlich verschlossen. Wie es Eckharts Schüler Heinrich Seuse zitiert, ist „die Natur des genannten einfachen Seins endlos, unermess1ich und unbegreiflich für alles kreatürliche Denken“19, und das gilt dann auch für das eigentliche Wirken dieses Einen oder Absoluten, nämlich das Hervorgehen von Welt und Sein daraus. Wir können uns nicht einmal vorstellen, dass die Welt in dieser geistigen Weise beschaffen sein soll, geschweige denn, dass wir es erkennen können.

Wenn wir direkt erkennen könnten, wie die Welt aus dem Absoluten bzw. dem Seelengrund hervorgeht oder wie sie mit diesem verbunden ist, würden wir genau darin auch etwas von dem Absoluten selbst erkennen, das so auch Teil der Welt wäre. Dann wären die Eigenschaften und Strukturen von Welt und Absoluten nicht mehr strikt getrennt und dadurch wäre es wieder ein Realismus und kein Idealismus mit einem unerkannt bleibenden Absoluten und auch keine negative Theologie.

Das eigentliche Anliegen und Ziel Eckharts ist daher viel einfacher. Wenn die von uns erkannte Welt nicht real und unabhängig von unserer Erkenntnis existiert, sondern vollständig aus dem Seelengrund hervorgeht bzw. im Erkennen geschaffen oder konstruiert wird, so besteht das Anliegen und Ziel Eckharts nicht darin, das zu erkennen, denn das ist nicht möglich, sondern einfach nur darin, diesen im Innersten des Geistes stattfindenden Prozess zum Aussetzen zu bringen. Das müsste, wenn denn die Welt in dieser geistigen Weise beschaffen ist, möglich sein. Das ist die Absicht Eckharts, wenn er etwa sagt:

Darum, willst du leben und willst du, dass deine Werke leben, so musst du für alle Dinge tot und zunichte geworden sein. Es ist der Kreatur eigen, dass sie aus etwas etwas mache; Gott aber ist es eigen, dass er aus nichts etwas macht. Soll daher Gott etwas in dir oder mit dir machen, so musst du vorher zu nichts geworden sein.20
Darum ist einzig der nur ein gerechter Mensch, der alle geschaffenen Dinge zunichte gemacht hat und geradlinig ohne alles Auslugen auf das ewige Wort hin gerichtet steht und darein eingebildet und widergebildet der Gerechtigkeit. Ein solcher Mensch empfängt dort, wo der Sohn empfängt und ist der Sohn selbst.21
Könntest du dich selbst vernichten nur für einen Augenblick, ja, ich sage, selbst für kürzer als einen Augenblick, so wäre dir alles das eigen, was es in sich selbst ist.22

In seiner beeindruckenden Armutspredigt geht es Eckhart nicht um eine äußere Armut, sondern um eine geistige Armut, einen wahrhaft armen und darin letztlich heiligen Geist. Willentlich kann der Mensch diesen Geist nicht erreichen:

Wenn einer mich nun fragte, was denn aber das sei: ein armer Mensch, der nichts will, so antworte ich darauf und sage so: Solange der Mensch dies noch an sich hat, dass es sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes erfüllen zu wollen, so hat ein solcher Mensch nicht die Armut, von der wir sprechen wollen; denn dieser Mensch hat (noch) einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genügen will, und das ist nicht rechte Armut. Denn, soll der Mensch wahrhaft Armut haben, so muss er seines geschaffenen Willens so ledig sein, wie er's war, als er (noch) nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht richtig arm. Denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt.23

Doch wenn der wahrhaft arme und darin heilige Geist verwirklicht ist, in dem nicht nur das eigene Sein, sondern auch das der ganzen Welt zunichte geworden ist, so geschieht darin das Göttliche für Meister Eckhart in einer gesetzmäßigen Weise, d.h. wenn die Dualität des geschaffenen und darin in Zeit und Raum getrennten Seins umfassend zunichtegeworden ist, auch das Sein des Erkennenden und sein Erkennen, dann „ist“ genau dadurch nur noch die Einheit eines Jenseitigen. Es ist im Grunde ein und derselbe Prozess und so sagt Eckhart darüber:

Ebenso sage ich von dem Menschen, der sich zunichte gemacht hat in sich selbst, in Gott und in allen Kreaturen: Dieser Mensch hat die unterste Stätte bezogen, und in diesen Menschen muss sich Gott ganz und gar ergießen, oder - er ist nicht Gott. Ich sage bei der ewigen und immerwährenden Wahrheit, dass Gott sich in einen jeglichen Menschen, der sich bis auf den Grund gelassen hat, seinem ganzen Vermögen nach völlig ergießen muss, so ganz und gar, dass er in seinem Leben, in seinem Sein, in seiner Natur noch auch in seiner ganzen Gottheit nichts zurückbehält: das alles muss er in befruchtender Weise ergießen in den Menschen, der sich Gott gelassen und die unterste Stätte bezogen hat.24
In diesem Ergießen geschieht die völlige Einheit des Göttlichen mit der zunichtegewordenen Seele, wobei das „ich“ im nachfolgenden Zitat nicht mit dem kreatürlichen Ich gleichgesetzt werden kann. Denn dieses ist ja gerade zunichtegeworden, zumindest in seinem Selbstverständnis als getrenntes Sein:

Du sollst ihn bildlos erkennen, unmittelbar und ohne Gleichnis. Soll ich aber Gott auf solche Weise unmittelbar erkennen, so muss ich schlechthin er, und er muss ich werden. Genauerhin sage ich: Gott muss schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott, so völlig eins, dass dieses »Er« und dieses »Ich« Eins ist, werden und sind und in dieser Seinsheit ewig ein Werk wirken. Denn, solange dieses »Er« und dieses »Ich«, das heißt Gott und die Seele, nicht ein einziges Hier und ein einziges Nun sind, solange könnte dieses »Ich« mit dem »Er« nimmer wirken noch eins werden.25

Eine unvollkommene Jenseits- oder Gotteserkenntnis

In der vorangegangenen Beschreibung oder philosophischen Spekulation kommt es durch das vollständige Zunichtewerden aller geschaffenen weltlichen Seins- und Erkenntnisstrukturen auf gesetzmäßige Weise zum Vollzug einer jenseitigen Realität, Substanz und Einheit. In und während dieser jenseitigen und darin seins-, zeit- und raumlosen Einheit kann nichts erkannt werden, denn Eckhart zufolge ist es „das verborgene Dunkel der ewigen Gottheit und ist unerkannt und ward nie erkannt und wird nie erkannt werden. Gott bleibt dort in sich selbst unerkannt.“26 Die Erkenntnis gehört zu den weltlichen Strukturen, d.h. eine Erkenntnis des göttlichen Geschehens findet erst wieder mit dem Einsetzen der weltlichen Strukturen statt.

Eine Betrachtung oder Einordnung vorhandener religiöser oder spiritueller Phänomene unter der negativen Theologie oder neuplatonischen Philosophie würde dann folgendermaßen aussehen. Wenn in einem Menschen, auf welche Weise auch immer (Trance, Rezitationen, monotone Gebete, Meditationen, Drogen oder andere außergewöhnliche, das Alltagsbewusstein durchbrechende und entrückende Umstände), die Welt in ihren geschaffenen Strukturen geistig zunichte werden, aussetzen und ursprünglich wie in einem geistigen Urknall wieder entstehen sollte, so wäre das zunächst einmal ein existentielles und, weil es darin die Grundstruktur des Weltlichen betrifft, ein wahrhaft göttliches Geschehen. Die wiederentstehende Erkenntnis bzw. das (wiederseiende) Bewusstsein würde jedoch nach einem Zunichtewerden (das darin nicht erkannt werden kann) vor dem großen Problem stehen, wie es dieses seltsame Geschehen, das die Welt in ihrer Grundstruktur betrifft, deuten soll. In der unvollkommenen Gotteserkenntnis wird es einfach anhand der jeweiligen zufälligen Umstände oder kulturellen und religiösen Eigenarten, innerhalb derer dieses Geschehen stattfand, gedeutet. Besonders in der weiteren Tradierung wird es in dieser Weise häufig als Erkenntnis eines dadurch erleuchteten Menschen gesehen, d.h. als ob dieser in seinem kreatürlichen oder weltlichen Sein dem Göttlichen gegenübergestanden hätte, so das Göttliche wie ein weltliches Ding in einem bestimmten Bild erkannt, dann auch gewusst und als dieses Wissen besessen hätte. Das Göttliche wird so mit einem bestimmten Bild oder einer bestimmten Vorstellung fest identifiziert, und zwar gemäß der göttlichen und übernatürlichen Bedeutung in einer dogmatischen Weise, obwohl es gemäß der negativen Theologie nur rein zufällige Bilder oder Vorstellungen sind. Desweiteren hat in dieser Festlegung das Göttliche weltliche Eigenschaften erlangt und ist selbst zu einem Ding der Welt geworden, und zwar einer darin stets als real angesehenen Welt.

Dementsprechend soll dieses bestimmte und reale Göttliche dann auch den Menschen in ihrem Kreatur-Sein in der Welt dienen, d.h. es soll ihnen wie ein Talisman in der Welt Glück bringen, sie als Kreatur und Person vor dem Tod retten usw. Hierbei wird versucht, die geschaffenen und darin vergänglichen weltlichen Strukturen als real zu retten und zu verewigen, statt wie im Neuplatonismus und bei Meister Eckhart, die unausweichliche Vergänglichkeit schon auf geistige Weise vorwegzunehmen, um sich des Wesens dieser Strukturen bewusst zu werden und sich so nicht mit einer vergänglichen weltlichen Struktur, sondern dem eigentlichen, dahinterstehenden Unvergänglichen oder Absoluten zu identifizieren. Über diesen falschen Glauben sagt Eckhart: „Sobald du zu Gott betest um der Kreaturen willen, bittest du um deinen eigenen Schaden; denn, sobald die Kreatur Kreatur ist, trägt sie Bitterkeit und Schaden und Übel und Ungemach in sich“27.

Die vollkommene Jenseits- oder Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart als fortlaufender und dynamischer Erkenntnisprozess im Seelengrund

Wie sieht dagegen nun die vollkommene Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart aus? Auch hier würden nach dem „Aussetzen“ oder dem Zunichtewerden der weltlichen Strukturen diese wieder ursprünglich aus dem Jenseitigen, Einen oder Absoluten heraus entstehen und es würde dadurch zwangsläufig etwas in Bezug auf dieses „Aussetzen“ erkannt werden. Doch im Gegensatz zu einer unvollkommenen Gotteserkenntnis wird hier nun das Erkannte nicht als gesicherte Erkenntnis und als festes Wissen über das Göttliche oder Absolute genommen, das dann weiter in die Welt ausfließt und sich dort als dogmatisches Wissen verfestigt, sondern es wird hierbei gleichzeitig erkannt, dass selbst diese höchste Erkenntnis zusammen mit dem Erkannten ebenfalls nur etwas Geschaffenes wie alles Weltliche ist. Die durch das „Aussetzen“ hervorgerufene ursprüngliche göttliche Erkenntnis kann sich so nicht verfestigen, sondern wird selbst sofort wieder in dem armen und darin heiligen Geist zunichte – was wiederum ursprünglich erkannt wird. Während so in einer unvollkommenen Gotteserkenntnis das Nichts (oder der „Abgrund Gottes“28) und das Nichtwissen angesichts des scheinbaren dogmatischen Wissens keine Rolle mehr spielen, verhält es sich bei Eckhart genau umgekehrt und ergibt nicht ein sicheres Erkennen und dogmatisches Wissen, sondern ein „nichterkennendes Erkennen“:

Nun könntest du fragen: Was wirkt (denn) Gott ohne Bild in dem Grunde und in dem Sein? Das kann ich nicht wissen, weil die Kräfte nur in Bildern auffassen können, denn sie müssen alle Dinge jeweils in deren eigentümlichem Bilde auffassen und erkennen. Sie können ein Pferd nicht im (= mit dem) Bilde eines Menschen erkennen, und deshalb, weil alle Bilder von außen hereinkommen, darum bleibt jenes (= was Gott ohne Bild im Grunde wirkt) ihr verborgen; das aber ist für sie das allernützlichste. Dieses Nichtwissen reißt sie hin zu etwas Wundersamem und lässt sie diesem nachjagen, denn sie empfindet wohl, dass es ist, weiß aber nicht, wie und was es ist. Wenn (hingegen) der Mensch der Dinge Bewandtnis weiß, dann ist er alsbald der Dinge müde und sucht wieder etwas anderes zu erfahren und lebt dabei doch immerfort in bekümmertem Verlangen, diese Dinge zu erkennen und kennt doch kein Dabei-Verweilen. Daher: (Nur) das nichterkennende Erkennen hält die Seele bei diesem Verweilen und treibt sie doch zum Nachjagen an.29

Eckhart unterscheidet bei diesem „nichterkennenden Erkennen“ sehr klar zwischen unserem Schauen und Gottes Schauen, wobei Gottes Schauen, bei ihm auch das „unverhüllte Schauen“ genannt, nichts anderes als das völlige Aussetzen der weltlichen Erkenntnistätigkeiten ist, d.h. es ist die vollzogene Einheit, in der nichts erkannt wird. Doch darin setzt die weltliche Erkenntnis immer wieder ein, es geht bei einem lebendigen Sein gar nicht anders. Aber über dieses (wiedereinsetzende) Erkennen bzw. das Erkannte führt Eckhart aus:

Ich sage: Wenn der Mensch, die Seele, der Geist Gott schaut, so weiß und erkennt er so sich auch als erkennend, das heißt: er erkennt, dass er Gott schaut und erkennt. Nun hat es etliche Leute bedünkt, und es scheint auch ganz glaubhaft, dass Blume und Kern der Seligkeit in jener Erkenntnis liegen, bei der der Geist erkennt, dass er Gott erkennt; denn, wenn ich alle Wonne hätte und wüsste nicht darum, was hülfe mir das und was für eine Wonne wäre mir das? Doch sage ich mit Bestimmtheit, dass dem nicht so ist. Ist es gleich wahr, dass die Seele ohne dies wohl nicht selig wäre, so ist doch die Seligkeit nicht darin gelegen; denn das erste, worin die Seligkeit besteht, ist dies, dass die Seele Gott unverhüllt schaut. Darin empfängt sie ihr ganzes Sein und ihr Leben und schöpft alles, was sie ist, aus dem Grunde Gottes und weiß nichts von Wissen noch von Liebe noch von irgend etwas überhaupt. Sie wird still ganz und ausschließlich im Sein Gottes. Sie weiß dort nichts als das Sein und Gott. Wenn sie aber weiß und erkennt, dass sie Gott schaut, erkennt und liebt, so ist das der natürlichen Ordnung nach ein Ausschlag aus dem und ein Rückschlag in das Erste;30

Weiter heißt es bei Eckhart in der klaren Trennung dieser beiden völlig verschiedenen Geistzustände:

So also sage ich, dass es zwar Seligkeit nicht gibt, ohne dass der Mensch sich bewusst werde und wohl wisse, dass er Gott schaut und erkennt; doch verhüte Gott, dass meine Seligkeit darauf beruhe! Wem's anders genügt, der behalte es für sich, doch erbarmt's mich. Die Hitze des Feuers und das Sein des Feuers sind gar ungleich und erstaunlich fern voneinander in der Natur, obzwar sie nach Zeit und Raum gar nahe beieinander sind. Gottes Schauen und unser Schauen sind einander völlig fern und ungleich.31

Der „Rückschlag“ in die weltlichen Erkenntnisstrukturen ist eine ursprüngliche Geburt dieser Strukturen, in der eine Selbsterkenntnis des Göttlichen stattfindet, die ohne die weltlichen Strukturen nicht stattfinden kann. Nur hier in den weltlichen Strukturen hat das Göttliche ein Sein und kann erkannt werden bzw. sich selbst erkennen. Es ist aber nur dann eine wesenhafte Selbsterkenntnis des Göttlichen und damit eine Geburt und Erkenntnis des Sohnes, wenn darin gleichzeitig erkannt wird, dass auch diese höchste Erkenntnis nur geschaffen und vergänglich ist, so dass sie stets nur funkenhaft ist (Eckhart vergleicht die Sohn-Erkenntnis oft auch mit einem „Fünklein“32) und sofort wieder in einem heiligen Geist vergeht, das wiederum in einer durch dieses vollkommene Vergehen neuen, ursprünglichen Erkenntnis erkannt wird usw.

So bleibt das Göttliche trotz seiner Selbsterkenntnis in den dualen weltlichen Strukturen auch einheitlich in sich selbst und ist nur dadurch, also durch das sofortige Vergehen der höchsten Erkenntnis, eine gleichzeitig wesenhafte Selbsterkenntnis des Göttlichen. Nur hier in dieser Erkenntnis des Sohnes ist „sein Gebären (zugleich) sein Innebleiben, und sein Innebleiben ist sein Ausgebären. Es bleibt immer das Eine, das in sich selber quillt.“33 Dieses Quillen ist die Liebe, die Eckhart im Sinn hat. Es ist nicht die zwischen Kreaturen und auch nicht die zwischen einem Göttlichen und den seienden Kreaturen in der Welt, sondern die des Göttlichen in sich selbst, und zwar als fortlaufender Wechsel im ursprünglichen und kürzesten Entstehen und Vergehen weltlicher Strukturen im Einen oder Absoluten, so dass hier Einheit und Dualität ineinanderfallen:

Die Liebe hat dies von Natur aus, dass sie von Zweien als Eines ausfließt und entspringt. Eins als Eins ergibt keine Liebe, Zwei als Zwei ergibt ebenfalls keine Liebe; Zwei als Eins dies ergibt notwendig naturgemäße, drangvolle, feurige Liebe.34

In dieser wesenhaften, nichterkennenden Erkenntnis im Sohn-Sein besitzt der Sohn nicht ein statisches und festes Sein in Raum und Zeit, sonder ist ein „einiger Sohn“35, der in diesem ursprünglichen Gebären und Vergehen auch das, aus dem er sich als geboren erkennt (den gegenüberstehenden Vater, das Nichts, die Einheit oder das Absolute), letztlich als von sich selbst (im Erkennen) hervorgebracht, geschaffen und geboren erkennt, so dass Eckhart sagen kann: „Aus dieser Lauterkeit hat er mich ewiglich geboren als seinen eingeborenen Sohn in das Ebenbild seiner ewigen Vaterschaft, auf dass ich Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin“36. Nur in diesem dynamischen Erkenntnisprozess, bei dem das Entstehen und Vergehen des Seins in der Welt geistig auf seine kürzeste Form minimiert wird, findet der Geist bei Eckhart Ruhe, wenn er sagt:

Lausche (denn) auf das Wunder! Wie wunderbar: draußen stehen wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und (zu gleich) das Geschaute selbst sein, halten und gehalten werden - das ist das Ziel, wo der Geist in Ruhe verharrt, der lieben Ewigkeit vereint.37

Gleichzeitig kann es darin als ein Erkennen des Erkennens verstanden werden, in dem erkannt wird, das Erkennen immer ein auch Hervorbringen und Schaffen von Sein ist. Der Erkennende erkennt so, dass er selbst das Erkannte hervorgebracht hat, sowohl den Vater oder die Einheit in der göttlichen Selbst-Erkenntnis als auch die gesamte scheinbar real seiende Welt. Das Erkennen des Erkennens führt zu einem Aussetzen des Erkennens, wodurch auch diese Erkenntnis in etwas Unerkennbaren vergeht bzw. in dem Erkennender, das Erkennen und das Erkannte ineinander fallen oder miteinander verschmelzen – und mit einer ursprünglichen Lebendigkeit daraus wieder entstehen. Die Ursprünglichkeit dieses Entstehens hebt dabei die Konstanz auf, mit der „wir“ uns in der Welt als scheinbar reales Sein in Zeit und Raum identifizieren.

Die wahre Erkenntnis des Göttlichen ist bei Meister Eckhart jedenfalls keine weltliche Erkenntnis in einem festen und realen Gegenüber, die ein bestimmter Mensch in seinem weltlichen und kreatürlichen Sein in der Zeit der Welt macht und dann als ein sicheres Wissen hat, sondern es ist ein aus weltlicher Sicht fortlaufender und dynamischer Prozess mit einer ursprünglichen und, da es die Grundstruktur des Weltlichen betrifft, sozusagen urknallmäßigen Lebendigkeit an der Grenze zwischen entstehenden und vergehenden weltlichen Strukturen und einem letztlich immer unerkannt bleibenden Absoluten, das als das verborgene Dunkel der ewigen Gottheit wesenhaft unerkannt ist und bleibt, denn es „ward nie erkannt und wird nie erkannt werden“38. Nur für diesen dynamischen Erkenntnisprozess an der Grenze der Welt zu einem Absoluten, in dem die Relativität und Geschaffenheit der Welt bestmöglich bewusst wird, steht bei Meister Eckhart metaphernhaft die Trinität. In diesem trintiarischen Erkenntnisprozess bleibt trotz einer Erkenntnis des Göttlichen die strikt negative Theologie eines unerkennbaren Absoluten stets gewahrt, bzw. es ist in diesem trinitarischen Erkenntnisprozess die bestmögliche und gleichzeitig wesenhafte (Selbst-)Erkenntnis eines unerkennbaren Einen und Absoluten. Von Meister Eckhart her ist dann auch nur in diesem Sinne das neuplatonische »In-sich-Bleiben«, »Aus-sich-Herausgehen« und »In-sich-Zurückkehren« zu verstehen, d.h. das Absolute oder Eine bzw. das eigentliche Wesen der Welt kann nicht in einer „normalen“ weltlichen Erkenntnis erkannt und gewusst werden.

Negative Theologie und neuplatonische Philosophie bezogen auf die heutige Welt

Ist die Welt so beschaffen, wie hier die neuplatonische Triadik über die negative Theologie Eckharts gedeutet und dargestellt wird, d.h. ist die gesamte von uns erkannte Welt nicht real vorhanden, sondern geistig im Erkennen geschaffen, und gibt es ein jenseitiges Eines oder Absolutes, das darin ganz anders ist, als das Wesen und die Struktur dieser geschaffenen Welt? Beide Aspekte hängen zunächst einmal unmittelbar zusammen und bedingen einander, d.h. ein grundsätzlich unerkennbares Absolutes hat darin zur Folge, dass alle Erkenntnisse letztlich nur relativ, geschaffen und konstruiert sein können, genauso wie umgekehrt die Relativität und Geschaffenheit restlos aller Erkenntnisse bedeutet, dass das Absolute oder Substantielle grundsätzlich nicht erkannt bzw. in den geschaffenen Strukturen nicht erfasst werden kann.

Wenn die gesamte von uns erkannte Welt im Erkennen geschaffen ist und nur darin existiert, dann sind die Fragen nach dem wahren Wesen der Welt bzw. einem Absoluten in den Strukturen der Welt bzw. für uns in unserem Sein grundsätzlich unbeantwortbar, d.h. es lässt sich weder das Absolute erkennen oder auch nur vorstellen, noch dass die Welt ein geschaffenes und konstruiertes Wesen besitzt. Das ist aber kein Mangel, sondern in diesem „Dunkel“ spiegelt sich vielmehr das Absolute, nur darin „ist“ es wesenhaft.

Es gibt dann keinen äußeren und darin absoluten Standpunkt, von dem aus der Erkenntnis- und Schaffensprozess in den dabei geschaffenen Strukturen beobachtet, erkannt oder sich auch nur vorgestellt werden kann. Das wäre nur möglich, wenn die oder zumindest einige Erkenntnis- und/oder Seinsstrukturen gleichzeitig Teil des Absoluten wären, wobei dann die Strukturen von Welt und Absoluten zumindest teilweise übereinstimmten. Doch das wäre wiederum ein Realismus, in dem allerdings eine einfache und klare Erkenntnis des Realen und dadurch eine umfassende Erklärung der Welt von diesem Realen oder Absoluten her grundsätzlich möglich sein müsste und sich so die Frage nach dem Absoluten erübrigt.

Doch die schon erwähnten Mängel des nur hypothetischen Realismus der modernen Naturwissenschaft können die Frage nach dem Absoluten oder Realen nicht einmal in Ansätzen beantworten und lassen sie daher weiter offen. Es ist in einem Realismus unverständlich, warum die moderne Physik es trotz der großen Fortschritte nicht einmal schafft, die als real angesehene Materie eindeutig zu bestimmen, sondern im Gegenteil die Ergebnisse in der Quantenphysik bis heute eher auf idealistische Lösungen hinauslaufen.39 Dasselbe gilt für die Neurobiologie und Hirnforschung, denn auch hier müsste es auf einfache Weise möglich sein zu erkennen oder zu bestimmen, wie der Geist aus dem Realen (der Hirnzellen bzw. der Materie) hervorgeht oder damit zusammenhängt. Dabei gibt es auch hier einen Ansatz zu einer idealistischen Lösung und Deutung. Die Neurobiologen und radikalen Konstruktivisten H.R. Maturana und F.J. Varela sagen, dass, wenn wir die Existenz einer objektiven und realen Welt voraussetzen, die von uns als den Beobachtern unabhängig ist, wir dann nicht verstehen können, wie unser Nervensystem in seiner strukturellen Dynamik funktionieren und dabei eine Repräsentation dieser unabhängigen Welt erzeugen soll.40 Doch dieser idealistische Ansatz wird darin ebensowenig wie in der Physik akzeptiert.

Auch die Evolutionstheorie vermittelt insofern indirekt eine neuplatonische oder idealistische Deutung der Welt, da darin die gesamte Lebensentwicklung nur als einheitlicher Prozess zu verstehen ist, d.h. schon die erste Abkapselung der Urzelle von ihrer Umgebung kann darin nur als eine besondere Struktur der Entwicklung angesehen werden, bestand als diese Trennung aber nie wirklich und substantiell. In der weiteren Entwicklung haben sich auf dieser Struktur aufbauend dann die Lebewesen mit ihren Seins- und Erkenntnisstrukturen gebildet, und zwar so, dass jede Zelle in einem Organismus den Gesamtbauplan des Organismus als genetischen Code enthält. Das Erkennen ist dazu aus idealistischer Sicht ähnlich entwickelt oder strukturiert, d.h. jedes Lebewesen bringt in seinem Erkennen eine ganze Welt hervor,41 in der auch die anderen erkennenden Lebewesen enthalten sind (was wir uns nur als voneinander in Zeit und Raum getrennte Phänomene vorstellen können). Besonders auch in der Abstimmung, Kommunikation und Konstanz dieser Welt-Erkenntnisse entsteht so der Anschein einer real vorhandenen und vom Erkennen unabhängigen Welt.

Eckhart unterscheidet zwischen einem äußeren und inneren Erkennen,42 wobei im inneren Erkennen die Struktur des getrennten Seins im göttlichen Erkennen aufgehoben wird, so dass hier wieder „alle Grasblättlein und Holz und Stein und alle Dinge Eines“43 sind, und er in Anlehnung an das neuplatonische „Alles in Allem“44 weiter darüber sagt:

Und dieses Erkennen ist ohne Zeit, ohne Raum und ohne Hier und ohne Nun. In diesem Leben sind alle Dinge eins und alle Dinge miteinander alles in allem und alles in allem geeint.45

In dem äußeren Erkennen, in dem uns die Welt und das getrennte Sein darin als real erscheint, erkennen wir diesen Prozess heute als eine evolutionäre Entwicklung in der Zeit. Doch in diesem Erkennen ist, wie es Maturana und Varela feststellen, eine Zirkularität enthalten,46 d.h. die Seins- und Erkennt­nisstrukturen, die wir in der Evolution scheinbar in ihrem realen Entstehen und ihrer Entwicklung erkennen, werden beim Betrachten dieser Entwicklung immer schon vorausgesetzt bzw. die Betrachtung geschieht nur in diesen Strukturen. Im Grunde erkennen wir so nicht das eigentliche Geschehen, sondern immer nur unsere Seins- und Erkenntnisstrukturen, die für „uns“ in unserem Erkennen und Bewusstsein immer von vornherein da sind, genau wie wir selbst und die ganze Welt. „Wir“ können nicht darüber hinaus, d.h. wir können die Geschaffenheit oder das Schaffen von Welt nicht direkt erkennen, sondern, wie im Neuplatonismus oder bei Eckhart, diesen Prozess höchstens zum Aussetzen bringen, wobei dann dieselbe Zirkularität entsteht, nur un­mittelbarer und existentieller. Diese Zirkularität erst macht die göttliche Erkenntnis zu einem fortlaufenden und dynamischen Prozess des »In-sich-Bleibens«, »Aus-sich-Herausgehens« und »In-sich-Zurückkehrens« und nur darin ist das Göttliche indirekt bestmöglich erkennbar.

Das instinkthafte (und darin überwältigend mächtige) Bestreben des Menschen ist es jedoch nicht, sein weltliches Sein in einer Zirkularität verschwimmen oder zunichte werden zu lassen und sei es nur geistig, sondern es unter allen Umständen eindeutig zu erhalten und in diesen scheinbar realen Strukturen, in denen der Mensch als Sein und Person existiert, weiter zu entwickeln. In der herkömmlichen Religion versucht der Mensch daher sogar, das eigene personale Sein über den Tod hinaus zu erhalten und zu verewigen. Auch die moderne Naturwissenschaft sperrt sich gegen idealistische Lösungen, die unvorstellbar und in der Welt scheinbar nicht praktikabel sind. Durch die großen Erfolge der modernen Naturwissenschaft wurde der Mensch vielmehr in die Lage versetzt, die Welt mehr und mehr nach seinen Wünschen zu gestalten, sein geschaffenes Sein darin immer mehr abzusichern, zu perfektionieren und es so als immer realer erscheinen zu lassen.

Doch insbesondere wenn dieser Realismus nicht bestätigt werden kann oder er auf welche Weise auch immer scheitert (was, wenn die Welt kein reales Wesen besitzt, letztlich stets geschieht), so ist angesichts dessen die idealistische Lösung sehr wohl praktikabel. Ihre Anwendung liegt nicht rein innerhalb der Welt, dort kann der Mensch in seinem alltäglichen Leben gar nicht anders als von einem Realismus ausgehen, weil der Mensch nur darin existiert. Sie gelangt vielmehr erst bei den Fragen zur Anwendung, die über die Welt hinausgehen, etwa bei der Vergänglichkeit des weltlichen Seins oder bei dem Versuch einer umfassenden Erklärung des weltlichen Seins. Die idealistische Lösung kann mit der bloßen und verrückten Idee einer geistig geschaffenen Welt und eines unzugänglichen und unbekannt bleibenden Absoluten keine sicheren und endgültigen Antworten im Sinne des Realismus geben, aber mit ihrer Hilfe können etwa die Widersprüche zwischen Religion, Philosophie und moderner Naturwissenschaft weitestgehend überwunden werden, was darin auch heißt, dass der Mensch die Frage nach seinem eigentlichen Wesen bestmöglich beantworten kann. Durch diese ermöglichte interdisziplinäre Lösung würde schon in der Welt eine größtmögliche Einheit, Widerspruchs­losigkeit und Harmonie hergestellt, was ganz praktisch als indirekter Beweis und indirektes Erkennen einer jenseitigen und für uns unzugänglichen Wahrheit angesehen werden kann.

Mehr ist im Falle eines grundsätzlich unerkennbaren Absoluten nicht möglich und daher ist diese indirekte Lösung kein Mangel, sondern im Gegenteil genau wie im „nichterkennenden Erkennen“ in der Gottesgeburt bei Meister Eckhart die vollkommene, umfassende und wesenhafte Erkenntnis der Welt und des Absoluten. Da das nur mit einer bloßen Idee oder Spekulation ermöglicht werden kann, bestätigt das nicht nur ein grundsätzlich unerkennbares Absolutes, sondern enthält in der Reflexion darüber in gewisser Weise ebenfalls die neuplatonische Triadik des »In-sich-Bleibens«, »Aus-sich-Herausgehens« und »In-sich-Zurückkehrens«.

Im Falle der Religionen kann diese größtmögliche Einheit, Widerspruchslosig­keit und Harmonie in der Welt sogar mit Sicherheit herbeigeführt werden, denn die Widersprüche zwischen den verschiedenen und die Spaltungen in den einzelnen Religionen, die in der immer weiter fortschreitenden Globalisierung auf einer begrenzten Erde zu einem immer größeren Problem werden und dabei oft genug Motive für gewalttätige Auseinandersetzungen bilden, werden mit der bloßen Idee eines nicht erkennbaren und nicht vorstellbaren Absoluten, das auch ansonsten keinerlei Strukturen und Eigenschaften mit dem Weltlichen teilt, schlagartig und nachhaltig gelöst. Das aus dem einfachen Grund, weil es schlicht nicht möglich ist, sich über ein nicht vorstellbares und in keinem Bild erfassbares Absolutes oder Göttliches einer strikt negativen Theologie zu streiten.

Kontakt mit dem Autor: BerndEhlert1@web.de


1Vgl. St. Groß, Leben und Reflexion im spätantiken Denken, Tabvla Rasa Ausgabe 32 (2/2008)

2U. Kern, „Gottes Sein ist mein Leben“ - Philosophische Brocken bei Meister Eckhart, Berlin 2003, S. 1

3Meister Eckhart, Die lateinischen Werke, Bd. III, hrsg. und übers von Karl Christ u.a., Stuttgart 1994, S. 4

4Vgl. J. Quint, Meister Eckehart - Deutsche Predigten und Traktate -, Zürich 1979, Einleitung S. 22

5Vgl. J. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, S. 152, sowie B. Ehlert, Meister Eckhart und die wahren Wurzeln des Christentums, Tabvla Rasa Ausgabe 27 (1/2007)

6Vgl. Quint, Meister Eckehart ...., hinterer Bucheinband

7J. Quint, Meister Eckehart - Deutsche Predigten und Traktate -, Zürich 1979, Pred. 2, S. 164

8Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 42, S. 355

9Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 36, S. 325

10Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 42, S. 353

11Quint, 1979, Meister Eckehart..., Pred. 10, S. 196

12Vgl. G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Stuttgart 1998, S. 137

13I. Kant, Kritik der Reinen Vernunft, B 332-333

14Kant, Kritik..., B 334

15Kant, Kritik..., B 333

16Halfwassen 2004, Plotin ..., S. 112

17Quint 1979, Meister Eckehart..., BdGT, S. 125

18Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 43, S. 356

19H. Seuse, Das Buch der Wahrheit, hg. v. L. Sturlese, R. Blumrich, Hamburg 1993, S. 7

20Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 25, S. 267

21Quint 1979, Meister Eckehart.., Pred. 16, S. 227

22Quint 1979, Meister Eckehart.., Pred. 31, S. 302

23Quint 1979, Meister Eckehart...., Pred. 32, S. 304

24Quint 1979, Meister Eckehart...., Pred. 34, S. 314

25Quint 1979, Meister Eckehart...., Pred. 42, S. 354, 355

26Quint 1979, Meister Eckehart.., Pred. 23, S. 261

27Quint 1979, Meister Eckehart.., Pred. 49, S. 383

28Quint 1979, Meister Eckehart..., BDGT, S. 73

29Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 57, S. 421

30Quint 1979, Meister Eckehart..., VeM, S. 146-147

31Quint 1979, Meister Eckehart..., VeM, S. 148

32Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 2, S. 163

33Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 31, S. 302

34Quint 1979, Meister Eckehart..., BDGT, S. 116

35Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 23, S. 258

36Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 23, S. 258

37Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 28, S. 285

38Quint 1979, Meister Eckehart.., Pred. 23, S. 261

39Vgl. bild der wissenschaft 8/2004, S. 40

40Vgl. H.R. Maturana/ F.J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, München 1987, S. 259

41Vgl. Maturana/Varela, Der Baum ...., S. 267-268 und S. 259

42Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 35, S. 318

43Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 24, S. 264

44Halfwassen 2004, Plotin ..., S. 74-77

45Quint 1979, Meister Eckehart..., Pred. 35, S. 318

46Vgl. Maturana/Varela, Der Baum ...., S. 258 und S. 263