(Sofia/Bulgarien)
Wissenschaft ist nach einer gängigen Meinung die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Letztere sind dabei Teil umfassenderer Theorien, die einheitlich und widerspruchsfrei sein müssen. In experimentellen Wissenschaften müssen die Gesetze nicht nur die Möglichkeit zur Erklärung der Vergangenheit bieten, sondern auch die künftige Entwicklung vorhersagen können. Wichtig ist dabei die Wiederholbarkeit: Unter gleichen Bedingungen muß das erneute Eintreffen eines bestimmten Zustandes oder Phänomens vorhersagbar sein.
Um den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben zu können, müssen Gesetze und Theorien testbar sein, dem Kriterium der Varifizierbarkeit/ Falsifizierbarkeit genügen – ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit muß zumindest prinzipiell erweisbar sein. Andernfalls sind sie, wiewohl möglicherweise wahr, „Metaphysik“, also außerwissenschaftlich. (Das wirft jedoch zahlreiche Fragen auf, auf die nicht eingegangen werden soll.)
Etwas anders stellt sich die Situation in den Sozial- und Geisteswissenschaften dar. Oft wird darauf hingewiesen, daß in den Sozialwissenschaften die empirische Prüfung von Theorien durch Experimente in der Regel schwierig oder unmöglich ist, so daß hier häufig die „argumentative Validierung“1 in den Vordergrund rückt. Nichtsdestoweniger gibt es sozialwissenschaftliche Theorien, die den Anspruch erheben, wissenschaftlich im Sinne zu sein, daß sie historische Ablaufgesetze nach Art der Naturgesetze postulieren. Mit ihrer Hilfe soll nicht nur die Vergangenheit erklärt, sondern auch die künftige Entwicklung von sozialen Systemen oder der Gesellschaft als Ganzes vorhergesagt werden. Karl Popper hat für solche Theorien den Begriff „Historizismus“ geprägt. Er steht für die nach seinem Dafürhalten irrige Annahme, in der Geschichte herrschten Gesetzmäßigkeiten, die Voraussagen über die künftige historische Entwicklung ermöglichen.
Es ist im übrigen keineswegs so, daß die Wissenschaften immer nach Generalisierungen, nach Allaussagen streben. Sowohl in den Natur- als auch in den Sozialwissenschaften sind zuweilen singuläre Aussagen von besonderem Interesse, so z.B. wenn in der Astronomie die Existenz bestimmter Objekte, z.B. von „Schwarzen Löchern“ oder Planeten, postuliert wird. In der Geschichtswissenschaft wiederum ist es so, daß der Historiker gerade an einzigartigen, konkreten, nichtreproduzierbaren Phänomenen interessiert ist, die er zu interpretieren versucht.
Auch trifft es nicht zu, daß für die naturwissenschaftliche Forschung Experimente charakteristisch und unerläßlich sind. So sind in der Kosmologie, einer Naturwissenschaft per excellence, die sich mit dem Weltall als Ganzes beschäftigt, Laborexperimente nur sehr begrenzt durchführbar. Dasselbe gilt von der Evolutionsbiologie.
Darüber hinaus sind selbst in vermeintlich exakten Wissenschaften wie der Astronomie und Physik exakte Vorhersagen nicht immer möglich. Niemand zweifelt beispielsweise daran, daß das Sonnensystem ein deterministisches System ist. Aber:
„Zwar erlauben die Keplerschen Gesetze die Berechnung der Planetenbahnen in guter Näherung, aber exakt – sieht man mal von der Relativitätstheorie ab – gelten sie nur für ein Zweikörperproblem, also beispielsweise für ein Sonnensystem, das nur einen einzigen Planeten besitzt. Denn in einem Sonnensystem mit mehreren Planeten werden diese nicht nur von der Sonne angezogen, sondern ziehen sich mehr oder weniger stark auch gegenseitig an, was Newton bereits richtig erkannt hatte.”2
Offenbar stellt sich die Situation in der Wissenschaft insgesamt recht komplex und verwirrend dar. Dabei erheben diese kurzen einleitenden Andeutungen zur Wissenschaftstheorie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die zahlreichen komplizierten methodologischen Probleme der Philosophie der Wissenschaft sollen an dieser Stelle auch nicht weiter behandelt werden. Es sollte nur darauf hingewiesen werden, daß die wissenschaftliche Theorie und Praxis und die Erkenntnisgewinnung sich trotz verschiedener moderner, inzwischen sehr ausgeklügelter Erklärungsansätze (noch) nicht in ein strenges wissenschaftstheoretisches Korsett pressen lassen. Letzteres erweist sich nämlich vorerst als zu eng, um der Reichhaltigkeit der Wissenschaft Rechnung zu tragen. Hier sind offenbar noch viel mehr Forschung und neue Ideen nötig.
Wir wollen, wie in der Überschrift angekündigt, im folgenden einige mehr oder weniger neue Überlegungen zu Ungereimtheiten und Widersprüchen des sogenannten “Historischen Materialismus”, d.h. der Marxschen Lehre von der geschichtlichen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, formulieren.
Es könnte eigentlich müßig und geradezu überflüssig scheinen, sich mit Kritik des Marxismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu befassen, zumal nach der Wende in Osteuropa 1989/90. Der Zusammenbruch des realsozialistischen Systems sollte auch letzten Zweiflern sowohl im Osten wie im Westen die Augen geöffnet haben. Man könnte daher meinen, daß der Marxismus als Theorie und Praxis allenfalls historisches Interesse beanspruchen kann. Kann die kommunistische Ideologie aber tatsächlich als ein für allemal ad acta gelegt gelten? Gemäß manchen Autoren, z. B. Assen Ignatow, übt diese Ideologie, wiewohl schwer angeschlagen und nicht nur in praktischer, sondern auch in theoretischer Hinsicht widerlegt, noch immer einen gewissen Einfluß aus.3 Es gibt noch immer Parteien kommunistischer Couleur in Ost- und Westeuropa, die sich offen zu einem, wenngleich leicht modifizierten Marxismus(-Leninismus), bekennen. Aber auch andere sozialistische oder sozialdemokratische Nachfolgeorganisationen der ehemaligen osteuropäischen kommunistischen Parteien haben nicht öffentlich der marxistischen Ideologie entsagt. Überdies sind viele, wenn nicht gar die Mehrzahl der Dissidenten in Osteuropa in ihrer Kritik am kommunistischen System kaum über die Vorstellung eines “verbesserten” Sozialismus hinausgekommen. Jedenfalls waren sie recht weit entfernt vom Gedanken einer offenen Gesellschaft westlicher Prägung. Ja mehr noch, marxistisches Gedankengut läßt sich noch sehr häufig in der geistigen Haltung sogar der antikommunistischen osteuropäischen Intellektuellen nachweisen. Häufig kann man in solchen Kreisen beispielsweise die Ansicht vernehmen, Marxens ökonomische Ideen über den Sozialismus seien nicht stichhaltig, allein seine Analyse des “Kapitalismus” behalte nach wie vor ihre Gültigkeit. Die westlichen Linksintellektuellen wiederum bilden ein Kapitel für sich und wären eine gesonderte Abhandlung wert.
Die ideologische Auseinandersetzung mit dem Marxismus darf infolgedessen nicht für abgeschlossen erklärt werden: „Auch nach dem Ende der sozialistischen Gewaltherrschaft darf die geistige Auseinandersetzung mit der ihr zugrunde liegenden Ideologie nicht beendet sein.“4
Karl Marx war nicht der erste Philosoph, der grandiose Pläne zur Umgestaltung der Gesellschaft entworfen hat. Andere Denker vor ihm haben ebenfalls den Traum vom Idealstaat geträumt. Aber Marx war der erste, dessen Visionen es durch einen Zufall der Geschichte vergönnt war, (schreckliche) Realität zu werden. Dieser Zufall war vor allem der Auftritt der Person Wladimir Uljanow-Lenin und der maßgeblich auf sein Betreiben in Rußland 1917 durchgeführte Umsturz, welcher später als „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ in die Geschichte einging.
Da der Marxismus selbst gern die Rolle der Praxis als “höchstes Kriterium der Wahrheit” herausstellt, wäre es freilich ein leichtes, des Scheitern des realsozialistischen Experiments als praktische Widerlegung (Falsifizierung) der Theorie anzusehen und auf weitere diesbezügliche Gedankengänge zu verzichten. Nichtsdestoweniger läßt sich beispielsweise das Scheitern des kommunistischen Blocks stets durch Ad-hoc-Hypothesen und ausgeklügelte Ausflüchte als in Einklang mit der marxistischen Theorie stehend explizieren. Überhaupt lassen sich wissenschaftliche Theorien auch bei Vorliegen von Beobachtungen, die sie zunächst zu widerlegen scheinen, prinzipiell durch Zusatzannahmen aufrechterhalten (bis sie schließlich irgendwann nicht-wissenschaftlich bzw. pseudowissenschaftlich werden). Es ist nur die Frage, wie weit man mit solchen Annahmen zu gehen gewillt ist. Karl Popper schreibt dazu:
„Wie ich...erklärte, können wir angesichts von Widerlegungen immer Zuflucht zu ausweichenden Taktiken nehmen...wir können eine Theorie immer gegen Widerlegung immunisieren...und wenn uns nichts Besseres einfällt, können wir immer die Objektivität - oder sogar die Existenz - der widerlegenden Beobachtung leugnen.“5
Nun ist bereits von anderen Autoren fundierte theoretische Kritik am „historizistischen“ Charakter des Marxismus geübt worden, so daß es sich an dieser Stelle erübrigt, ihre Argumente zu wiederholen. Es mag unter anderem der Hinweis auf Karl Poppers Bücher „Das Elend des Historizismus“ und „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ genügen.
Es sei lediglich vermerkt, daß der Historische Materialismus mit dem Begriff des Gesetzes steht und fällt. Marx behauptet nämlich gezeigt zu haben, daß die Geschichte ein durch sozioökonomische Gesetze bestimmter Prozeß ist, der zwangsläufigen Charakter trägt. Gelingt es daher den Nachweis zu führen, daß es im Geschichtsablauf keine Gesetze gibt und geben kann (stärkere These) oder zumindest daß, falls sie existieren, sie nicht erkennbar sind (schwächere These), kann der „Historische Materialismus“ als widerlegt gelten. In der Tat ist die Frage nach den geschichtlichen Gesetzmäßigkeiten äußerst problematisch. Denn die Geschichte besteht aus einer Abfolge von äußerst vielen unwiederholbaren, singulären Tatsachen (Ereignissen). Es ist nicht klar, wie aus dieser Ansammlung singulärer Phänomene ein wie auch immer gearteter allgemeingültiger Satz (Gesetz) abgeleitet oder abstrahiert werden kann.
Das ist vermutlich der Hauptgrund, weshalb sich die Marxschen Prophezeiungen nicht bewahrheitet haben und nicht bewahrheiten konnten. Wohl kann es im Geschichtsablauf gewisse Tendenzen oder Trends geben, die bei ihrer Extrapolation zuweilen Wahrscheinlichkeitsschlüsse auf die Zukunft ermöglichen könnten, allein zwingende Notwendigkeiten kommt diesen nicht zu, denn Gesetze sind sie allemal nicht.
Ein fundamentales Postulat des historischen Materialismus ist Marxens Ökonomismus, d.h. die Behauptung, die materielle, ökonomische “Basis” determiniere letztenendes den gesellschaftlichen (politischen) “Überbau” (obgleich zugegeben wird, daß letzterer bisweilen eine aktive Rolle spielen kann.), vergleiche den berühmten Ausspruch aus dem Vorwort zur “Kritik der Politischen Ökonomie”:
“In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.”6
Verschiedene Autoren haben indes gezeigt, daß diese These nicht richtig ist und daß der ideelle Überbau eine mitunter entscheidende Rolle in der Geschichte zu spielen imstande ist. Nun lassen sich aber die Prämissen einer Behauptung bekanntermaßen stets so verstärken, daß man immer eine gültige Schlußfolgerung erhält. Wenn also ein Marxist behauptet, absolut alles in der Gesellschaft, einschließlich der geringsten Kleinigkeit, sei irgendwie ökonomisch determiniert (ohne unbedingt präzise angeben zu können, wie die ökonomische Verursachung konkret erfolgt), so gleitet diese Behauptung unweigerlich ins metaphysische ab und wird unüberprüfbar. Sie ist dann möglicherweise richtig, aber eben außerwissenschaftlich. Genauso könnte man nämlich behaupten, alle Prozesse in der Gesellschaft würden z.B. irgendwie durch den Mond oder die Luftbewegung oder ein beliebiges anderes Phänomen verursacht.
Zur marxistischen Deduktion der Abfolge der Gesellschaftsformationen
Bekanntermaßen beansprucht der Marxismus geradezu prophetischen Charakter, d.h. er behauptet, die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung (ziemlich genau) vorhersagen zu können. Diese These kann „starker gesellschaftlicher Determinismus“ genannt werden, und sie steht damit an der Grenze zum Fatalismus. Damit verbunden ist die berühmte sogenannte “Abfolge der Gesellschaftsformationen” in der Menschheitsgeschichte: Urgesellschaft, Erste Klassengesellschaft, Sklavenhalterordnung, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus. Jedem Gesellschaftssystem sind nach Marx immanente Widersprüche eigen, die gesetzmäßig zu Veränderungen und seine Ablösung durch die folgende, „höhere“ Gesellschaftsordnung führen. Diese Entwicklung wird, wie gesagt, als deterministisch angesehen.
Das bedeutet aber, folgerichtig zu Ende gedacht, daß jemand, der zum Beispiel in der Epoche der “Sklaverei” gelebt hat und zu seiner Verfügung den Marxismus als Rüstzeug gehabt hätte, z.B. den modernen Kapitalismus hätte vorhersagen können, was eine absurde Konsequenz zu sein scheint. Anschaulicher gefasst: Marx hat angeblich den Sozialismus/Kommunismus aus dem Kapitalismus deduziert. Hätte beispielsweise Platon im selben Verfahren aus seiner Gegenwart, der griechischen Antike mit ihrer (vermeintlichen) “Sklaverei”, auf den Feudalismus und Kapitalismus schließen können? Oder aber: Es ist doch augenscheinlich, das selbst ein Renaissancemensch, der mit noch so großen hellseherischen Fähigkeiten begabt wäre, unter keinen Umständen die kapitalistische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert hätte vorhersagen können. Zweifellos besteht eine kausale Bindung zwischen den früheren und späteren Ereignissen der Menschheitsgeschichte derart, daß die Früheren die Ursache der Späteren bilden. Aber diese Beziehung ist keine der Vorhersehbarkeit, sondern bestenfalls des Zusammenhanges. Daher ist der Marxismus keine Vorher-, sondern eine Nachsage, indem die Geschichte im nachhinein ziemlich willkürlich interpretiert und in künstliche Schemata gepreßt wird. Es hat nämlich niemals eine “Sklavenhalterordnung” oder einen “Kapitalismus” im Marxschen Sinne gegeben, noch weniger lassen sich aus der vermeintlichen Aufeinanderfolge irgendwelcher “Gesellschaftsformationen” in der Vergangenheit Aussagen über die Zukunft treffen.
Wir können (obgleich dies mehr ins Groteske geht) nicht ausschließen, daß gerade Marxens Prophezeiung des Untergangs des Kapitalismus einen von ihm unbeabsichtigten, gegenteiligen Effekt gehabt hat. Wenn mir jemand sagt, daß ich morgen einen Autounfall erleiden werde, werde ich mich vermutlich davor hüten, mich an diesem Tag in ein Auto zu setzen oder überhaupt auf die Straße zu gehen und werde so die Prophezeiung zunichte machen. Ganz analog könnte es sich mit dem vermeintlichen Gesetz von der unaufhaltsamen Verarmung der Proletarier, das Marx entdeckt haben wollte, verhalten: „Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion geht dahin, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken.“7 oder: „Je mehr er (der Arbeiter) arbeitet, um so weniger Lohn erhält er.“8 Diese ständige und unaufhaltsame Zunahme des Elends soll letztendlich in die soziale Revolution einmünden, die den Kapitalismus zerstört und dem Sozialismus zum Durchbruch verhilft. Falls man unterstellt, daß es zu Marxens Zeiten tatsächlich zumindest zeitweilig eine solche Tendenz gegeben hat, hätte Marx, wenn er die soziale Revolution als Resultat dieser Tendenz (die er für ein Gesetz hielt) erkannt hatte, diese seine Entdeckung nicht der ganzen Welt kundtun, sondern vorsichtshalber für sich behalten sollen, damit auch niemand etwas davon merkt und eventuell Gegenmaßnahmen trifft, um die unaufhaltsam näherrückende Revolution zu vereiteln. Durch sein unkluges Verhalten dürfte er aber die Kapitalisten erst recht auf diese Gefahr aufmerksam gemacht haben, so daß sie Vorsorge trafen und anfingen, die Arbeiter besser zu behandeln und zu bezahlen, was schließlich seine Prophezeiung zerstört hat (selbstzerstörende Prophezeiung). Freilich hätte Marx darauf höchstwahrscheinlich geantwortet, daß dies den Kapitalisten beim besten Willen unmöglich wäre, denn das Gesetz von der Verelendung des Proletariats sei objektiv und unerbittlich, gegen das anzukämpfen sie machtlos seien. Allein die geschichtliche Praxis, die nachmarxsche Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft straft eine derartige Behauptung offenkundig Lügen. Der Lebensstandard der Proletarier hat sich seit der Epoche von Marx nämlich keineswegs ständig verschlechtert, sondern ganz im Gegenteil - unablässig verbessert. Es gereichte wahrscheinlich zu Marxens größter Überraschung, daß dergleichen möglich ist. Dies ist aber eine unbestreitbare Tatsache, die die These von der notwendigen Verelendung eindrucksvoll widerlegt. Im übrigen ist die Ansicht von der sich unerbittlich verschärfenden kapitalistischen Ausbeutung und einer damit einhergehenden Verarmung der Arbeiter bereits auf theoretisch-logischer Ebene höchst fragwürdig.
War der Realsozialimus nur eine „Abweichung“ von der „reinen Lehre“?
Marxisten pflegen vor dem Scheitern des realsozialistischen Experiments die Augen zu verschließen, indem sie häufig zu einer typischen Ad-hoc-Annahme Zuflucht nehmen. Der Staatssozialismus in der Sowjetunion und Osteuropa (sowie in China, Kuba, der Mongolei, Nordkorea, Vietnam, Kambodscha usw.) mit all seinen negativen Seiten sei einfach eine “Entartung” oder bloß “Deformation” der “reinen” Lehre, die dadurch in ihrem Kerngehalt nicht angetastet werde. Die Schuld für die Aberrationen wird subjektiven Faktoren, z.B. Persönlichkeiten wie Stalin, Mao oder - in bezeichnender Wiederbelebung dessen, was Karl Popper als “Verschwörungstheorie” bezeichnet - dem bösen Westen, den übelwollenden Kapitalisten usw. zugeschrieben. “An sich” sei die Idee des Sozialismus/Kommunismus noch immer schön (was übrigens mehr als zweifelhaft ist, aber das ist ein anderes Thema), allein ihre bisherige praktische Umsetzung lasse leider zu wünschen übrig. Diese Behauptung ist unzählige Male in allen erdenklichen Spielarten wiederholt worden: „Alle unsere Prinzipien sind gut, es bleibt nichts zu wünschen übrig: Ist denn der Kollektivismus an sich schlecht und braucht das Land keine Industrialisierung?“9 Exemplarisch kann dieser Standpunkt auch durch die Worte Lew Kopelews verdeutlicht werden:
„...weil ich keinen Kommunismus ganz ernst nahm, weil ich ihn so nahm, wie ich´s gelernt und studiert hatte und mich nicht an die neue Ideologie anpassen wollte. Ich dachte damals, daß all das Schlimme, das bei uns geschieht, nur zeitweilige Abweichungen, Verzerrungen sind...“10
Diese Argumentation jedoch ist in sich widersprüchlich und völlig unhaltbar. Freilich räumt auch der Marxismus dem Zufall eine gewisse Bedeutung in der Geschichte ein. Allerdings diese vorgeblichen “Deformationen” waren in Wirklichkeit schreckliche Verbrechen gigantischen Ausmaßes, die das Leben von Millionen von Menschen gekostet haben und sämtliche aus der Geschichte bekannten analogen Vorgänge weit in den Schatten stellen, mithin keine mehr oder weniger geringfügigen oder vernachlässigbaren akzidentiellen Begebenheiten. Nun ist aber der Marxismus eine Doktrin, die die gesellschaftliche Entwicklung als objektiv determiniert (durch die Ökonomie) und nach festen Gesetzen ablaufend ansieht. Daher können diese “Entartungen”, zumal bei ihren gewaltigen Dimensionen, vom marxistischen Standpunkt her nicht zufällig sein, sondern müssen geradezu notwendigen, vorprogrammierten Charakter haben. Die Logik des Marxismus verlangte nun, ein historisches Gesetz aufzuzeigen, auf dessen Grundlage es gleichsam notwendigerweise bei der Errichtung des Sozialismus zu solchen Aberrationen kommen mußte. Hätte jemand zum Beispiel im 19. Jahrhundert dieses Gesetz erkannt - er hätte den “entarteten” Sozialismus vorhersagen können. Ein derartiges Gesetz hat aber bisher noch kein Marxist demonstrieren können. Der Marxismus ist mithin nicht in der Lage zu erklären, wieso es zu dieser verhängnisvollen Entwicklung im Namen des Marxismus kommen konnte. Die Ansicht hingegen, es handele sich dabei um eine zufällige Abweichung, sollte für den Marxisten inakzeptabel sein, denn sie käme der Preisgabe des historischen Materialismus gleich.
Natürlich existiert in Wirklichkeit kein Gesetz, auf dessen Grundlage eine solche Prognose hätte erstellt werden können. Diese Entwicklung kann allerdings sehr wohl von einem nichtmarxistischen Standpunkt, der auf die Aufstellung von universal gültigen Sätzen verzichtet, bereits im voraus als möglich und sogar recht wahrscheinlich erkannt werden. Es ist nämlich ziemlich einleuchtend, daß ein Doktrin, die eine gewaltsame Revolution, gefolgt von einer Diktatur („des Proletariats“), der Verstaatlichung allen Eigentums, der Abschaffung des Marktes usw. fordert, bei ihrer eventuellen praktischen Umsetzung mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein menschenverachtendes Regime münden wird. Das besagt indessen nicht, daß die Menschheit insgesamt oder einzelne Länder zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Geschichte notwendigerweise ein solches Stadium durchlaufen müssen. Diese Position ist selbstredend für einen konsequenten Marxisten in jedweder Hinsicht inakzeptabel.
Wie eingangs gesagt, kann der Marxismus mittlerweile als ein theoretisch und praktisch widerlegtes Gedankengebäude gelten. Zweck dieser Anmerkungen war es lediglich, noch einmal explizit auf einige besonders eklatante Widersprüche dieser erstaunlich zählebigen Doktrin zu verweisen, die noch immer den ideellen Hintergrund in manchen intellektuellen und politischen Kreisen bildet.
1 Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt am Main, 2002, S. 182.
2 Grundregel unseres Sonnensystems: Wer stört, fliegt raus, http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/hintergrund/285371.html.
3 Vgl. Assen Ignatow, Ist die kommunistische Ideologie wirklich überwunden? in Zwischen Krise und Konsolidierung, Köln 1995.
4 Grundsatzprogramm der CDU von 1994, Freiheit in Verantwortung, S. 15.
5 Karl R. Popper, Lesebuch, Hrsg. David Miller, Tübingen 1982, S. 113.
6 Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Vorwort), zitiert nach Marx, Engels, Ausgewählte Schriften, Berlin, 1984, S. 335.
7 Karl Marx, Lohn, Preis, Profit in Marx, Engels, Ausgewählte Schriften, Bd.1, Berlin 1984, S. 417.
8 Karl Marx, Lohnarbeit und Kapital, in Marx, Engels, Ausgewählte Schriften, Bd.1, Berlin 1984, S. 94.
9 Александр Ципко, Хороши ли наши принципы?, in Новый мир Heft 4, 1990, S. 173.
10 Lew Kopelew, Worte werden Brücken, München 1989, S. 43..
(Zum Autor: geboren 1963 in Sofia, Studium der Medizin, Philosophie und Pädagogik in Berlin und Sofia, zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Sofia, zahlreiche eigene Veröffentlichungen sowie Übersetzungen)