Am Ende des Jahres ist es vielleicht erlaubt, auf die Diskussion des Jahres einzugehen. Als Botho Strauß im Februar dieses Jahres im Spiegel (6/47., S. 202-207) den Artikel “Anschwellender Bocksgesang“ veröffentlichte, entfachte er einen Diskurs, der, pauschal gesagt, die Identität der deutschen Linken zum Thema erhob Nach Strauß scheinen die traditionellen Kategorien ‘Links-Rechts‘ angesichts der Problematik der Gegenwart zu versagen. Mit dem Ende des ‘Eisernen Vorhangs‘ wurde dieses Muster der Identitätsfindung von der gesellschaftlichen Entwicklung überholt. Diese Diskussion ist nun kein spezifisch deutsches Phänomen, wie ein Blick auf die europäischen Nachbarländer belehrt. Insofern ist es durchaus berechtigt, den Aufsatz von Strauß als eine seismographische Stimme zur gegenwärtigen Lage zu bezeichnen.
Im Folgenden soll nach den Implikationen des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem gefragt werden, wie es sich im Anschluß an Strauß darstellt.
Auf den ersten Blick machen seine Ausführungen den Eindruck, als wolle er der modernen Kultur, die sich durch rationale Aufklärung konstituiert, den Krieg erklären. Er kritisiert die Herkunftsvergessenheit der westeuropäischen Gegenwart. “Die Überlieferung verendet vor den Schranken einer hybriden Überschätzung von Zeitgenossenschaft, verendet vor der politisierten Unwissenheit jener für ein bis zwei Generationen zugestopfter Erziehungs- und Bildungsstätten, Horste der finstersten Aufklärung, die sich in einem ewig ambivalenten Lock- und Abwehrkampf gegen die Gespenster einer Geschichtswiederholung befinden“ (S. 207). Liegt hier nicht der Schluß nahe, daß Strauß eine Alternative aufzeigt, und zwar die von Tradition oder Aufklärung? Ist nicht die Aufklärung der Inaugurator dieser Herkunftsvergessenheit der Gegenwart? Besteht dann nicht die Rettung darin, sich der Tradition, der Herkunft zuzuwenden? “Wir warnen etwas zu selbstgefällig vor den nationalistischen Strömungen in den osteuropäischen und mittelasiatischen Neu-Staaten. [...] Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.“(S. 202)
Um hier klarer zu sehen, ist es notwendig, das Verständnis von Tradition bei Strauß zu klären. Ihr entscheidendes Profil gewinnt die Tradition oder die Überlieferung durch ihre Polarität zur kritischen Rationalität der Aufklärung. Daraus geht hervor, daß die Überlieferung hier in einem funktionalen Sinne verstanden ist. Mit Überlieferung ist nicht in erster Linie ein Katalog an Inhalten gemeint, sondern ein Vollzug. Die Überlieferung ist so die “oberste Hüterin des Unbefragbaren, des Tabus und der Scheu“ (S. 204). Wird in der Überlieferung die Unvordenklichkeit des Seins bewahrt, also gerade das, was die Rationalität nicht inszenieren kann, so ist sie unverzichtbar für die Rationalität selbst. Deutlich wird dies am Verständnis dessen, was der Mensch ist. Ist der Mensch nicht mehr als das, was man durch allgemeine rationale Strukturen beschreiben kann, so ist er verfügbar. Man kann dann sagen, wer er ist. Damit ist jedoch seine Würde als Einzelner aufgehoben, er ist Glied einer allgemeinen Masse. Der Andere ist dann nicht mehr der Fremde, sondern immer schon das Bild, welches ich von ihm habe. Er wird funktionalistisch eingebunden in unsere Wunschvorstellungen. Es ist kein Zufall, daß Strauß in seinem literarischen Werk die intimsten Beziehungen von Menschen als Begegnung von Fremden beschreibt. Diese Dimension der Fremdheit des Anderen kann von der Rationalität nur um den Preis vernachlässigt werden, daß sie selbst totalitär wird.
Was für den Menschen gilt, dies gilt auch für die gesellschaftliche Identitätsfindung. Wo Ereignisse nicht in ihrer Fremdheit gewahrt werden, kommt es zur Funktionalisierung derselben und damit zur Handhabung. “Die Verbrechen der Nazis sind jedoch so gewaltig, daß sie nicht durch moralische Scham oder andere bürgerliche Empfindungen zu kompensieren sind. Sie stellen den Deutschen in die Erschütterung und belassen ihn dort,‘ unter dem tremendum; ganz gleich, wohin er sein Zittern und Zetern wenden mag, eine über das Menschenmaß hinausgehende Schuld wird nicht von ein, zwei Generationen einfach ‘abgearbeitet‘.“ (S. 204) Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die die, größte Schuld als negativen Wert in die eigenen positiven Werte einbaut, verfehlt nicht nur die eigene Vergangenheit, sondern auch die eigene Identität. In seinem Roman “Der junge Mann“ (1984) beschreibt Strauß die bundesdeutsche Gesellschaft als einen Leichenzug, der sich um den Sarg des großen Königs Hitler formiert. Der Vorwurf, der sich hier ausspricht, nämlich, daß die gesamte bundesdeutsche Gesellschaft ihre Identität in negativer Abgrenzung zum Dritten Reich gewinnt, besagt nichts anderes als die Funktionalisierung von Vergangenheit, die zugleich deren Aufhebung impliziert.
Es wäre also verfehlt, würde man Strauß auf die einfache Alternative von Überlieferung oder Aufklärung festlegen wollen. Auch die Überlieferung für sich genommen bietet kein Rezept für die Bewältigung der gegenwärtigen Probleme. In dem Roman “Kongreß“ (1989) formuliert Strauß genauer Umkehrung zu Hölderlins metaphysischem Trost: “Wo soviel Rettendes wächst, ist die Gefahr, daß es sich um Unkraut handelt, groß.“ Gerade da, wo man einfache Lösungen anbietet, sei es, daß man in der Überlieferung das Rettende erblickt oder in einer einseitigen Aufklärung, befindet man sich in der höchsten Gefahr. Worauf es ankommt, ist eine Rationalität, die sich der Unvordenklichkeit des Seins bewußt ist, und dies kann nur eine solche sein, die die abstrakte Alternative von Überlieferung und Aufklärung überwindet. Daß dies nicht einfach ist und ebensowenig auf eine Harmonie hinausläuft, ist auch Strauß klar: “Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.“ (203) Aber diese Auseinandersetzung ist in einem doppelten Sinne not-wendig.