Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer-Verlag 2003, 445 Seiten, ISBN 3-596-15647-5.
Peter Bieris Buch trifft den Nerv der Zeit. Die Debatte um den freien Willen hat die Mauern der akademischen Elfenbeintürme längst hinter sich gelassen und mittlerweile sogar ins Fernsehen und in die Feuilletons Einzug gehalten hat. Die Frage nach dem freien Willen ist eine der ältesten philosophischen Fragestellungen überhaupt, doch Anfang bis Mitte des 20. Jh. wurde das Thema aufgrund so epochaler Werke wie Gilbert Ryles The Concept of Mind (1949), eine umfangreiche, an Wittgenstein angelehnte Descartes-Kritik mit nachhaltigen Folgen, sowie des Siegeszugs behavioristischer und biologistischer Schulen mit neuer Brisanz behaftet. Diese Brisanz hat im aktuellen Zeitgeschehen keineswegs abgenommen – im Gegenteil. Vermehrt machen sich Stimmen breit, welche beispielsweise abweichendes Verhalten – insbesondere Kriminalität – als ein bloßes Resultat defekter neuronaler Verbindungen auffassen. Begriffe wie Schuld, Reue und (moralische) Verantwortung drohen im Zuge dieser Biologisierung bzw. Mechanisierung des homo sapiens (vernunftbegabter Mensch!) ihren Anspruch auf Legitimität zu verlieren.
Warum dem nicht so sein muss, und weshalb die Erkenntnisse der Neurowissenschaften unserem Bild eines autonomen, aufgeklärten und willentlich handelnden Menschen nicht zwangsläufig den Garaus machen müssen, legt der 1944 in Bern geborene Bieri, Professor für Philosophie an der FU Berlin, auf eindrucksvolle Weise in seinem Buch dar. Der Untertitel lautet: „Über die Entdeckung des eigenen Willens“, und diesem Slogan wird Bieri durchaus gerecht, denn die Methode seines Werks ist nicht die klassische, akademische Abhandlung, gespickt mit Fußnoten und Fachtermini. Der Adressatenkreis schließt ausdrücklich auch interessierte Laien mit ein, und dieses hochgesteckte Ziel erfüllt Bieri mit spielerischer Leichtigkeit, indem er uns auf eine Reise mitnimmt, bei welcher wir immer wieder dem Protagonisten aus Dostojewskis Jahrhundertroman Verbrechen und Strafe begegnen: Rodion Raskolnikov, ein bettelarmer, ehemaliger Student, der sich aus Geldnöten dazu verleiten lässt (oder sich selbst dazu verleitet?), eine alte, wucherische Pfandleiherin zu ermorden, bei welcher er zuvor sein gesamtes Hab und Gut versetzen musste, um überleben zu können. Der dem Leser fortwährend servierte Fall Raskolnikov hat es in sich, denn nachdem er verhaftet worden ist, stellt sich dem Richter wie auch dem Leser von Bieris Buch die entscheidende Gretchenfrage: Ist Raskolnikov lediglich ein Opfer determinierter Umstände, so dass seine Tat unausweichlich geschehen musste und er in dieser Hinsicht nicht zur (moralischen) Verantwortung gezogen werden kann, oder aber ist er voll und ganz schuldig, da er absichtsvoll und willentlich gehandelt hat bzw. auch hätte anders handeln können?
Bieri votiert für die zweite Option, denn Bieris Mantra lautet schlicht: „Frei ist man, wenn man auch anders handeln kann“. Doch wie lässt sich dieses Mantra im Falle Raskolnikov rechtfertigen? Haben wir nicht allerlei Determinanten, welche die Mordtat nachvollziehbar, ja erklärbar und vielleicht sogar vorhersagbar machen? Bieri überspielt solche Einwände keineswegs und stimmt ihnen unter Vorbehalt sogar zu: Zwar lebten wir in einer von Naturgesetzen und Kausalitäten beherrschten Welt, doch diese Weltansicht schließe noch lange nicht die Möglichkeit eines freien Willens aus. Bieri hält einen Determinismus, der sich auch auf unser Verständnis von Willensfreiheit erstreckt, für einen logischen non sequitur, erwachsen aus sprachlichen Verwirrungen, welche die tatsächlichen Umstände verkennen.
Die von uns erlebte Wirklichkeit lehrt uns, was kein noch so durchtriebener Determinist wegvernünfteln kann – unser Gefühl von Freiheit. Hier sind wir bei einer zentralen Aussage Bieris angelangt: Statt sich auf äußere Umstände und naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle zu beschränken, müsse man die „innere Perspektive“ einnehmen. Und im Rahmen dieser inneren Perspektive fühlten wir uns frei – gleich, was uns die Neuro- und andere Naturwissenschaften über die Bedingtheit unseres Handelns erzählen wollen. Bieri plädiert eingehend dafür, Introspektion zu betreiben, um seinen eigenen Willen zu erfahren.
Dabei registriert Bieri durchaus, dass unser Wille in einem begrenzten Spielraum agiere: Die Idee einer unbedingten Freiheit sei eine Fata Morgana. Ich kann noch so sehr im Lotto gewinnen oder ein berühmter Opernsänger sein wollen – die Wirklichkeit bzw. unsere physischen Fähigkeiten machen einem solchen Wollen einen Strich durch die Rechung. Bieri zeigt uns: Willensfreiheit ist nicht gleichzusetzen mit Handlungsfreiheit! Diese Feststellung ist deshalb so bedeutend, da der commonsense meist eine fehlgeleitete Definition des Begriffs der Willensfreiheit besitzt: „Jemand ist frei, wenn er tun und lassen kann, was er will“. Doch Bieri zeigt deutlich, dass dies nicht der Fall sein kann. Des Weiteren stellt Bieri folgerichtig fest, dass unser Wille nicht nur Grenzen bei der Ausübung, also seiner Verwirklichung erfahre, sondern dass er überdies auch durch andere Faktoren eingeschränkt oder manipuliert werden könne, sei es durch Hörigkeit gegenüber Autoritäten oder dem Konsum von Drogen. Von Willensfreiheit können wir nach Bieri also nur dort reden, wo es „Spielräume möglicher Handlungen gebe“, sprich dort, wo man auch anders handeln könne.
Das Gegenteil von Freiheit bzw. vom Gefühl der Freiheit sei Zwang, so Bieri. Und genau hierin stößt der Determinismus an seine Grenzen, denn im Rahmen der inneren Perspektive verspüren wir keinen Zwang, sondern vielmehr das Gefühl der Willensfreiheit. Wenn ich überlege, ob ich einen Apfel oder Schokolade essen möchte, dann bin ich der verantwortliche Urheber meiner Entscheidung. Fällt meine Wahl auf die Schokolade, so geschehe das als willentliche Handlung, da ich mich als Auslöser, sprich als Urheber dieser Wahl verstehe, und nicht etwa deshalb, weil ich von irgendwelchen Determinanten dazu genötigt worden bin.
Doch Bieri bemerkt auch, dass die Analyse unvollständig wäre, würden wir nicht betonen, dass unsere Freiheit nicht einfach vom Himmel fällt. Urheber und Autoren unseres Lebens werden wir erst durch einen fortwährenden Prozess der Übung und des Verstehens: „In dem Maße, in dem die Aneignung des Willens auf Artikulation und Verstehen beruht, handelt es sich um einen Erkenntnisprozess. Wachsende Erkenntnis bedeutet wachsende Freiheit. So gesehen ist Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit.“ Wir müssten unseren Willen und dessen alltägliche Verwirklichung prüfen, kritisieren und abwägen, sodass eine gewisse Übung und Feinfühligkeit im Umgang mit unserer Willensfreiheit ermöglicht werde. Kurzum: Freiheit ist ein Handwerk!
Peter Bieri hat ein wortgewandtes, gut lesbares und vor allem ideenreiches Plädoyer für die Willensfreiheit verfasst. Er bekennt ehrlich, dass das Problem äußerst vertrackt ist und dass sein Werk deshalb keineswegs einen Schlussstrich setzen kann... und damit sind wir beim altbekannten Problem angelangt: wissenschaftliches Weltbild vs. gefühlte Freiheit.
Der in Berkeley lehrende Philosoph John R. Searle (2004) beispielsweise betont gleich Bieri, dass wir die starke Intuition von einem freien Willen nicht einfach leugnen können, indem wir auf neurowissenschaftliche Erklärungsmodelle verweisen. Denn im Gegensatz zu deren Laborkultur machen wir Menschen schon bei banalsten, alltäglichen Situationen Erfahrung mit unserer Willensfreiheit. Niemand würde auf die Frage eines Kellners, was man denn zu essen wünsche, antworten, dass man eben Determinist sei und deshalb einfach abwarten müsse, was nun passiere und was man schließlich essen werde. Kurzum, wir entscheiden uns für eine Speise unserer Wahl, und selbst dann, wenn man sich der Erklärung dieser Wahl mit neurobiologischen, deterministischen Theorien annähert, verbleibt dennoch das unauslöschliche Gefühl, dass wir es sind, die da entscheiden. Ich denke, dass Bieris Beschreibung dieser starken Intuition nicht aus dem Weg zu räumen ist. Es ist ja nicht so, dass wir einer Halluzination unterliegen würden – die von Bieri immer wieder betonte „innere Perspektive“ ist erlebte Realität und in dieser Hinsicht eine empirische Entität, die bisher kein neurowissenschaftliches Modell zu erklären, geschweige denn zu desillusionieren vermochte. Und es ist fraglich, ob wissenschaftliche Erklärungsmodelle das überhaupt irgendwann einmal zustande bringen werden. In einem Artikel beschreibt Bieri diesen Umstand mit einer treffenden Analogie (Bieri 2005):
Wenn wir ein Gemälde betrachten, so können wir dies aus verschiedenen Perspektiven tun. Aus der einen (der objektiven) ist das Bild 30 kg schwer, hat den und den Handelwert, ist mit Öl gemalt etc. Aus der anderen jedoch (der subjektiven) ist das Gemälde schön, hässlich oder kitschig, es hat die und die Aussage und Bedeutung, wir können über die Intention des Malers spekulieren etc. Nun sind beide Perspektiven richtig – richtig in dem Sinne, da sie sich nicht auf eine von beiden Perspektiven reduzieren lassen und sie deshalb beide ihre Legitimation haben. Das gleiche gelte für das Problem der Willensfreiheit, denn es wäre ein Kategorienfehler, wenn wir sagten, dass das Hirn entscheidet und nicht wir, da beim Entscheiden von Gründen, Überlegungen und Verantwortung die Rede ist und nicht bloß von Ursache und Wirkung.
Oder anders formuliert: Würde der Richter Raskolnikov freisprechen, wenn er wüsste, dass Raskolnikov keinen freien Willen habe? Nein! Unsere Intuition, unser Gefühl sagt uns, dass wir ihn schuldig sprechen müssen, weil er für seine Tat verantwortlich zu machen ist. Es käme ja auch kein Richter auf die Idee, Raskolnikov freizusprechen, bloß weil dieser darwinistischen Gesetzen unterliege, obgleich sich die Evolutionstheorie Darwins als wissenschaftlich korrekt erwiesen hat. Ebenso wenig würde es einen Freispruch geben, wenn sich die Experimente Benjamin Libets (1993) als Indiz dafür anwenden ließen, dass wir keinen freien Willen haben.
Doch manchmal scheint es, als stimme Bieri einem fatalistisch gefärbten Weltbild zu, und zwar an jenen Stellen, an welchen seine Definition des Freiheitsbegriffes zu schwanken beginnt. Laut Bieri herrsche immer dort Freiheit, „wo mein Wille sich meinen Urteilen fügt“. Es liegt nahe, anzunehmen, dass diese Urteile durch und durch biologisch oder gesellschaftlich determiniert sind. Kann man Urteile nicht als Reaktion auf biologische Funktionen auffassen, der Ausschüttung von Hormonen oder dem reizgesteuerten Feuern von Neuronen? Können Urteile nicht aus einem funktionalistischen trial-and-error Prinzip erwachsen, wie es uns die Behavioristen ans Herz legen? Wenn sich diese Theorien faktisch bestätigen sollten, dann können Gefühle und andere Entitäten nicht mehr die Rolle spielen, die Bieri ihnen zuweist.
Richtig – noch kann es sich Bieris Idee der Willensfreiheit leisten, solch kritische Ansätze außen vor zu lassen, doch was werden zukünftige Forschungsergebnisse zu Tage fördern? Bieri räumt zwar ein, dass unser Wille durch unsere Lebensgeschichte bedingt sei, doch gleichsam verweist er auf sein Mantra „Ich hätte auch etwas anders wollen können“ und folgert weiter: „Die Offenheit der Zukunft, die wir für die Freiheitserfahrung brauchen, liegt im Spiel der Einbildungskraft. Und nur in diesem Spiel. [...] Als vorgestellte Möglichkeiten üben sie echten und tatsächlichen Einfluss auf den Willen aus, der durch diesen Einfluss zu einem freien Willen wird.“
Einerseits sind die äußeren Umstände und damit die Zukunft determiniert, andererseits ist die Zukunft aus der inneren Perspektive, einem Produkt der Phantasie, offen. Man kann Bieri berechtigterweise vorwerfen, dass seine Folgerung, dass die vorgestellten Möglichkeiten den Willen beeinflussten, nichts als pure, spekulative Metaphysik sei. Schließlich bietet Bieri ja nur eine Beschreibung der Umstände, und von diesen kann man nicht ohne weiteres auf einen Ist- oder gar Soll-Zustand schlussfolgern. Es ist fraglich, wie Bieri die Bevorzugung der subjektiven Perspektive zu legitimieren vermag – kann die andere, die wissenschaftliche Perspektive nicht ebenso ihren Anspruch auf Richtigkeit einfordern?
Bieris Schlussfolgerungen bewegen sich auf dünnem Eis, das die Neurowissenschaften in naher Zukunft zum Schmelzen bringen könnten. Denn welchen Gehalt hätten Bieris Thesen, wenn selbst die „innere Perspektive“ völlig aufgeschlüsselt werden würde, sodass wir in der Lage sind, jegliche Handlung zu erklären und gar vorherzusagen? Der GAU würde dann eintreten, wenn wir via bildgebender Verfahren alle Determinanten unseres Handelns ausfindig machen könnten, und wenn diese technischen Möglichkeiten z.B. Einzug in die Gentechnik oder Rechtssprechung halten würden. Es ist, wie zuvor erwähnt, richtig, dass unser moralisches Empfinden bzw. unsere erlebte Freiheit dadurch nicht einfach verschwindet. Wenn wir aber tatsächlich in die Köpfe schauen könnten, dann besteht die berechtigte, von Bieri nicht weiter beachtete Gefahr, dass unsere Freiheitserfahrungen lediglich als schmückendes, aber wirkungsloses Beiwerk einer perfekten Maschinerie betrachtet werden. Wenn wir erst einmal (un-)dank der Technik bemächtigt sind, in Raskolnikovs Hirn zu schauen und einen Faktor X ausfindig zu machen, der seine Mordtat „erklärt“, dann besteht die reale Gefahr, das Raskolnikov wohl oder übel als Opfer seines Hirns, als bloßer Automat, betrachtet und vor allem behandelt werden wird.
Das Hand-Werk der Freiheit wäre nur noch Blend-Werk. Der Glaube an die Willensfreiheit wäre wie der Glaube an Gott. Niemand kann solch einen Glauben weg-argumentieren, doch die Welt, vor allem die der naturwissenschaftlichen Methoden, funktioniert und erklärt sich in der Praxis bestens ohne diesen Glauben. Wenn dieses Szenario eintreten sollte, dann würden sich Bieris Ausführungen leider als pure Illusion entpuppen, da sich die Idee der Verantwortung buchstäblich in Luft auflösen würde.
Abschließend sei also betont, dass in dieser Angelegenheit nicht Bücher oder Manifeste das letzte Wort haben werden, sondern schlichtweg die tatsächlichen, zukünftigen Entwicklungen der Wissenschaften – alles andere ist Spekulation. Somit müssen wir konstatieren, dass sich Bieris Buch mit einer offenen Frage beschäftigt, sodass wir zwar kritische Anmerkungen vorbringen können, aber keine stichhaltigen Argumente.
Eines zeigt Bieris Buch jedoch ganz gewiss: Was auch immer die Zukunft bringen mag, wir müssen und sollten nicht schicksalsergeben zuschauen, wie die Dinge ihren Lauf nehmen. Vielmehr sollten wir uns einmischen, Prognosen wagen und vor Folgen warnen, insbesondere vor einem allzu voreiligen Abschied der Ethik und des alten Menschenbildes. Genau dieses Anliegen hat Bieri mit seinem Werk eloquent und streckenweise auch recht überzeugend umgesetzt, und deshalb ist es ein wichtiges und im wahrsten Sinne des Wortes be-freiendes Buch.
Bieri, Peter (2003): Das Handwerk der Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer-Verlag
Bieri, Peter (2005): „Unser Wille ist Frei“. DER SPIEGEL. Vol. 2/2005, S. 124-125.
Libet, Benjamin (1993): „The Neural Time Factor in Conscious and Unconscious Events”. Experimental and Theoretical Studies of Consciousness. Ciba Foundation Symposium 174. New York: Wiley.
Ryle, Gilbert (1949): The Concept of Mind. London: Hutchinson.
Searle, John R. (2004): Mind. Oxford: Oxford University Press.