Geistes- und Naturwissenschaften werden üblicherweise anhand ihrer Gegenstände und/oder ihrer Methoden voneinander abgegrenzt. Einige Modelle behaupten eine Konvergenz beider Diskursformen, z. B. unter dem Kriterium „Ästhetizität“. Außerdem werden normative Aussagen darüber getroffen, wie sich Geisteswissenschaften (GW) und Naturwissenschaften (NW) zueinander verhalten sollen. Demgegenüber schlagen wir vor, die beiden Diskursformen in Anlehnung an ein Konzept Luhmanns über verschiedenartige „Beobachtungsperspektiven“ voneinander abzugrenzen: GW perspektivieren alle Beobachtungen auf erkenntnistheoretische Fragestellungen hin. NW verzichten auf diese Perspektivierung. Dieser Ansatz erlaubt es, das Verhältnis von NW und GW neu zu konstruieren, und zwar in Übereinstimmung mit empirischen Befunden zur Wissenschaftspraxis.
Jedes Modell zum Verhältnis von GW und NW setzt eine vorgängige Unterscheidung zwischen diesen Begriffen voraus. Für welchen Zeitpunkt ein solche Unterscheidung nachzuweisen ist, bleibt umstritten. Meist wird das 19. Jahrhundert genannt, zuweilen die Renaissance, manche Autoren plädieren für einen noch früheren Zeitpunkt.i Dabei werden verschiedene Unterscheidungsmerkmale in Anspruch genommen: die Einteilung der möglichen Gegenstände des Wissens in Artefakte und Naturgegenstände,ii die Erfindung der Begriffe „Geistes“- bzw. „Naturwissenschaft“iii oder die akademische Institutionalisierung zweier unterschiedlicher Formen des Wissens im 19. Jahrhundert.iv
Die maßgeblichen wissenschaftstheoretischen Entwürfe des späten 19. und 20. Jahrhunderts grenzen GW und NW anhand ihrer Gegenstände und/oder ihrer Methoden ab. Das gilt zum Beispiel für Dilthey:v Als GW firmieren alle “Wissenschaften des handelnden Menschen”. Das schließt neben den Philologien und der Geschichtsschreibung auch die Sozialwissenschaften ein. Aus der Beschaffenheit der Gegenstände geisteswissenschaftlicher Forschung wird die hermeneutische Methode des „Verstehens“ abgeleitet. Sie fungiert als methodisches Unterscheidungsmerkmal: “Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er.” Die Naturwissenschaften werden methodisch durch das „Erklären“ gekennzeichnet.vi
Ein methodisches „Abgrenzungskriterium“ findet sich auch im Frühwerk Poppers. Hier werden Aussagen der „empirischen Wissenschaft“ anhand ihrer „Falsifizierbarkeit“ von „meta-physischen“ Aussagen unterschieden. Es liegt nahe, die „empirische Wissenschaft“ mit den NW gleichzusetzen. Demgemäß kündigt der Untertitel der ersten Auflage der Logik der Forschung (1934) eine „Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft“ an.vii GW sind als Spezialfall von Metaphysik einzuordnen.
Das Abgrenzungskriterium präjudiziert die weitere Ausarbeitung der Modelle. So kann es nicht überraschen, dass Dilthey und Popper im Detail zu verschiedenen Festlegungen gelangen. Doch in einem sind beide sich einig: Geistes- und Naturwissenschaften sind grundverschieden.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird zunehmend eine Konvergenz beider Diskursformen behauptet. In diesem Zusammenhang sind Kuhn, Feyerabend, Rorty und auch der ‘späte’ Popper zu nennen.
Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (1962) setzt sich von Poppers „Kritischem Rationalismus“ in einer entscheidenden Hinsicht ab: Methodische Standards können in den NW nie dauerhafte Verbindlichkeit beanspruchen. Sie werden vom gerade vorherrschenden „Paradigma“ definiert.viii Eine endgültige Falsifizierung von Theorien ist folglich nicht möglich.
Feyerabend radikalisiert diesen Ansatz: Methodische Standards spielen in der Wissenschaftspraxis eine weitaus geringere Rolle als gemeinhin angenommen wird.ix Mehr noch: Sie sollten gänzlich aufgegeben werden. Die wissenschaftliche Kreativität kann davon nur profitieren. Against Method (1975) plädiert für eine „anarchistische“ Erkenntnistheorie:
“Science is an essentially anarchistic enterprise: theoretical anarchism is more humanitarian and more likely to encourage progress that its law-and-order alternatives.” (S.17)
Darum gilt: „Anything goes“.x Ein methodisches Abgrenzungskriterium für NW und GW kann nicht angegeben werden, und eine Abgrenzung hinsichtlich der Gegenstände wird nicht in Erwägung gezogen. NW und GW sind von gleicher Art.xi
Rorty versucht in Philosophy and the Mirror of Nature (1979), diese ‘Konvergenzthese’ erkenntnistheoretisch zu stützen. Der Begriff „Wahrheit“ soll nicht mehr verwendet werden. Alle Beschreibungen – ob von Wissenschaftern, Dichtern oder Mystikern – haben denselben Status. Sie sind Fiktionen:
“The utility of the “existentialist” view is that, by proclaiming that we have no essence, it permits us to see the descriptions of ourselves we find in one of (or in the unity of) the Naturwissenschaften as on a par with the various alternative descriptions offered by poets, novelists, depth psychologists, sculptors, anthropologists, and mystics. The former are not privileged representations in virtue of the fact that (at the moment) there is more consensus in the sciences than in the arts. They are simply among the repertoire of self–descriptions at our disposal” (Rorty 1979, S.362).
Auch im Spätwerk Poppers werden GW und NW der Dichtung angenähert. Literatur wird zum genus proximum beider Diskursformen:xii
“Schließlich ist die Wissenschaft ein Teil der Literatur; und wissenschaftliche Arbeit ist eine menschliche Tätigkeit wie das Bauen eines Domes. Sicher gibt es in der heutigen Wissenschaft zu viel Spezialisierung und Professionalismus, wodurch sie unmenschlich wird; doch das gilt leider von der heutigen Geschichtswissenschaft oder Psychologie fast im gleichen Maße wie für die Naturwissenschaften. [...] Es ist lange Mode gewesen und nachgerade langweilig geworden, auf dem Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften herumzureiten” (Popper 1973, S.206).
Feyerabend arbeitet diesen Gedanken in Wissenschaft als Kunst (1984) weiter aus. Im Anschluss an Vorschläge Riegls zum Stilwechsel in den Künsten wird die Entwicklung der NW als eine Abfolge von Denkstilen vorgestellt.xiii
Auch Ergebnisse der Quantenphysik werden bemüht, wenn es gilt, die Differenz von GW, NW und Dichtung auf dem Niveau ‘schwacher' Erkenntnisansprüche zu nivellieren:
Literature has felt authorized to make such a jump [gemeint ist die Rezeption naturwissenschaftlicher Theorien] also due to the discovery of various principles of indeterminacy in science, which led to the awareness of a common ground of uncertainty linking the two branches'' (Carpi 2004, S. 49, Hervorhebung d.V.)
Das hebt auf Heisenbergs „Unschärferelation“ ab.xiv Diese zeigt aber keinen „common ground of uncertainty“ an.
Die „Unschärferelation“ ergibt sich aus der Schrödinger-Gleichung, der Grundgleichung der Quantenmechanik. Diese ermöglicht Vorhersagen über das experimentell zu beobachtende Verhalten von Systemen im Mikrokosmos. So lässt sich die Verteilung z. B. des Impulses und des Orts eines quantenmechanischen Objekts in einem gegebenen System exakt bestimmen. Verteilungen sind determiniert.
Die „Unschärferelation“ zeigt lediglich, dass Objekte im Mikrokosmos anders als im Makrokosmos beschaffen sind.xv Die englische Übersetzung „uncertainty principle'' ist irreführend, und die Rede vom „common ground of uncertainty'' beruht auf Missverständnissen. Die Quantenphysik ist ungeeignet, die These von der Konvergenz von GW und NW zu legitimieren.
Die Diskussion über das Verhältnis von GW und NW nimmt, wenn sie auf deren Verschiedenheit abhebt, häufig polemische Züge an. Das ist auf explizite oder implizite Wertungen zurückzuführen, die eine Überlegenheit der einen oder der anderen Diskursform behaupten. Erstmals wurde eine solche Auseinandersetzung in den 1880er Jahren zwischen Matthew Arnold und Thomas Henry Huxley ausgetragen. Hauptstreitpunkt ist die Frage, ob das Studium der Literatur oder die NW im Mittelpunkt des Unterrichts an den Schulen stehen sollen. Arnold plädiert unter Berufung auf ein humanistisches Bildungsideal für den Vorrang der GW:
“If then there is to be separation and option between humane letters on the one hand, and the natural sciences on the other, the great majority of mankind, all who have not exceptional and overpowering aptitudes for the study of nature, would do well, I cannot but think, to chose to be educated in humane letters rather than in the natural sciences. Letters will call out their being at more points, will make them live more” (Arnold 2000, 1556).
Huxley hält diese Einschätzung für falsch:
“For the purpose of attaining real culture, an exclusively scientific education is at least as effectual as an exclusively literary education” (Huxley 2000, 1561).
Außerdem meint er, in der industrialisierten Welt sei eine naturwissenschaftliche Ausbildung geradezu überlebenswichtig.
Mitte des 20. Jahrhundert wird diese Auseinandersetzung von C.P. Snow und F.R. Leavis weitergeführt.xvi Snow kritisiert in Übereinstimmung mit Huxley jene Autoren, die allein das Studium der Literatur als Quelle von ‘Bildung’ anerkennen. Er verwahrt sich zwar gegen den Vorwurf, The Two Cultures (1959) nehme eine Wertung vor. Dass „scientific culture“ in einem günstigeren Licht erscheint als „literary culture“, ist aber unübersehbar.xvii Daran entzündet sich Leavis Kritik.
Solche Diskussionen sind von zweifelhaftem Wert: Sie leben von Übertreibungen und polemischer Einseitigkeit. Oft werden Theorie und Praxis mindestens einer der beiden Diskursformen falsch eingeschätzt. Auch ist die Wertung meist schon im Abgrenzungskriterium impliziert, ohne dass dieser Zusammenhang offengelegt würde. Trotzdem haben ‘feuilletonistische’ Diskurse mehr Einfluss auf die Allokation von Fördermitteln als vergleichsweise nüchterne wissenschaftstheoretische Arbeiten. Darum sind sie, trotz aller Vorbehalte, der Aufmerksamkeit wert.
Thesen zum Verhältnis von GW und NW haben oftmals auch normativen Charakter: Sie sprechen Empfehlungen darüber aus, wie deren Repräsentanten miteinander umgehen sollen. So wird ihnen nahe gelegt, sich ‘kooperativ’ oder ‘kompetitiv’ zu verhalten oder die Einseitigkeiten der jeweils anderen Diskursform zu ‘kompensieren’. Nur selten wird ‚splendid isolation’ empfohlen.xviii
Viele Autoren meinen, der „Graben“ zwischen GW und NW müsse geschlossen werden.xix So plädieren sie für ein ‘kooperatives’ Verhältnis: Snow konstatiert in The Two Cultures einen status quo wechselseitiger Ignoranz und wirbt – vor allem aus politischen und ökonomischen Gründen – für Zusammenarbeit. Edward O. Wilson geht noch weiter: Ziel solcher Kooperation ist die „Einheit des Wissens“ („consilience“).
“Die Grundidee bei der Vorstellung von einer natürlichen Einheit allen Wissens ist, daß alle greifbaren Phänomene, von der Sternengeburt bis hin zu den Funktionsweisen von gesellschaftlichen Institutionen, auf materiellen Prozessen basieren, die letzten Endes auf physikalische Gesetze reduzierbar sind, ganz egal wie lang oder umständlich ihre Sequenzen sind. [...] Doch der wesentliche Punkt neben der Vorstellung von einer natürlichen Einheit allen Wissens ist, daß Kultur, und daher auch die einzigartigen Merkmale der Spezies Mensch, nur dann einen wirklichen Sinn ergibt, wenn sie in einen Kausalzusammenhang mit den Naturwissenschaften gestellt wird. Und dafür bietet sich die Biologie als nächstliegende und relevanteste aller wissenschaftlichen Disziplinen an” (Wilson 1998, S.355).
Nach Wilson wird die „Einheit des Wissens“ durch die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden in allen Forschungsbereichen erreicht. Darum sind Wilsons Vorschläge für viele Geisteswissenschaftler inakzeptabel. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes soll begründet werden, warum das Unbehagen gegenüber forcierter ‘Interdisziplinarität’ durchaus gerechtfertigt ist.
Die Idee eines ‘kompensatorischen’ Verhältnisses zwischen GW und NW spielt bereits in der Arnold–Huxley Debatte eine wichtige Rolle. Zuletzt wurde sie vor allem von Odo Marquard vertreten: “Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften.” (Marquard 1986, S.98f.) Die Geisteswissenschaften erzählen „Sensibilisierungsgeschichten“, „Bewahrungsgeschichten“ und „Orientierungsgeschichten“. Damit kompensieren sie „Modernisierungsschäden“, die vom naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt herrühren.xx
Ein ‘kompetitives’ Verhältnis von GW und NW wird vor allem von politischen Entscheidungsträgern gefordert. Hier geht es um Allokationsfragen.xxi Die Präferenz von Politik und Sponsoren für ‘Interdisziplinäres’ kann auch erklären, weshalb die Idee einer ‘splendid isolation’ kaum jemals vertreten wird. Ausnahmen gibt es dennoch. So schreibt Melvin Lasky, Mitherausgeber von Encounter, dem publizistischen Forum der Snow-Leavis-Debatte:
„Ich glaube, es gab immer zwei Kulturen, und wird sie auch immer geben. Und wenn wir es für noch so unerwünscht halten, wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern...” (Gingerich 1975, S.484).
Lasky hat Recht. Warum?
Die folgenden Überlegungen zielen auf die Differenz von GW und NW. Als Abgrenzungskriterium fungiert deren ‘Reflexionsebene’ oder ‘Erkenntnisinteresse’. Mit Blick auf Gegenstände und Methoden werden keinerlei Festlegungen getroffen. Das ist in zweierlei Hinsicht von Vorteil: Zum einen greifen NW längst auch auf Gegenstände zu, die traditionell die Domäne der GW bilden. Umgekehrt äußern sich Geisteswissenschaftler zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen. Das wird für diejenigen Modelle zum Problem, die den Gegenstandsbereich zum Abgrenzungskriterium von GW und NW erheben. Zum andern müssen Modelle mit einem methodischen Abgrenzungskriterium die unbestreitbare „Anarchie“ der Methoden durch normative Setzungen eskamotieren oder vorschnell auf die Ununterscheidbarkeit beider Diskursformen schließen. Darüber hinaus kann das hier offerierte Modell erklären, warum es bis heute – trotz aller Deklarationen über die „Einheit der Wissenschaft“ – „zwei Kulturen“ gibt: GW und NW verfolgen jenseits aller vermeintlichen methodischen Differenzen grundverschiedene ‘Erkenntnisinteressen’. Die Repräsentanten der beiden „Kulturen“ haben einander in der Tat nichts zu sagen, und dieser Umstand ist nicht beklagenswert.
Um die allzu vage Rede von ‘Reflexionsebenen’ oder ‘Erkenntnisinteressen’ genauer zu fassen, führen wir einen Begriff aus der Systemtheorie ein: „Beobachten“, die Einheit von „Unterscheiden“ und „Bezeichnen“.xxii Dieser Begriff enthält keine Vorentscheidung zugunsten des epistemischen Realismus oder des Konstruktvismus: Zwar werden Unterscheidungen – folgt man Luhmann – in einen „unmarked state“ eingezeichnet, und demgemäß kann kein Beobachtetes der Beobachtung präexistieren. Eine realistische Deutung ist aber möglich: Ob Wirklichkeit unabhängig von Beobachtung ein „unmarked state“ ist, kann kein Beobachter entscheiden. Die These, Unterscheidungen gäben präexistierende Unterscheidungen in einer „Welt-an-sich“ wieder, kann nicht widerlegt werden.xxiii Das klingt zwar verstiegen, doch epistemischen Realismus glaubwürdig zu begründen, war immer schon schwierig.xxiv Trotzdem ist die Vorstellung, jene Wirklichkeit ‘vor der Beobachtung’ sei der ‘Erkenntnis’ zugänglich, bis heute verbreitet, und zwar auch unter Philosophen: Voraussetzungsreiche Argumente können überzeugen, sofern ihre conclusio plausibel erscheint. Für die realistische Deutung von „Beobachten" gilt das umso mehr, als sie der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes entspricht. So können beide Lager: epistemische Realisten wie Konstruktivisten auf diesen Begriff zugreifen. Er ist erkenntnistheoretisch indifferent. Das ist deswegen wichtig, weil die Behauptung, NW seien durch eben diese Indifferenz gekennzeichnet, im Weiteren von einiger Bedeutung sein wird.
Vorab ist zu begründen, warum ein einzelner Begriff aus dem Vokabular Luhmanns herausgelöst wird: Dass die „Wissenschaft der Gesellschaft“ (1992) im Fach „Wissenschaftstheorie“ recht zögerlich rezipiert wird, mag man kontingenten Umständen wie der traditionell eher geringen Kooperationsbereitschaft der Soziologie gegenüber zurechnen, auch Luhmanns hermetischer Schreibweise und teilweise extravaganten Interpretationen klassischer Probleme der NW. In unserem Zusammenhang ist Luhmanns Entwurf nur von begrenztem Interesse: Wissenschaft wird als Einheit vorgestellt. Das Verhältnis von GW und NW bleibt unberücksichtigt. Darüber hinaus sind Luhmanns Ausführungen in mancher Hinsicht recht anfechtbar: So werden Theorien im System Wissenschaft anhand der Unterscheidung „wahr vs. unwahr“ evaluiert. Doch in der naturwissenschaftlichen Sprache kommt diese Unterscheidung nicht vor: „Wahrheit“ wird dem Vokabular der Metaphysik zugerechnet. Für die GW gilt das umso mehr: Die Hochkonjuktur von konstruktivistischen und de-konstruktivistischen Theorien hat „Wahrheit“ aus dem begrifflichen Inventar der GW eliminiert. Für Luhmanns Vorschlag, „wahr vs. unwahr“ als Leitunterscheidung des Systems Wissenschaft anzusehen, fehlen demnach die empirischen Anhaltspunkte.xxv
Auch die Entscheidung, jedem System genau eine operative Leitunterscheidung zuzuweisen, ist anfechtbar. Zwar garantiert das Übersicht, Ökonomie, Eleganz. Aber entspricht es der Praxis der Wissenschaft? Tatsächlich werden stets mehrere Unterscheidungen zur Evaluierung von Theorien eingesetzt, z. B. „ökonomisch vs. unökonomisch“, „konsistent vs. inkonsistent“, „heuristisch ergiebig vs. nicht ergiebig“, „anschlussfähig (gegenüber vorangehenden und nachfolgenden Beobachtungen) vs. nicht anschlussfähig“.xxvi Ist es erforderlich, ist es vertretbar, diese Unterscheidungen einer einzelnen Leitunterscheidung zu subsumieren? Wenn ja, dann scheint die Unterschiedung „gerechtfertigt vs. nicht gerechtfertigt“ den Intentionen der Forscher besser zu entsprechen als „wahr vs. unwahr“.
Eine weitere Besonderheit der Systemtheorie liegt in der rigiden wechselseitigen Abgrenzung der Systeme. Auch das ist elegant. Doch ist es sachgerecht? Im Spätwerk Poppers wird Wissenschaft als Spezialfall von Kunst dargestellt, und selbst wer Popper nicht folgen mag, muss zugestehen, dass ästhetische Merkmale bei der Konstruktion und Evaluierung geistes- und naturwissenschaftlicher Theorien eine wichtige Rolle spielen. Die Systemtheorie selbst ist ein Beispiel dafür.xxvii
Kurz: Dass Luhmann „selektiv“ rezipiert wird, rechtfertigt sich erstens aus immanenten Problemen seiner Theorie und zweitens aus einer veränderten Blickrichtung: Nicht die „Außengrenze“ von Wissenschaft wird fokussiert, sondern die „Binnengrenze“ zwischen GW und NW.
Kein Modell zum Verhältnis von GW und NW wird auf alle Disziplinen gleichermaßen gut anwendbar sein. Die folgenden Vorschläge wollen in erster Linie an Literaturwissenschaft und Physik gemessen werden. Diese Präferenz ist keineswegs idiosynkratisch. Literaturwissenschaft und Physik wurden von jeher als Prototypen von GW und NW angesehen: Kuhns Arbeiten zur Geschichte der NW beziehen sich meist auf physikalische Probleme. Rorty behandelt „literary criticism“ als Muster geisteswissenschaftlicher Praxis. Dagegen bleiben Sozialwissenschaften und Psychologie ambivalent. Ihrem Selbstverständnis nach changieren sie zwischen GW und NW. Sie sind als Prototypen ungeeignet.
NW beobachten. Im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung beobachten sie das Unbeobachtete der Beobachtung erster Ordnung. Die Beobachtbarkeit des Beobachteten und die Unbeobachtbarkeit des Unbeobachteten bleiben unbeobachtet. Sie werden im Diskurs der NW nicht thematisch. Naturwissenschaftler stellen zwar die methodologische Frage, wie der Bereich des Beobachteten sich verschieben oder erweitern lässt. Aber erkenntnistheoretische Fragen werden ausgeklammert (z. B. „Was heißt es zu sagen, etwas werde beobachtet?“ oder „Gibt es Unbeobachtetes, das sich jeder Beobachtung entzieht?“). Das ist kein Ausdruck von Naivität, sondern die Eigenart der naturwissenschaftlichen Beobachtungsperspektive.xxviii
GW beobachten. Im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung beobachten sie das Unbeobachtete der Beobachtung erster Ordnung. Hierin gleichen sie den NW.xxix Anders als NW thematisieren GW auch Beobachtbarkeit und Unbeobachtbarkeit. Tatsächlich perspektivieren sie alle Beobachtungen auf die Frage nach der Beobachtbarkeit des Beobachteten und der Unbeobachtbarkeit des Unbeobachteten. Sie wird zumeist in den Vokabularen von Systemtheorie, Dekonstruktion, Psychoanalyse, Semiotik und Hermeneutik artikuliert. Deswegen wenden Philologen der „alten Schule“ gegen die neuere, erkenntnistheoretisch informierte Literaturwissenschaft ein, literarische Texte würden nur mehr als Vorwand für theoretische Glasperlenspiele missbraucht. Das Verhältnis von Mittel und Zweck werde verkehrt. Die Repräsentanten der neueren Literaturwissenschaft entgegnen, was an einem Text beobachtet werde (oder unbeobachtet bleibe), sei nur zu begreifen, wenn seine Beobachtbarkeit oder Unbeobachtbarkeit thematisiert werde. „Reine“, „textimmanente“ Philologie bleibe „unterkomplex“. Häufig wird dieses Argument weiter zugespitzt: Es sei der Text selbst, der (Un-) Beobachtbarkeit „performiere“, und darum sei er ein Kunstwerk.xxx Die scheinbar weit ausgreifende „Spekulation“ sei vielmehr der Musterfall redlicher Philologie. xxxi
Die Verschiedenheit der geistes- und der naturwissenschaftlichen Beobachtungsperspektive tritt besonders deutlich hervor, wenn NW auf Gegenstände zugreifen, die herkömmlich den GW zugeordnet werden: Neurophysiologische Analysen der Wirkung lyrischer Texte und Arbeiten über die evolutionäre Genese und Funktion von Literatur (Biopoetics) klammern die Frage nach der (Un-) Beobachtbarkeit ihres Gegenstands konsequent aus. Für geisteswissenschaftliche Analysen ist dies die leitende Fragestellung.xxxii Umgekehrt gilt, dass Geisteswissenschaftler, wenn sie auf „naturwissenschaftliche“ Gegenstände zugreifen, recht besehen nicht diese selbst beobachten, sondern deren (Un-) Beobachtbarkeit. Die Beobachtungsperspektive verschiebt sich vom Gegenstand auf das Verhältnis des Gegenstandes zur Beobachtung. Geisteswissenschaftler überspringen gleichsam die physikalische Ebene der Beobachtung, um sich unvermittelt erkenntnistheoretischen Problemen zuzuwenden. Daraus entstehen zuweilen Probleme.xxxiii
Dieses Modell hat mindestens eine contraintuitive Konsequenz: Die Philologen der „alten Schule“ müssen als Naturwissenschaftler eingeordnet werden. Das ist bei näherer Betrachtung aber nicht abwegig: Als Muster solcher „textimmanenten“ Philologie kann der „New Criticism“ gelten. Er geht aus ‚Experimenten’ I.A. Richards hervor und steht den NW auch unter methodischen Gesichtspunkten nahe.xxxiv
Weil die Beobachtungspektiven von NW und GW grundsätzlich verschieden sind, gibt es kein gehaltvolles Kriterium der Wertung, das auf beide Bereiche angewandt werden könnte: NW sind daran zu messen, wie sie Beobachtetes und Unbeobachtetes beobachten. GW sind daran zu messen, wie sie Beobachtbarkeit und Unbeobachtbarkeit beobachten. So kann keiner der beiden Bereiche einen Vorrang beanspruchen. Die eine oder die andere Diskursform für überlegen zu erklären, ist müßig. Dabei steht es den GW durchaus zu, die NW darüber zu belehren, was sie „eigentlich“ tun; welche Voraussetzungen ihrer Arbeit „reflektiert“ werden müssten. NW dürfen solcherlei Reflexionen aber getrost ignorieren: Sie bleiben ihrem Tun äußerlich.xxxv Forderungen nach mehr Kooperation oder Wettbewerb sind müßig, denn dafür sind GW und NW zu verschieden. Zu fordern, die Geistes- sollten an den Naturwissenschaften Maß nehmen und „gesellschaftsrelevantes“ „Wissen“ erzeugen – etwa im Sinne einer „Sozialtechnologie“ oder weltanschaulichen „Orientierungswissens“ –, ist vollends verfehlt: Das können sie nicht. Eine Gesellschaft, der Reflexion nichts gilt, hat GW schlichtweg nicht nötig. Auch die „Einheit des Wissens“ ist eine Chimäre: Zwar wird sie lautstark eingeklagt – doch dabei bleibt es. Nach allem, was hier gesagt wurde, kann das nicht überraschen: NW können auf „geisteswissenschaftliche“ Gegenstände und Methoden zugreifen (und umgekehrt) – in diesem Sinne ist „Interdisziplinarität“ möglichxxxvi –, eine Verschmelzung der beiden charakteristischen Beobachtungsperspektiven ist aber unmöglich und nicht einmal wünschenswert.
Eine Gemeinsamkeit der beiden Diskursformen ist aber festzuhalten. Sie verbindet GW und NW mit Kunst und Religion.
Von Geistes- wie Naturwissenschaftlern sind Äußerungen überliefert, die von „Transzedenzerfahrungen“ berichten.xxxvii Im ersten Fall sind diese Erfahrungen mit ästhetischer Erfahrung verbunden. Im zweiten Fall mit der Anschauung einer als „schön“ oder „erhaben“ erlebten Natur:
„The most beautiful thing we can experience is the mysterious. It is the source of all true art and science” (Einstein 2005).
In solchen Aussagen manifestiert sich eine gewisse Unbefangenheit im Umgang mit manchen religiös oder metaphysisch konnotierten Begriffen. Für Naturwissenschaftler ist sie durchaus charakteristisch, schließlich sind sie nicht professionell mit Unbeobachtbarem befasst. Ihnen fehlen die ‘nach-kantischen’ erkenntnistheoretischen Skrupel, mit den Geisteswissenschaftler sich tagtäglich plagen. So können sie wie selbstverständlich auf Begriffe zurückgreifen, die unter Geisteswissenschaftlern längst „dekonstruiert“ sind. Ob deren abgeklärte, skeptische Haltung vorzuziehen ist, sei dahingestellt. Denn „Transzendenzerfahrungen“ oder „Präsenzeffekte“ (Gumbrecht) bleiben, was immer die offiziellen Selbstauskünfte darüber sagen mögen, der wichtigste Ansporn wissenschaftlicher wie künstlerischer Betätigung:
“There are similar satisfactions experienced by the scientist and artist in the creative process. As Arthur Koestler points out in The Act of Creation, the marvelous clarity that enraptures a scientist when he oder she discovers a law is shared by a poet when the words of a poem fall into a pattern that seems to fit exactly – or when a felicitous image unfolds in the mind of the artist to express the unexpressible. He views the sense of oceanic wonder as the emotive aspect of both art and science. It is the most sublime expression of self-transcending emotion – an emotion that is the root of the scientist’s quest for ultimate causes and the artist’s quest for the ultimate realities of experience” (Friedman 1999, S. 10).xxxviii
Wir danken Herrn Dr. Bernd Donner für wertvolle Hinweise zur Quantenphysik.
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iiIn diesem Zusammenhang wird oft Giambattista Vico erwähnt, so etwa in Rentsch 1991, S.30. Dabei ist unter „Artefakten“ alles vom menschlichen Geist Geschaffene zu verstehen, unter „Naturgegenständen“ alles vom göttlichen Geist Geschaffene. Vico hat letztlich aber nicht die Differenz, sondern die Einheit allen Wissens im Blick. Siehe dazu Hösle 1990, S.62.
iiiWann der Begriff „Geisteswissenschaften“ erstmals gebraucht wird, ist unklar. “Das Wort Geisteswissenschaft bzw. sein Plural ist nicht, wie meist im Anschluß an Dilthey und Rothacker behauptet wird, von Schiele in seiner Übersetzung der Logik J.St. Mills als Übertragung des englischen Terminus moral science zum ersten Male geprägt worden. Es wird vorher schon in verschiedener Bedeutung verwendet” (Ritter 1974, Band III, S. 211). Wahrscheinlich erscheint es im heutig gebräuchlichen Sinne erstmals 1847 in Calinichs Philos. Propädeutik für Gymnasien, Realschulen und höhere Bildungsanstalten sowie zum Selbstunterricht.
ivVgl. z. B. Rüegg 2004.
v Diltheys Entwicklung von der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) zum Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) erschwert eine zusammenfassende Darstellung. Eins ist aber sicher: Dilthey hat stets die Verschiedenheit der beiden Diskursformen betont. Im Gegensatz zu Vico kann er als Verteter eines wissenschaftstheoretischen Dualismus in Anspruch genommen werden.
viBeide Begriffe: „Verstehen“ und „Erklären“ bleiben problematisch (vgl. z. B. Makkreel 1991, S.175ff). Trotzdem prägen sie bis heute die Diskussion.
vii„Metaphysische“ Aussagen sind nach Popper nicht per se sinnlos. Andernfalls stünde die Sinnhaftigkeit seiner eigenen Aussagen in Frage, denn dass sie falsifizierbar sind, darf man bezweifeln. Oder sollte man Kuhns The Structure of Scientific Revolutions als Falsifikation der Logik der Forschung betrachten?
viii Der Ausdruck “Paradigmen” meint in seiner engsten Bedeutung eine individuelle Problemlösung, die zum Muster weiterer Forschungen wird: “These [paradigms] I take to be universally recognized scientific achievements that for a time provide model problems and solutions to a community of practitioners” (Kuhn 1962, S. viii).
ix Tatsächlich haben Naturwissenschaftler und Mathematiker methodische Reglementierungen kaum je für sinnvoll gehalten. „Gauß soll einem Freunde auf die Frage nach den Fortschritten einer dringenden Arbeit geantwortet haben: „Alle Formeln und Resultate sind fertig, nur den Weg muß ich noch finden, auf dem ich dazu gelangen werde.“ Ich glaube nicht, daß Gauß diese gesagt hat, er war nicht so aufrichtig; gedacht hat er es gewiß oft“ (Boltzmann: Vorlesung über Maxwells Theorie der Elektricität und des Lichtes; zitiert nach Simonyi 1990, S.30.).
x“The only principle that does not inhibit progress is: anything goes.” (Feyerabend 1975, S.23) Weshalb ausgerechnet Feyerabend emphatisch vom „Fortschritt“ der Wissenschaft spricht, bleibt sein Geheimnis.
xiKuhn mag nicht so weit gehen. In späteren Publikationen versucht er solcherlei anarchistische und relativistische Weiterungen seiner Forschungen einzudämmen. Feyerabend dagegen bekennt: “I loved to shock people...” (Feyerabend 1995, 142).
xiiUmgekehrt könnte man fragen, ob Kunst nicht unter Bedingungen der Moderne in wissenschaftliche Reflexion „aufgehoben“ wird. Dafür gibt es reichlich Indizien. Man denke an Duchamps Invektiven gegen die „retinale“ Kunst des Impressionismus und an Kossuths Konzeptkunst.
xiii „Riegl hat recht, wenn er sagt, daß die Künste eine Fülle von Stilformen entwickelt haben und daß diese Formen gleichberechtigt nebeneinander stehen, außer man beurteilt sie von dem willkürlich gewählten Standpunkt einer gewissen Stilform aus. [...] Die Behauptung Riegls trifft auch auf die Wissenschaften zu. Auch sie haben eine Fülle von Stilen entwickelt, Prüfungsstile eingeschlossen, und die Entwicklung von einem Stil zu einem andere ist der Entwicklung, sagen wir, von der Antike zum gotischen Stil durchaus analog.“ (Feyerabend 1984, S. 76)
xiv Tatsächlich gibt es nur ein „principle of ‚indeterminacy’“.
xv Vgl. Sakurai 1994, S.34-36, 47-48, 98 und Nolting 1997, S.86-87, 173-175.
xviDie Sekundärliteratur zur Snow-Leavis-Debatte ist uferlos. Einer der umfassendesten neueren Beiträge ist Cordle 1999.
xvii „Most of our fellow human beings, for instance, are underfed and die before their time. In the crudest terms, that is the social condition. There is a moral trap which comes through the insight into man’s loneliness: it tempts one to sit back, complacent in one’s unique tragedy, and let the others go without a meal. As a group, the scientists fall into that trap less than others. They are inclined to think that it can be done, until it’s proved otherwise. That is their real optimism, and it’s an optimism that the rest of us badly need. In reverse, the same spirit, tough and good and determined to fight it out at the side of their brother men, has made scientists regard the other culture’s social attitudes as contemptible” (Snow 1964, S.7).
xviiiKaren Gloy nimmt in „‘Kultur’ versus naturwissenschaftlich–technologische Welt: Ein Tableau” eine ähnliche Einteilung vor. Sie unterscheidet das „Nebeneinander”, das „komplementäre Miteinander” und das „Ineinander der Paradigmen” (Gloy 2000, S.13ff.) . Sie versäumt allerdings, deskriptive und normative Aussagen über GW und NW voneinander zu trennen.
xixZwei Beispiele: “Ziel dieses Bandes ist es, zur Auflösung des dualen Wissenschaftssystems beizutragen. Die Autoren gehen der Frage nach, ob die gängige Annahme von der Existenz der “two cultures”, der Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften, nicht nur falsch, sondern auch gefährlich sein könnte. Sie untersuchen, ob nicht Wissenschaft ihrem Ursprung und ihrem Wesen gemäß nach wie vor eine Einheit ist” (Mainusch et al. 1993, S.7); “Wichtig ist auch das interdisziplinäre Bemühen, das traditionelle Deutungsmuster von den “zwei Kulturen” (Natur- und Geisteswissenschaften) oder vom Gegensatz “Erklären – Verstehen” zu überwinden und den Diskurs über die Differenz und Verknüpfung der beiden großen Wissenschaftsbereiche zu forcieren. [...] Der Graben zwischen den GW und den NW, der immer wieder gezogen wird, ist keineswegs unüberwindlich” (Reinalter 1999, S.16).
xxDie Vorstellung, dass NW Schäden kompensieren, die auf GW zurückgehen, findet sich kaum; es sei denn, man zöge solche Autoren in Betracht, die naturwissenschaftlichem Denken eine disziplinierende und darin therapeutische Wirkung zuschreiben: „Die Naturforscher fingen nun an, ein gewisses Gewicht darauf zu legen, daß ihre Arbeiten ganz frei von allen philosophischen Einflüssen gehalten seien, und es kam bald dahin, daß viele von ihnen, darunter Männer von hervorragender Bedeutung, alle Philosophie als unnütz, ja sogar als schädliche Träumerei verdammten“ (Helmholtz 1855, zitiert nach Simonyi 1990, S.396).
xxi Dabei sind die NW deutlich im Vorteil. Vgl. „Geförderte Schwerpunktprogramme je Wissenschaftsbereich 1997 bis 2004“ auf der Homepage der DFG.
xxii „Das Unterscheiden-und-Bezeichnen ist als Beobachten eine einzige Operation; denn es hätte keinen Sinn, etwas zu bezeichnen, was man nicht unterscheiden kann, so wie umgekehrt das bloße Unterscheiden unbestimmt bliebe und operativ nicht verwendet werden würde, wenn es nicht dazu käme, die eine Seite (das Gemeinte) und nicht die andere (das Nichtgemeinte) zu bezeichnen.“ (Luhmann: 1997, S. 94f) Entscheidend ist, dass jede Beobachtung ein Unbeobachtetes erzeugt, weil eine Seite der Beobachtung stets unbezeichnet und folglich unbeobachtet bleibt.
xxiii Formaler gesprochen: „Der Begriff „Beobachtung“ impliziert eine konstruktivistische Erkenntnistheorie“ ist kein analytischer Satz.
xxiv Das prägnanteste Beispiel sind wohl Descartes Meditationen.
xxv „Wenn man also wissen will, was Wahrheit ist, muß man […] diesen Beobachter [den Wissenschaftler, d. V.] beobachten, um herauszufinden, wie er mit der Unterscheidung wahr/unwahr umgeht […].“ (Luhmann 1992, S. 181) Was aber, wenn „dieser Beobachter“ mit „wahr/unwahr“ nicht umgeht? Kann die Bedeutung von „Wahrheit“ dann überhaupt festgestellt werden? Und hat es Sinn, Ausdrücke zu verwenden, deren Bedeutung nicht festgestellt werden kann?
xxvi Selbst wenn sich herausstellt, dass alle dieser Unterscheidungen auch in anderen Systemen zur Anwendung kommen, können System-Differenzen modelliert werden, und zwar über die relative Gewichtung, das ranking der Unterscheidungen.
xxviiAuch in den NW finden sich reichlich Belege: “The theory is of uncomparable beauty“, schreibt Einstein über die allgemeine Relativitätstheorie; „Die Physik ist ethisch neutral, obwohl der Physiker es nicht ist. Der Physiker ist jedoch überzeugt davon, daß auf physikalische Theorien zwar keine ethischen, wohl aber ästhetische Kategorien anwendbar sind.“ (Simonyi 1990, S.35)
xxviii Dass sich Naturwissenschaftler als Privatperson für erkenntnistheoretische, selbst metaphysische Fragen interessieren können, sei nicht bestritten. Darauf geht die Schlussbemerkung dieses Aufsatzes ein.
xxix„Daß hier [im Wissenschaftssystem, d. V.] auch die Beobachtung erster Ordnung eine Rolle spielt […] ist durch die neueren Untersuchungen in wissenschaftlichen Laboratorien hinreichend belegt. Aber das schließt […] eine draufgesetzte Beobachtung zweiter Ordnung keineswegs aus. Das Vermittlungsinstrument, das die strukturelle Kopplung der Beobachtung erster und zweiter Ordnung sicherstellt, sind Publikationen, die in der Perspektive erster Ordnung […] produziert und gelesen werden, aber zugleich zum Durchblick auf die Beobachtungsweise anderer Wissenschaftler (und reflexiv dann auch auf die eigene) führen und erst darin ihren eigentlichen wissenschaftlichen Sinn gewinnen. […] Die Arbeit an Publikationen sichert mithin die Kontinuität des ausdifferenzierten Wissenschaftssystems auf der Ebene des Beobachtens zweiter Ordnung.“ (Luhmann 1997, S. 105f)
xxx Im Bereich der Germanistik werden Kafka und Kleist besonders häufig in diesem Sinne rezipiert.
xxxi Recht besehen hat eine konstruktivistische Literaturwissenschaft dieses Argument aber nicht nötig: Sie muss – und darf – eine präexistierende Bedeutung des Textes nicht unterstellen: Text ist, was als Text konstruiert wird. So laufen die Einwände „konservativer“ Philologen ins Leere.
xxxii Ein weiteres Beispiel ist der Streit um das Phänomen „Bewusstsein“. Naturwissenschaftler beobachten biochemische Vorgänge im Hirn; dass Bewusstsein mehr ist, wird nicht bestritten, aber weil dieses „Mehr“ unbeobachtbar sei, könne es wissenschaftlich nicht berücksichtigt werden. Für Philosophen ist das „Unbeobachtbare“ aber die zentrale Kategorie in der Auseinandersetzung mit Bewusstsein. Die Differenz der beiden Perspektiven scheint unaufhebbar.
xxxiii „Man gelangt […] zur Quantenphysik als einer Theorie, die nur noch das Beobachten von Physikern durch Physiker beschreibt […] und die Realität korrelativ dazu als unbestimmbar beschreibt.“ (Luhmann in: Jahraus 2001, S. 232) Kein Physiker wird diese Deutung akzeptieren. Tatsächlich ist die Quantenphysik kaum besser geeignet, den Konstruktivismus zu legitimieren als irgendeine andere Theorie. Die Schwierigkeiten eines allzu forschen geisteswissenschaftlichen Zugriffs auf Fragestellungen der Naturwissenschaften hat Sokal – in parodistischer Übertreibung – vorgeführt. Vgl. Sokal 1996, 1997.
xxxiv I.A. Richards testet die Reaktion seiner Studenten auf ihnen unbekannte literarische Texte. Die Interpretationen und Wertungen divergieren so stark, dass ihm die Wissenschaftlichkeit der Philologie nicht gewährleistet scheint. Deswegen etabliert er „close reading“ als Prinzip einer literaturwissenschaftlichen Propädeutik. Leavis erhebt es zur allein maßgeblichen Methode der Philologie. In der amerikanischen Version des „New Criticism“ werden Texte schließlich von allen möglichen Kontexten isoliert. Die „isolierende“ Betrachtungsweise ist ein in den NW gebräuchliches Verfahren. (vgl. Richards 1926, 1929 und Brooks 1947).
xxxv Das bringt bereits Helmholtz auf den Punkt: „Die Naturforscher wurden von den Philosophen der Borniertheit geziehen; diese von jenen der Sinnlosigkeit“ (zitiert nach Simonyi 1990, S.396).
xxxvi Gelungene Beispiele finden sich in Rentschler 1988.
xxxvii Wie „Transzendenz“ im Einzelnen zu deuten ist, mag offen bleiben. Hier kommt es lediglich darauf an, dass Geistes- und Naturwissenschaftler in einem eng umgrenzten Bereich metaphysisches Vokabular verwenden.
xxxviii Jerome Friedman erhielt 1990 den Nobelpreis für Physik.