Johann Wolfgang Goethe ist der Nachwelt durch sein großes literarisches Schaffen und durch seine Arbeiten in den unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen hinreichend bekannt. Sowohl die Geistesgeschichte als auch die Wissenschaftsgeschichte suchen immer wieder nach Spuren, die der „Titan“ hinterlassen hat. Kaum ein Autor kann an Goethe vorbeigehen, ohne ihn wahrzunehmen. Die Auseinandersetzung mit Goethes Werk und die Vielzahl unterschiedlicher Interpretationsansätze, die bereits vorliegen, werden ständig durch neue Arbeiten ergänzt. Neben allgemeinen Darstellungen sind es vor allem Details, die die Wissenschaft an Goethes Leben und Denken interessiert.
Im Rahmen der Geistesgeschichte ist es auch die Philosophie, die neben der Literaturwissenschaft nach einer Einordnung des Goetheschen Denkens sucht. Von Seiten der modernen Philosophie wird die Frage gestellt – beispielsweise Hans-Georg Gadamer und Werner Beierwaltes sind ihr nachgegangen und haben sie unterschiedlich beantwortet – inwieweit sich philosophische Positionen in Goethes Werk nachweisen lassen? Während Gadamer Goethe in die Kantnachfolge stellt und systematische Bezüge zwischen Schelling und Hegel aufweist, interpretiert ihn Beierwaltes aus der Sicht der neuplatonischen Philosophie. Finden sich, so Beierwaltes, bei Goethe Gemeinsamkeiten zum Neuplatonismus, so geht Gadamer noch einen Schritt weiter, wenn er Goethe als den ersten Kritiker idealistischer Philosophie und damit als Kritiker der platonisch-neuplatonischen Metaphysik generell begreift. Nicht Nietzsche ist es, der die Welt von der Metaphysik zu befreien sucht, so Gadamer, Goethe geht ihm hier bereits voraus.
Auf die Frage, welche Philosopheme für Goethes Denken prägend waren, will der folgende Aufsatz aus der Sicht der neuplatonischen Philosophie Plotins eine Antwort geben.
Goethe hat zeit seines Lebens – auch im Hinblick auf die Kantische Philosophie, der er sich quasi verwandt fühlte, die ihm aber letztlich fremd blieb – keinen Hehl daraus gemacht, daß ihm philosophische Spekulationen immer „leidlich“ waren. Diese Zurückhaltung gegenüber der Philosophie hat sich erst geändert, als Goethe Schillers Bekanntschaft in Jena macht. Die über zehn Jahre andauernde Freundschaft vermittelt ihm nicht nur einen tieferen Einblick in die Kantische Philosophie, mit der sich Schiller schon seit 1791 intensiv beschäftigt, sondern Schiller verdankt er letztendlich die Einsicht, daß es sich bei seiner Lehre von der Metamorphose nicht um eine Erfahrung, wie Goethe glaubt, sondern um eine Idee handelt. In einem Brief an Goethe vom 23. August 1794 äußert sich Schiller zu Goethes philosophischer Haltung. Dort schreibt er: „In Ihrer richtigen Intuition [er meint Goethes Gedanken zur Metamorphose] liegt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichtum verborgen [...]. Geister Ihrer Art wissen daher selten, wie weit sie gedrungen sind, und wie wenig Ursache sie haben, von der Philosophie zu borgen, die nur von ihnen lernen kann. Diese kann bloß zergliedern, was ihr gegeben wird, aber das Geben selbst ist nicht Sache des Analytikers, sondern des Genies, welches unter dem dunklen aber sicheren Einfluß reiner Vernunft nach objektiven Gesetzen verbindet.“ Schiller bestätigt, daß Goethes intuitives Denken letztendlich nicht aus der Wahrnehmung resultiert, sondern dieser bestimmend vorausgeht. Er sieht aber – er, der aufgeklärte Verfechter von sittlicher Freiheit und politischer Ästhetik, der sich an die Kantische „Kritik der Urteilskraft“ anlehnt –, daß Goethe mit seinem Denken andere Wege als er selbst und Kant geht. Zwar hat sich Goethe auch mit der Kantischen Lehre von der „Urteilskraft“ beschäftigt, er hat sie aber nie vor dem Hintergrund einer kritischen Philosophie gelesen, sondern wollte in der „Kritik“ seine Idee von der Einheit zwischen Natur und Kunst bestätigt wissen.
Mit dem Tod Schillers gerät Goethe nicht nur in eine Schaffenskrise, er entfernt sich auch immer mehr von der Kantischen Philosophie und kehrt zu seiner ursprünglichen Naturauffassung zurück, die vom Studium Spinozas bestimmt wurde. In Spinoza findet Goethe seine eigenen naturphilosophischen Vorstellungen vorgeprägt, und mit ihm teilt er die Idee von der Einheit Gottes mit der Welt. Goethe entdeckt bereits frühzeitig den Neuplatonismus und damit Plotin, von dem auch Spinoza noch beeinflußt wurde.
Plotin (205-269/70) zählt zu den bemerkenswerten Philosophen der Spätantike, auf die sich die abendländische Philosophie immer wieder beruft. Sein Einfluß reicht über die mittelalterliche Philosophie und die Renaissance hinausgehend bis in den deutschen Idealismus und ins 20. Jahrhundert hinein. Kaum einem Denker – Platon und Aristoteles ausgenommen – wurde von Seiten der Philosophie so große Aufmerksamkeit zuteil, wie dem Neuplatoniker, der die letzten Jahre seines Lebens in Rom verbrachte. Seine Philosophie ist maßgeblich durch Platon geprägt, den er nicht nur als Denker par excellence begreift, sondern dessen Lehre er zu einem einheitlichen metaphysischen System vereinheitlichen wollte. Den Ausgang von Plotins systematisch-metaphysischem Konzept bildet die Idee des Einen. Die Metaphysik des Einen steht nicht nur am Anfang, sondern bildet zugleich den Endpunkt spekulativer Reflexion. Aus dem Einen – oder Gott – leitet Plotin nicht nur den Kosmos ab, wobei er eine Kosmogonie zugrunde legt, die die Selbstentfaltung des Einen in die Welt hinein beschreibt, er begreift darüber hinaus die gesamte Welt als Bild dieser göttlichen Ordnung, an der der Mensch als intelligentes Wesen teilhat. Die Aufgabe des Menschen – eine Parallele zum Christentum – ist es, sich auf den Ursprung, d.h. auf den göttlichen Grund hin zu bestimmen. Diese Sicht ist dem Menschen immanent und vollzieht sich, wenn sich dieser als vernünftiges Wesen begreift. Die Rückwendung, die Plotin als Antwort auf die Entfaltung des Einen versteht, ist entweder im Akt der Erkenntnis oder über die Reflexion der Schönheit zu erreichen. Plotin begreift die sinnliche Schönheit analog zur göttlichen Harmonie. Im Unterschied zu Platon versteht er die sinnliche Schönheit nicht als Mangel an Sein, sondern als eine durch Form bestimmte Materie. Diese veränderte Sicht bleibt für die „Ästhetik“ des Schönen bei Plotin bestimmend, denn das Schöne wird zugleich – neben der Erkenntnis – in den Mittelpunkt des analytischen Aufstieges zum Einen gestellt. Natürlich hat auch Platon immer wieder über die Thematik des Schönen reflektiert, er hat sie aber nicht zu einem zentralen Axiom seiner Philosophie gemacht.
Dem platonischen Idealisten Plotin steht der Weimarer „Olympier“ gegenüber, dem es letztendlich – wie hervorgehoben – nicht um philosophisch-spekulative Ideen geht, sondern um die Erkenntnis der sinnlichen Wirklichkeit. Der Unterschied zwischen Metaphysik (Plotin) und ästhetischer Naturauffassung (Goethe) kann größer nicht sein. Dennoch beruft sich Goethe nicht nur in Dichtung und Wahrheit VI auf Plotin, auch in Aus Wilhelm Meisters Wanderjahren bezieht er sich auf den Neuplatoniker. Goethes Auseinandersetzung mit Plotin beginnt bereits 1782 und setzt sich bis ins Jahr 1805 hinein fort. Auch in der Zeit, als sich Goethe mit Kant beschäftigt, bleibt das Interesse an Plotin in seinem Denken präsent.
Goethe interessiert besonders Plotins Idee des Schönen und sein Naturbegriff. Wie Plotin versteht Goethe die Natur als Abbild des Göttlichen, die sich nach geistigen Gesetzen strukturiert und dadurch organisiert. Ihr ist nicht nur ein geistiges Streben immanent, nein, dieses macht es überhaupt erst möglich, das geistige Prinzip in der Natur zu erkennen. Natur und Geist, so zumindest versteht Goethe Plotins Enneade III 8 Von der Natur, von der Betrachtung und von dem Einen, die Creuzer erläuterte und übersetzte, verweisen aufeinander. Natur ist geistige Entäußerung und der göttliche Geist betrachtende Natur. Die Einheit von göttlichem Geist und Betrachtung macht das eigentliche Leben der Natur aus. Goethe verlagert dabei Plotins Auffassung von der intelligiblen Durchdringung der geistigen Noesis, die der Neuplatoniker mit dem Leben identifiziert, auf die Ebene der sinnlichen Naturanschauung. Im Schaffen der Natur sieht Goethe – ähnlich wie Plotin – „ewig neue Gestalten“. Damit greift er Plotins Vorstellung auf, daß die Natur durch vernünftige Gesetze bestimmt ist. Mit den Worten Goethes: Gott „[...] ziemts, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in sich, sich in Natur zu hegen, Sodaß seine Kraft, nie seinen Geist vermißt“. Mit Plotin stimmt Goethe überein, daß „eine geistige Form [...] aber keineswegs verkürzt“, wird, „wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei“.
Ist Goethe also von der neuplatonischen Naturphilosophie begeistert, teilt er dessen Metaphysik vom Einen nicht. Er schreibt mit einem ironischen Unterton: „[...] man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des Einen dringen, woher alles entspringt, und worauf alles wieder zurückzuführen wäre“. Im Unterschied zu Plotin geht Goethe nicht von einer ontologischen Differenz zwischen Zeugung und Gezeugtem, d.h. zwischen platonisch gedachtem intelligiblen Urbild und sinnlich erscheinenden Abbild aus. Für Plotin ist der Unterschied zwischen geisthaft-intellektueller Anschauung und sinnlicher erscheinender Wirklichkeit konstitutiv. Für Goethe hingegen verbinden sich Idee und Erscheinung zu einer Einheit. Goethe geht noch einen Schritt weiter: Er räumt dem Gezeugten sogar eine höhere Mächtigkeit als dem Zeugenden ein. Damit kritisiert er – bei aller Nähe zu Plotin – dessen Theorie, daß das sinnlich erscheinende Schöne letztendlich nicht mit seinem ideellen Urbild konkurrieren kann. Für Plotin ist die geschaffene Wirklichkeit, d.h. Natur und Kunst nur dann wahrhaftig, wenn das intelligible Urbild – Gott – „durchscheint“. Analog zur sinnlichen Wirklichkeit ist auch das sinnlich erscheinende Schöne letztendlich auf die wahre Schönheit bezogen und nur durch diese zu verstehen. Ganz anders argumentiert Goethe: Zwar ist das sinnlich erscheinende Schöne auch für ihn Grundlage seiner ästhetischen Forschung, es ist aber nicht aus einem intelligiblen Urbild heraus zu interpretieren, sondern muß durch sich selbst das zugrunde liegende Gesetz freilegen. Getreu seiner Maxime, daß man nicht hinter den Phänomen suchen soll, entwickelt Goethe eine Methode, die sich als analytische verstehen läßt. Analytisch ist sie, weil es das schöne Phänomen oder das Kunstwerk selbst ist, aus dem sich das Prinzip erst ableiten läßt. Dabei steht nicht nur das einzelne Phänomen im Mittelpunkt – das Goethe aber immer berücksichtigt –, sondern eine – aus der analytischen Betrachtung hervorgehende – Verallgemeinerung oder Abstraktion, die in den vereinzelten Erscheinungen das grundlegende Gesetz sucht. Dieses Gesetz oder Urphänomen, das Goethe nicht nur in der Kunstbetrachtung sondern zugleich in seinen botanischen und geologischen Studien entdecken will, muß sich wiederum in der Sinnlichkeit bewahrheiten, d.h. es muß erst sinnlich erscheinen, denn nur so läßt es sich als Gestaltungsprinzip interpretieren und verstehen.
Während Plotin die sinnliche Anschauung oder das sinnlich erscheinende Kunstwerk nur als Medium versteht, um – durch diese Betrachtung vermittelt – zum geistigen Kosmos und letztendlich zum Einen hinaufzusteigen, sucht Goethe das Gesetz in der Erscheinung. Fordert Plotin letztendlich die Erscheinung aufzuheben, um der Wirklichkeit näher zu kommen, besteht Goethe auf dem Anschauungserlebnis und will hinter dieses nicht zurückgehen. Herrscht Übereinstimmung in der Auffassung, daß das Schöne auf einen übergeordneten Gehalt verweist, so distanziert sich Goethe von Plotin, wenn er schreibt: „Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick die Welt theoretisieren.“ Während das „Verknüpfen“ bei Plotin aber von der Teilhabe der geistigen Akte an der Ideenwelt, d.h. vom diskursiven und noetischen Denken abhängt, ist für Goethe bereits die sinnliche Betrachtung der gegenständlichen Welt ideeller Natur.
Kunst versteht Goethe – wie auch Schiller – als erscheinende Schönheit. Erst durch die zugrunde liegende Idee, die Goethe – sieht man auf das Fragment Gott und Welt – als „Vernünftigkeit“ bestimmt, erscheint die Kunst nicht als bloße Nachahmung der Natur, sondern in der Kunst erscheint die Idee. Auch für Plotin ist Kunst oder schöne Kunst die Erscheinung einer intelligiblen Idee. Wie Goethe versteht er die Kunst nicht als bloße Nachahmung dessen, was erscheint, sondern als eine Idee, die sich in die Erscheinung bringt. Wahrhafte Kunst hat nie etwas, so Plotin, mit der an sich erscheinenden Materie zu tun, sondern sie ist der Grund, daß die Materie schön erscheint. Die Kunst oder das schöne Kunstwerk ist daher nicht die Reproduktion dessen, was sinnlich erscheint, d.h. eine bloße Kopie der Wirklichkeit, sie ist ein intellektuelles Verfahren. Der Künstler schafft einerseits nach den intelligiblen Ideen, die ihm als vernünftigem Wesen immanent sind, andererseits idealisiert er im Akt der künstlerischen Tätigkeit bereits die ihm erscheinende Natur und prägt diese durch seine ihm immanente Genialität. Sowohl Plotin als auch Goethe weisen eine künstlerische Methode zurück, die nur die sinnliche Anschauung, d.h. die Nachahmung verdoppelt. Der Kunst liegt somit, dies läßt sich als Gemeinsamkeit zwischen beiden Denkern festhalten, immer ein kreatives Moment zugrunde. Läßt sich aus der Kritik an einer bloßen Nachahmung dieses Gemeinsame zwischen Plotin und Goethe aufweisen, so zeigt sich zugleich eine Differenz. Für Plotin kommt die bloße Nachahmung nie zum intelligiblen Urbild und damit nicht zur göttlichen Wahrheit, d.h. zur Metaphysik. Für Goethe kommt – aus der Sicht der analytisch-betrachtenden Natur- und Kunstbetrachtung – die Nachahmung nicht zum Gesetz in der Kunst.
Mit kritischer Sicht auf Plotin sieht Goethe die höchste Absicht der Kunst darin, „menschliche Formen zu zeigen, so sinnlich bedeutend und so schön, als es möglich ist“. Über Plotin hinausgehend, begreift er die Natur als das feste Band, von der der einzelne Mensch „umschlungen“ ist – „unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen“.
Abschließend läßt sich festhalten: Goethe ist von der Plotinischen Philosophie fasziniert, da sich in dieser eine Metaphysik findet, die im Gegensatz zum Zweckdenken der Aufklärungsphilosophie – insbesondere der kantischen – steht. In Plotins Philosophie sieht er den unendlichen Trieb, das dialektische Wechselspiel der Kräfte und nicht zuletzt seine Idee vom unendlichen Streben der Natur bestätigt. Das Spiel von Ausdehnung und Sich-Zusammenziehen ist es, was die Unendlichkeit der Natur ausmacht. In seiner Naturphilosophie lehnt sich Goethe daher nicht in erster Linie an die Philosophie Kants, sondern an die Neuplatonik und an das Denken Spinozas an, selbst wenn Differenzen in der Kunst- und Naturauffassung bestehen bleiben. Wenn sich Goethe einerseits für Plotin interessiert, distanziert er sich andererseits – wie gesehen – von der spekulativen Mystik, die beim Neuplatoniker in einer Mystischen Theologie kulminiert. Im Unterschied zu mystischen Vorstellungen setzt Goethe auf die grundlegenden Errungenschaften der Physik und bekundet damit sein Interesse an einer analytischen Philosophie. In dieser lassen sich – selbst wenn sie sich auf eine direkte Betrachtung beruft – doch viele Rückschlüsse zur analytischen Philosophie Plotins hervorheben, der wie Goethe auch von den Phänomenen, d.h. von der Naturbetrachtung ausgeht.