“Die philosophische Religion, wie sie von uns gefordert ist, existiert nicht.“ (XI 255; Zitate aus Schelling werden nach der von K.F.A. Schelling veranstalteten Ausgabe der Werke Schellings durch Angabe des Bandes und der Seitenzahl verifiziert) Mit dieser Forderung beginnt das späteste, aus seinem Nachlaß herausgegebene Werk Schellings, die so genannte ‘Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie‘. Seltsam wie der Titel des Werkes, ist auch die Forderung nach einer philosophischen Religion. Mutet Schelling hier seinen Lesern eine Transformierung der Philosophie in Religion zu? Oder soll gar die Religion in Philosophie aufgehoben werden?
Freilich, die philosophische Religion existiert nicht, doch gleichwohl, so Schelling, bleibt sie eine unabweisliche Forderung. Was ist hier gemeint?
Um sich diesem Unternehmen einer philosophischen Religion, wie es der späteste Schelling fordert, zu nähern, wird im Folgenden von einer nicht auf zuhebenden Komplementarität von Religion und Philosophie ausgegangen. Dabei kann es nicht um eine erschöpfende Behandlung des Themas gehen, vielmehr werde ich mein Augenmerk auf die Grundstruktur von Schellings Argumentation richten.
Zur vorgeschlagenen Interpretationsthese so viel vorweg, Komplementarität von Religion und Philosophie soll besagen, daß Schellings Forderung einer philosophischen Religion mißverstanden ist, wenn sie als abstrakte Alternative von Religion und Philosophie gesehen wird. Vielmehr wird davon ausgegangen, daß es eine in der Religion selbst liegende Notwendigkeit gibt, die ihre philosophische Explikation fordert. Und ebenso muß es ein Argument dafür geben, welches die Philosophie auf die Religion verweist.
Schelling expliziert seine Religionsphilosophie als eine Theorie des Bewußtseins in der Differenz von wesentlichen und wirklichen Bewußtsein. Dieser Differenz korrespondiert die Unterscheidung von wesentlichem und wirklichem Gott. Das wesentliche Bewußtsein ist auf den wesentlichen Gott verwiesen. Als wesentliches oder wie Schelling auch sagt, als Urbewußtsein ist es das Resultat eines Prozesses. Es konstituiert sich als Einheit eines Prozesses, in welcher der gesamte Prozeß präsent ist. Schelling spricht daher vom Bewußtsein als dem “Ende der Natur“ (XI 207). Dieses Urbewußtsein ist kein Selbstbewußtsein, sondern nur Bewußtsein Gottes, und somit Bewußtsein der Totalität und Offenheit des Seins. Dadurch, daß das Bewußtsein Bewußtsein Gottes ist, kann es als vermittelte Freiheit zur Darstellung gebracht werden. In der Freiheit des Bewußtseins erscheint Gott als die absolute Freiheit. Und nur die absolute Freiheit kann nach Schelling Gott sein: “Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache aller Dinge. Wir wollen selbst den vollkommenen Geist nicht, wenn wir ihn nicht zugleich als den absolut freien erlangen können; oder vielmehr, der vollkommene Geist ist uns nur der, welcher zugleich der absolut freie ist.“ (XIII 256) Mit der Konstitution des Selbstbewußtseins, welche freilich kein zeitlicher Akt ist, sondern in allen Bewußtseinsvollzügen immer schon in Anspruch genommen wird, kommt es zur Konstitution des wirklichen Bewußtseins. Dieser Akt kann nur als Selbstkonstitution des Selbstbewußtseins gedacht werden, welche zugleich eine Entfremdung zum wesentlichen Bewußtsein darstellt. Der Selbstkonstitution des Selbstbewußtseins entspricht so die Selbstentfremdung des Bewußtseins. Es etabliert sich als unmittelbare Selbstbestimmung, für die es eine Welt gibt. Dem wirklichen Bewußtsein entspricht der wirkliche Gott, dem das Bewußtsein durch seine Selbstentfremdung anheimfällt. Der wirkliche
Gott ist nicht mehr die Totalität des Seins, sondern er stellt sich dem Bewußtsein, von dem er vorgestellt wird, ohne bloß vorgestellt zu sein, als ein seiender Gott dar. Die Göttergeschichte der Mythologie, resultiert nach Schelling aus verschiedenen Konstellationen der das Bewußtsein konstituierenden Momente (Schelling nennt sie Potenzen). Der wirkliche Gott ist so nicht mehr die absolute Freiheit, die sein soll, sondern ein seiender Gott.
Der religionsgeschichtliche Prozeß kulminiert in der Offenbarung in Christus. In diesem Ereignis restituiert sich das wesentliche Bewußtsein, indem der wesentliche Gott durch den wirklichen hindurchbricht. Ohne die christologische Argumentation Schellings hier im Einzelnen zu explizieren, soll wenigstens sein systematischer Ansatz kurz skizziert werden. Die Differenz von wesentlichem und wirklichem Bewußtsein kann durch den Menschen, also am Ort des wirklichen Bewußtseins, nicht aufgehoben werden, da der Mensch in seinem Selbstvollzug seine Entfremdung wiederholt. Eine Versöhnung ist damit nur so zu denken, daß Gott selbst am Ort des entfremdeten Bewußtsein als besonderes Selbstbewußtsein erscheint. Dies ist das Thema der Christologie. Nach Schelling ist die Menschwerdung des Christus zugleich seine Gottwerdung. Eben weil er in dem Selbstvollzug, in dem er sich als besonderes Bewußtsein etabliert, nicht sich als besonderes Bewußtsein, sondern Gott vollzieht. Die Christologie thematisiert so ein Bewußtsein, welches sich nicht selbst konstituiert, sondern welches in einem anderen gründet und so als vermitteltes Bewußtsein zur Darstellung kommt. Dieses Bewußtsein, welches der Christus in dem Selbstvollzug, in dem er der Christus wird, darstellt, repräsentiert so die Offenheit des Seins. Insofern kann Schelling sagen, Christus ist das Ende der Offenbarung (vgl. XIV 119) und dies entspricht
der Aussage, daß das Bewußtsein das Ende der Schöpfung sei (vgl. XI 207).
In diesem Sinne realisiert sich in der Offenbarung die Offenheit des Seins, in dem sie durch die von der selbstbezüglichen Subjektivität gesetzten Bestimmtheiten des Seins hindurchbricht. Die Offenbarung ist so das Ereignis der Freiheit schlechthin. Nach Schelling kann diese Einsicht verlorengehen und sie ist verloren gegangen. Die Offenbarung vermittelt zwar die philosophische Religion, welche die Religion der Freiheit ist und nur mit Freiheit gefunden werden kann(vgl. XI 255), aber sie kann selbst wieder zu einer Quelle der Unfreiheit werden: “Aber auch nur vermittelt ist durch das Christenthum die freie Religion, nicht unmittelbar durch dasselbe gesetzt. Das Bewußtseyn muß ebenso wieder von der Offenbarung frei. geworden seyn, um zu jener fortzugehen. Auch die Offenbarung wird wieder eine Quelle zunächst unfreiwilliger Erkenntniß.“ (XI 258)
Wie dies zu verstehen ist wird klar, wenn man darauf achtet, daß die Offenbarung die Darstellung und Durchsetzung der Freiheit sein soll. Die Überlieferung der Offenbarung verstellt dies insofern, als hier das Ereignis der Freiheit in Form von Vorstellungsinhalten gefaßt wird. Daher ist es eine in der Offenbarung selbst liegende Notwendigkeit, daß das Bewußtsein von der Offenbarung frei wird.
Die Emanzipierung von der Offenbarung führt jedoch nicht unmittelbar zur Religion der Freiheit. Sie führt zunächst nur zu einem “erkenntnißlosen Denken“ und zu einer “inhaltslosen Freiheit“ (XI 260). Dieses erkenntnislose Denken bestimmt Schelling näher als natürliches Denken oder natürliche Vernunft. Jene natürliche Vernunft ist insofern unfrei, als sie sich über ihren eigenen Vollzug im unklaren ist. Solange nur die Intentionalität der Bewußtseinsvollzüge thematisch wird und nicht die Vernunft selbst als Form und Inhalt, bleibt das Erkennen unfrei. Daher eröffnet sich erst mit dem nachkantischen Idealismus der Weg zur philosophischen Religion.
Die philosophische Religion realisiert so die Offenbarung als Ereignis der Freiheit, indem sie in ihrem Vollzug der Einsicht Raum gibt, daß die Darstellung der Freiheit ihre Vergegenwärtigung qua Vorstellungsinhalte transzendiert. Nach Schelling ist dies jedoch nur dann möglich, wenn sich ‘das Bewußtsein von der unmittelbaren Gebundenheit an die Reproduktion der Offenbarung im Neuen Testament löst, und wenn die Einsicht in den “Mechanismus“ der Vernunft vollzogen wird. Unterbleibt dies, dann verbleibt die Offenbarung für das Subjekt in einer Äußerlichkeit, die für es selbst nur eine neue Quelle der Unfreiheit sein kann. Diese Konsequenz wäre für die Offenbarung, wenn anders sie die Realisierung der Freiheit sein soll, ruinös. Daher impliziert nach Schelling die Religion selbst die Forderung nach ihrer philosophischen Reflexion.
Wie oben schon gesagt, ist die philosophische Religion nur möglich durch die Thematisierung der Vernunft selbst. Das Ergebnis dieser Reflexion der Vernunft ist nach Schelling so radikal, daß man vernünftige Strukturen nur noch postulieren kann (vgl. XIII 247f.). Gleichwohl bleibt es die Aufgabe der Philosophie, die vernünftigen Strukturen des Seins zu thematisieren. Es gibt jedoch keinen Grund dafür, daß es so etwas wie Vernunft gibt. Unvordenklich wie Schelling sagt, hat sich der Kosmos in vernünftige Strukturen generiert. Und gerade diese Einsicht in die nicht-Inszenierbarkeit der Vernunft oder der Einheit des Bewußtseins verweist die Philosophie an die Religion. In der Religion wird mit den Vorstellungen von Schöpfung und Erlösung das Sich-gegebenSein der Vernunft thematisiert. Die sich in diesen Vorstellungen aussprechende Einheit des Bewußtseins kann die Philosophie nicht inszenieren, sondern muß sie immer schon in Anspruch nehmen, wenn sie in der philosophischen Reflexion diese Einheit vermittelt. “Allerdings hat auch die Philosophie Zu ihrem höchsten Zweck, jenes zerissene Bewußtseyn wiederherzustellen. Aber der wahre Philosoph bescheidet sich, daß jenes Bewußtseyn selbst nur ideal, für den Begriff wiederherzustellen ist;“ (XIII 364).
Philosophie und Religion können so für Schelling keine abstrakten Alternativen darstellen. Vielmehr sind beide komplementär aufeinander verwiesen.