von Frank Stäudner
Ein überflüssiges Buch: Imagologies. Media Philosophy von Mark C. Taylor und Esa Saarinen, Routledge, London und New York 1994, ISBN 0-415-10338-X, Lb. 15.99
Imagologie ist ein Kunstwort, basierend auf dem Wortstamm imago - Bild - und gebildet analog dem Begriffspaar Mythos-Mythologie. Was ist das? Und vor allem - was ist Medienphilosophie? Doch zunächst ein paar Worte zur Entstehungsgeschichte des Buches. Ende 1991 hatten die Philosophen Taylor und Saarinen die Idee eines transatlantischen Seminars. Via elektronischer Post und Telefonstandleitung sollten amerikanische und finnische Studenten gemeinsam diskutieren und arbeiten: eine der ersten Proben auf die Machbarkeit des globalen Klassenzimmers.
Die eine Hälfte des Buches beschreibt die Schwierigkeiten technischer, organisatorischer, finanzieller Art, auf die das Projekt vor seiner Verwirklichung gestoßen ist, und die Erfahrungen der Lehrer mit dieser neuen Unterrichtsform, als sie dann schließlich zustande kam. Wir entnehmen das aus den abgedruckten e-mails, welche Taylor und Saarinen in der Planungsphase und während des Projektes ausgetauscht haben. Man erfährt dabei so interessante Dinge wie die Tatsache, daß auch die USA eine Sommerzeit kennen, deren Umstellung Verabredungen durcheinanderbringt (10. Nov. 92, speed 7); oder daß die Datenübertragung in Amerika in 56 Kilobyte-, in Europa aber in 64 Kilobyte-Paketen erfolgt, wodurch ein (lösbares) Kompatibilitätsproblem entstand (4. April 92, media philosophy 12)
Die andere Hälfte enthält die eigentlich medienphilosophischen Thesen. "Hälfte" ist allerdings insofern irreführend, als sich die einzelnen Teile des Buches gegenseitig durchdringen. Das ist wörtlich zu nehmen. Imagologies ist ein typographisches Experiment. Buchstaben und Text purzeln über die Seiten, mal waagrecht, senkrecht, diagonal oder in Spiralen. Schrift ist über verzerrte Bilder, Bilder sind über Schrift und Schrift ist stellenweise über Schrift gedruckt. Manche Seiten sind fast leer, andere übervoll. Textfragmente knicken ab, winden sich um Ecken, machen sich gleich auf zwei Seiten breit. Die Grafikdesignerin Marjaana Virta hat sich munter aus den verschiedensten Schriftarten in den unterschiedlichsten Größen bedient. Es gibt keine durchgängige Paginierung. Nur die einzelnen Abschnitte sind numeriert (z. B. interstanding 1...13), und das mal oben auf der Seite, unten, außen, innen, gespiegelt, quer oder längs. Das hat seinen Grund.
Medienphilosophie ist ein legitimes Kind der Postmoderne. Was auch immer das ist, die Verkündigung irgendeines Endes gehört dazu. Hier ist es das Ende der linearen (traditionellen) Schriftkultur mit seinen Distinktionen zwischen Leser und Schreiber, Form und Inhalt, Bild und Text. An die Stelle der Schrift trete das Bild, manchmal auch das Schriftbild. Kommunikation sei alles, alles sei Kommunikation. Und die kommunikative Praxis durch die elektronischen Medien (Internet, e-mail, Videokonferenzen,...) erzeuge eine neue Kultur ("simcult", lies: "culture of the simulacrum"): "Where would Socrates hold his dialogues today? In the media and on the net." "In simcult, the responsible writer must be an imagologist. Since image has displaced print as the primary medium for discourse, the public use of reason can no longer be limited to print culture. To be effective, writing must become imagoscription that is available to everyone." (communicative practices 3,4) Nicht um weitere Kunstworte verlegen nennen Taylor/Saarinen das Netzwerk, in das sich die user für ihre kommunikativen Zwecke einklinken, die "mediatrix".- offensichtlich gebildet durch Zusammenziehung von "Medien" und "Matrix". Gibson läßt grüßen. (Der amerikanische Romanautor William Gibson, den nach eigenem Bekunden der persönliche Umgang mit Computern und elektronische Medien wenig interessieren, hat in seiner 1984 begonnenen Neuromancer-Trilogie das Modekunstwort des Jahrzehnts geschaffen, den Cyberspace. Dieser virtuelle Datenraum heißt dort ersatzweise auch die Matrix.) Aber kann ein papierenes Buch Zeugnis ablegen vom öffentlichem Vernunftgebrauch im postmodernen elektronischen Zeitalter?
Wenn der natürliche Ort für diese postmoderne Philosophie die elektronischen Medien sind, dann ist der Versuch, in gedruckten Worten davon zu berichten, beinahe selbstwidersprüchlich. Eine Antwort auf dieses Dilemma suchen Taylor/Saarinen über das typographische Experiment: "Our "book" will, in a certain sense, be a non-book. It should not be limited by the linear logic of the past, which urges the reader to proceed from the first page to the second, [...] Like a hypertext, the reader should be free to chart alternative courses through the wordmass we fabricate. The work must also be riddled with gaps, spaces and openings that invite the reader to write. White space becomes the site of transaction in which the event of understanding occurs. In different terms, the book of media philosophy must become a notebook or a workbook. To the reader, who is a writer, we say: "come, join us in a process of writing-reading/reading-writing in which all production is reproductive coproduction."" (gaping 13) Der Rezensent kommt dieser Aufforderung, Imagologies fortzuschreiben, gerne nach, möchte dann aber auch einen Anteil der Tantiemen haben. Zwei zentrale Thesen von Imagologies sollen so direkt erfahrbar werden: die Entgrenzung des Textes und die Auflösung der Trennung von Inhalt und Form einer Botschaft. Weil die Form gleichberechtigt neben den Inhalt tritt, ist strenggenommen die Designerin Virta als der dritte Autor des Buches zu nehmen.
Entgrenzung: Der Text befreit sich von sequentiellen Zwängen. Textfragmente können immer wieder neu angeordnet und kombiniert werden. Gleichzeitig greift der Text über sich selbst hinaus und schließt andere, vielleicht sogar noch ungeschriebene Texte mit ein. So wird er zum ständig im Fluß befindlichen Hypertext, wie ihn etwa die im WorldWideWeb abgelegten Dateien mit ihren Querverbindungen zu anderen Bildern und Texten bilden. Nicht umsonst heißt das entsprechende Dateiformat ".php" - hypertext markup language.
Auflösung: Nach der traditionellen Auffassung steht ein Zeichen für etwas anderes. Und dieses Etwas macht seine Bedeutung, seinen Inhalt aus. Die Form des Zeichens ist kontingent. Nach der Auflösungsthese wird das Zeichen bzw. eine Gruppe von Zeichen (ein Text) nun zum Bild und auf diese Weise zum Träger eigener Bedeutung.
Das Buch selbst ist der erste Test für diese Thesen. Und man kann es nicht anders sagen: Das Scheitern ist total. Das Spiel mit den Schriftarten setzt nur die Lesbarkeit und die Lesegeschwindigkeit herab, erzeugt aber keineswegs neuartige Einsichten. Daß Bilder etwas zu sagen haben, will wohl niemand ernstlich bestreiten. Was jedoch, das bleibt die Frage. Daß Bilder von Buchstaben nichts zu sagen haben, konnte nur vor der Lektüre von Imagologies noch bezweifelt werden.
Auf einem von vielen alternativen Wegen durch das Buch begegnet man vielleicht den folgenden - na ja - Aphorismen. Es sind wohlgemerkt keine aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate. Nimmt man Imagologies ernst (vgl. das obige Zitat), ist das auch gar nicht möglich, weil es diesen Zusammenhang nicht vorfabriziert geben kann.
"Imagology is a throw-away philosophy." (superficiality 5)
"Why do boys play video games so much more than girls?" (videovision 6)
"In simcult, the essential is nothing and nothing is essential." (simcult 6-7)
"The televisual reflects the presence of absence that is the absence of presence." (videovision 3)
Als philosophische Sätze sind sie neu und ungewöhnlich. Weder die Lust am Kunstwort noch an scheinbar banalen Fragen, am ehesten noch die Neigung zu paradoxalen Formulierungen sind in der herkömmlichen Philosophie anzutreffen. Das alles löst den Bedeutsamkeitsreflex aus: Es ist neu, es ist unverständlich, also ist es gut und klug. Wir neigen immer dazu, die wahre Bedeutung als verborgen anzunehmen. Aber das ist tatsächlich nur ein Reflex. Dabei ist das Strickmuster leicht zu durchschauen, nach dem diese Sätze gebildet sind. Es ist ein Spiel mit Worten. Das alles sind rhetorische Kniffe, die Bedeutsamkeit vorspiegeln, ohne sie einzulösen. Daß eine sinnlose Lesart möglich ist, impliziert natürlich nicht, daß alle möglichen Lesarten sinnlos wären und nicht doch eine spezifische Sinngebung gelingen könnte. Aber der Rezensent glaubt nicht so recht daran. Das Buch über Medienphilosophie wartet weiter darauf, geschrieben zu werden. Nach mehr als zweitausend Jahren des Philosophierens über die immer wieder gleichlautenden Fragen ist es schwer, originell zu sein. Und die Versuchung ist groß, auf die Herausforderungen der eigenen Gegenwart (man muß ja nicht gleich die Rede vom "Informationszeitalter" bemühen) mit revolutionärem Tamtam zu reagieren. Aber weiter "Fußnoten zu Platon" (Whitehead) zu verfassen, ist angesichts des Scheiterns von Imagologies die mutigere Tätigkeit; die sinnvollere sowieso. Machen Sie nicht den Fehler des Rezensenten. Bleiben Sie auf Ihrem Gelbbeutel sitzen.
Ein monströses Buch: American Psycho von Bret Easton Ellis, dt. von Clara Drechsler u. Harald Hellmann, Kiepenheuer&Witsch, Köln 1993, ISBN 3-462-02261-X, DM 24.80
Ellis' Erstlingsroman American Psycho gilt wieder als jugendgefährdend. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat seine zwischenzeitlich aufgehobene Indizierung erneut verfügt. Bekanntlich ist, was unter dem Ladentisch lagert, besonders interessant. Anlaß genug also für eine verspätete Rezension. Um es vorwegzunehmen: Unter den Ladentisch gehört es auch hin - allerdings nicht, weil es die Jugend verderbte und auch nicht, weil so das etwaige literarische Unvermögen des Autors verborgen bliebe. Beides ist nicht der Fall. Trotzdem ist American Psycho eine ziemlich ungenießbare Kost, von der man aber - wie von einer Droge - nicht lassen kann und die noch nach Tagen des Entzuges (lies: nach Beendigung der Lektüre) flashbacks hervorruft. Szenen des Romans drängen sich spontan und ungebeten in die Erinnerung. Und weil es sich um einen Horrorroman handelt, ist das nicht sehr angenehm. Den Gepflogenheiten des klassischen Gruselromans von Stoker bis King verweigert sich Ellis allerdings konsequent. Das einzige Zugeständnis an das Althergebrachte dieser Literaturgattung ist, daß vorzugsweise junge appetitliche Mädchen auf ungeheuer unappetitliche Weise dahingemetzelt werden. Der Effekt dieser Schilderungen (ich verzichte hier auf Belegstellen, damit die Tabula rasa weiter über den Ladentisch verkauft werden kann) wird noch durch die Lakonik verstärkt, mit der Ellis darüber berichtet. Da ist er ganz amerikanischer Literat.
Zum Inhalt nur soviel: Reicher Yuppie bringt in seiner Freizeit (über die er reichlich verfügt, denn sein Geld ist ererbt, nicht verdient) Leute um, vorzugsweise Edelprostituierte während und nach dem Sex. Einzelheiten der Handlung sind nicht weiter wichtig. Eigentlich ist der Roman ausgesprochen handlungsarm. Drei Typen von Ereignissen wiederholen sich durch das ganze Buch und Ellis schildert sie auch immer wieder auf die gleiche Weise: a) Verabredungen und Treffen in den neuesten, gerade "angesagten" Clubs von New York, b) Essen und Kleidung der beteiligten Personen, c) die Morde im Appartment des Helden und Patrick Bateman.
Ungewöhnlich sind das literarische Grundmuster des Buches, das ganz wesentlich von stereotypen Wiederholungen lebt, und die Virtuosität des Autors im Umgang mit den Erwartungen des Lesers, die diesen immer wieder durch das von Ellis gespannte Gewebe unerträglicher Banalität weiterzwingt.
Der Ich-Erzähler Bateman ist ein nulldimensionaler Mensch. Alles ist Oberfläche. Er ist Experte auf dem Gebiet einer besonderen Form der Etikette, mit deren Schilderung uns Ellis nie verschont. Kostprobe: "Ich kann mich zwischen zwei Outfits nicht entscheiden. Das eine ist ein Wollcrepe-Anzug von Bill Robinson, den ich bei Saks gekauft habe, mit einem Baumwoll-Jacquard-Hemd von Charivari und einer Armani-Krawatte. Oder aber einen Sportmantel in blauem Plaid aus Wolle und Kaschmir, ein Baumwollhemd und eine Bundfaltenhose von Alexander Julian mit einer gepunkteten Seidenkrawatte von Bill Blass. Der Julian könnte ein bißchen zu warm für Mai sein, aber sollte Patricia dieses Outfit von Karl Lagerfeld tragen, was ich annehme, dann sollte ich vielleicht lieber den Julian nehmen, denn das würde gut zu ihrem Kostüm passen. Dazu Krokodilleder-Halbschuhe von A. Testoni." (S. 112) Spätestens nach der zehnten Schilderung dieser Art blättert man einfach weiter. Wahlweise können neben diesen Fragen der angemessenen Garderobe auch die Wahl des adäquaten Nachtclubs oder die richtige Gesichts-und Körperpflege erörtert werden. Anregendere Fragen werden im ganzen Buch nicht verhandelt. Aber man kann es auch nicht einfach weglegen, denn unmerklich haben wir uns in diesem seichten Gewebe verstrickt.
Aus dem Klappentext wissen wir bereits, daß Bateman ein Massenmörder ist. Zu Beginn des Romans deutet aber nichts darauf hin. Wir suchen also genau nach entsprechenden Andeutungen. Die sind sehr dezent gesetzt, steigern sich langsam und drohend, bis es zur ersten scheußlichen Tat kommt. Danach ist den Lesern erst mal schlecht, und für den Rest des Buches und die nächsten hundert oder so Morde beschäftigt uns nur noch die Frage, ob und wann das alles endlich ein Ende hat. Dazu schweigt hier allerdings der Rezensent.
Nicht der Inhalt des Buches ist monströs mit seinen scharfen Spitzen unerträglicher Grausamkeit und Gewalt, die aus einem Meer der Banalität und stereotypen Wiederholung aufragen. Der eigentliche Skandal ist, daß es Ellis gelingt, uns für knapp sechshundert (gewollt) triviale Seiten und zwei Abende nicht vom Haken zu lassen, obwohl bald klar wird, daß der Roman mit seiner Handlung und der gewählten Darstellungsform sich jeder Deutung verweigert. Das allerdings nicht, weil die Schrift in irgendeiner Weise hermetisch wäre. Aber jeder nichttriviale Deutungsversuch wäre, diese paradoxe Botschaft immerhin transportiert das Buch, unangemessen. Die einfachste Interpretation von American Psycho als Unterhaltungsroman ist wie erwähnt ausgeschlossen. Für Bücher, mit denen man sich ein paar schöne Stunden machen kann, muß man sich bei anderen Autoren bedienen.
Drei andere Interpretationen funktionieren auch nicht. Nummer eins: die vulgärpsychologische Deutung. Ellis mag einfach keine Yuppies. Und er zeigt den modernen urbanen Erfolgsmenschen in all seiner Hohlheit noch bei seinen scheußlichen Perversionen. Diese Deutung ist genauso banal, wie der Text es durch sie geworden ist. Vorher war die Lektüre des "Banalen" zwar kein Vergnügen, hatte aber immerhin durch ihren suchterzeugenden Charakter den Reiz des Geheimnisvollen. Man konnte rätseln, wie schafft er das? Oder die klassische Frage aus der Deutschstunde: Was will der Autor damit sagen? American Psycho als Yuppiehasser-Buch zu apostrophieren, ist einfach zu peinlich, als daß man damit hausieren gehen könnte, auch wenn damit Ellis' Intentionen am Ende zutreffend beschrieben sein sollten. Nummer zwei: die kulturkritische Deutung. Das moderne Großstadtleben hat alle Tiefe eingebüßt. Elementare geistige und intellektuelle Bedürfnisse werden nicht befriedigt. Aber sie sind noch da und brechen sich als dunkle Gewalt Bahn. Der Serienmörder als Verkörperung des modernen Menschen. Diese Deutung beruht auf dem Gedanken einer Kompensation der Hohlheit durch Gewalt und der Normalität und Allgegenwärtigkeit dieser Gewalt. Aber der Roman enthält kaum einen Hinweis auf eine solche mögliche Verknüpfung. Die Exzesstaten Batemans sind einfach unmotiviert. Ein (übertragenes) Symbol für die sozusagen gesellschaftliche Akzeptanz von Batemans Treiben gibt es allerdings: Er macht sich keinerlei Mühe, seine Taten zu tarnen und gerät trotzdem (zunächst) nicht in Schwierigkeiten. Das könnte als implizites gesellschaftliches Einverständnis ausgelegt werden. Aber letztlich weist die schiere Masse banaler Schilderungen auch dieses interpretatorische Bemühen zurück. Nummer drei: die ästhetische Deutung. Die Banalität ist ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Emanation einer neuen Bedeutung, gewissermaßen ein dialektischer Zwischenschritt. Wir leben ja bekanntlich auch im Zeitalter des ästhetischen Relativismus (Postmoderne!, vgl. "Ein überflüssiges Buch" weiter oben). Da kann schwerlich gegen so eine Interpretation argumentiert werden. Allein der Rezensent fühlt sich nicht erleuchtet.
Was Imagologies nicht schaffte - ein Antibuch zu sein, so etwas zu schreiben ist Ellis geglückt. Es unterhält nicht, es belehrt nicht, es weist jede Deutung ab. Totes Papier. Doch die Verwirrung bleibt, warum der Autor sich die viele Mühe gemacht hat. Und am Ende staunt der Leser auch über sich selbst, wieso er bis Seite 549 durchgehalten hat. Wer American Psycho unter den Ladentisch hervorholt, handelt auf eigenes Risiko. Nebenwirkung nicht ausgeschlossen.
Ein aktuelles Buch: KLASSIKER AUSLEGEN; Bd. 1. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, hrsg. v. Otfried Höffe, Akademie-Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002693-6
1996 jährte sich das Erscheinen eines der wichtigsten Werke zur politischen Philosophie zum 200sten Mal. Immanuel Kants kleine Schrift "Zum ewigen Frieden" mutet in seinem Bemühen, die Beziehungen zwischen Staaten zu verrechtlichen und die Bedingungen einer dauerhaften Friedensordnung auf Erden auszuloten, auch heute noch außerordentlich aktuell an. Gerade weil wir dem weltweiten Frieden in diesen zweihundert Jahren nicht viel näher gekommen zu sein scheinen. Besonders oft wird dabei nach dem Verhältnis der Vereinten Nationen als konkreter politischer Organisation zum Kantischen "Völkerbund" als theoretischem Entwurf gefragt.
Anläßlich des doppelten runden Jubiläums gab es bisher eine Vielzahl philosophischer und politischer Fachtagungen. Solchen Veranstaltungen ist im allgemeinen eigen, daß sie bei ihren Teilnehmern die Kenntnis des fachspezifischen Diskussionsstandes in seinen Verästelungen voraussetzen (dürfen). Ein zweites Kennzeichen nach Jahrhunderten philologischer Kärrnerarbeit ist die hohe Spezialisierung dieser Diskurse. Im Klartext heißt das: Ist das Interesse an einer Beschäftigung mit dieser Kantischen Schrift - vielleicht wegen der in diesem Jahr erhöhten allgemeinen Aufmerksamkeit - gerade erst erwacht, so ist die Teilnahme an diesen Tagungen nicht zu empfehlen.
An dieser Stelle bietet sich die von Otfried Höffe konzipierte Reihe "Klassiker auslegen" an, deren erster Band der Friedensschrift gewidmet ist.(Gleichzeitig erschienen sind ein Band zu Schellings "Über das Wesen der menschlichen Freiheit" und über die Nikomachische Ethik des Aristoteles.) Als eine Sammlung von Aufsätzen, die in ihrer Thematik der Abfolge des Originaltextes folgen, wollen sie an dessen zentrale Themen und Thesen heranführen, diese analysieren, interpretieren und kritisieren. Heranführen heißt, die eigene (unter Umständen vorkenntnisfreie) Textexegese zu unterstützen und anzuleiten. Interpretation, Analyse, Kritik betreffen die Darstellung des philosophischen Debattenzusammenhangs, wie er sich in seiner Vielfalt heute darbietet.
Für den vorliegenden Band ist das mit wenigen Abstrichen sehr gut gelungen.
Kants Schrift ist für diese Herangehensweise auf Grund ihrer starken Segmentierung prädestiniert. Sie ist in ihrer literarischen Form zeitgenössischen Friedensverträgen mit Präliminar-, Definitivartikeln und Zusätzen nachempfunden und enthält sogar einen "geheimen Artikel zum Ewigen Frieden": In öffentlichen Rechtssachen (wie Friedensverträgen) seien solche Artikel objektiv widersprüchlich. Subjektiv könnten sie aber eine Berechtigung haben, wenn sie dem (modern gesprochen) Rollenverständnis der Herrscher entgegenzukommen erlauben. In diesem Sinn enthält der geheime Artikel nichts als die Maßgabe, zu den "Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens" (Kant) die Philosophen zu hören, was für die Herrscher kriegsbereiter Staaten ansonsten vielleicht ein (wiederum modern gesprochen) Statusproblem bedeutete. Kant erweist sich hier (und in anderen Werken) als Meister subtiler Ironie und großer Stilist, eine Qualifikation, die dem strengen Königsberger Denker selten zugetraut wird.
Die Abhandlungen drei bis zehn im Begleitband folgen dieser Gliederung. Davor geben Otfried Höffe und sein wissenschaftlicher Assistent Jean-Christophe Merle in zwei Texten eine Einleitung, die insbesondere den ideengeschichtlichen Hintergrund des Friedensbegriffs beleuchtet, eines Begriffes, der seltsamerweise vor Kant kein Grundbegriff der politischen Philosophie geworden ist. In dem einen der zwei letzten Beiträge zieht der Politikwissenschaftler Michael Doyle aus den im weiteren Sinn demokratischen Staatstheorien Rousseaus, Tukydides', Schumpeters und Kants Folgerungen für das heutige politische Tagesgeschäft.
Und Höffe untersucht im Schlußtext, inwieweit die Vereinten Nationen den nach Kantischen Prinzipien organisierten globalen Friedensbund darstellen, der ebendiesen globalen Frieden zwischen Staaten herstellt und bewahrt. Weil der ewige Friede als Bereitschaft zu dauerhaftem und weltumspannenden Gewaltverzicht alle Staaten einzubeziehen hat, von den Staaten aber nicht auch noch Freundschaft fordert, so sind die UN das politische Gebilde, das daraufhin geprüft werden muß, und nicht etwa die Europäische Union (vgl. S. 245). Höffes semioptimistisches Ergebnis ist, die UN sind dieser Friedensbund zwar nicht. Sie konstituieren keine republikanische Ordnung zwischen republikanischen Staaten (Kants Republiken sind im wesentlichen identisch mit demokratischen Verfassungsstaaten). So ist die Unfähigkeit der UN, für Frieden zu sorgen, aus dem Verstoß gegen die Kantischen Prinzipien (republikanische Ordnung der Einzelstaaten, Abschaffung der stehenden Heere, Verbot der Einmischung in Verfassungsangelegenheiten anderer Staaten,...) zu erklären. Die "extrem minimalstaatliche Weltrepublik" (Höffe) wartet also weiter auf ihre Verwirklichung. Aber die UN seien ein Schritt in die richtige Richtung und machten aus der Utopie eines weltweiten Friedenbundes eine "Utopie des Noch-nicht" (Höffe); und das, obwohl Kant die Friedensbereitschaft von Republiken überschätzte. (Kants wichtigstes Argument war, daß die Bürger nicht "die Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen" würden. Aber Republiken haben, wenn auch kaum untereinander, etliche Kriege geführt (vgl. S. 254ff.).)
Verschiedene Autoren produzieren Texte unterschiedlicher Qualität. Das ist klar. Während Volker Gerhardt in gewohnter Klarheit und Präzision den Inhalt des "Geheimen Artikels" entschlüsselt und die Aspekte der Mitwirkung der Philosophen am politischen Geschehen -"Der Thronverzicht der Philosophie. Über das moderne Verhältnis von Philosophie und Politik bei Kant" so der Titel - präzise beleuchtet, ist Merles bereits erwähnter Text einigermaßen nichtssagend.
Ein Projekt wie "Klassiker auslegen", das den Mitwirkenden einzelne Textabschnitte zur Interpretation zuweist, ist - um Redundanzen zu vermeiden - angewiesen auf eine feine Abstimmung der Autoren untereinander. Daß das nicht immer gelingen kann, ist ebenfalls klar, hier aber vorbildlich gelöst. Die Betrachtungen überschneiden sich nicht, lassen sich aber mit Gewinn aufeinander beziehen. Problematischer ist da die Aufnahme von Arbeiten, die offensichtlich nicht für die Verwendung in einem Projekt wie diesem verfaßt worden sind. Das gilt für Doyle, macht dort aber gerade einen Teil der Stärke des Artikels aus, zeigt er doch exemplarisch die zentrale Stellung des Kantischen Textes mit seinen Hauptthesen für die aktuelle politische Diskussion. Auch dort, wo Doyle nicht explizit auf Kant rekurriert, atmet seine Analyse Kantischen Geist. Auch hier gilt wieder einmal: An Kant kommt keiner vorbei.
Warum hingegen "Das Problem der Erlaubnisgesetze im Spätwerk Kants" von Reinhardt Brandt Aufnahme in den Band gefunden hat, ist mir unklar. Brandt ist Leiter des Marburger Kant-Archivs und Mitherausgeber der Kant-Studien, ein ausgewiesener Kenner also. Aber Kant spricht die sogenannten leges permissivae nur in einer für seine Verhältnisse kurzen Fußnote am Ende des ersten Abschnittes mit den Präliminarartikeln an. Die dort ausgesprochenen Gesetze sind allesamt Verbotsgesetze, mit einmal strenger, einmal aufschiebender Wirkung. Aber der verbotene Zustand muß aufgehoben werden, im einen Fall sofort, im anderen später, keinesfalls aber verschoben auf den "Nimmertag" (Kant). Erlaubnisgesetze dagegen verbieten nur eine "künftige Erwerbungsart eines Rechts" (Kant). Der bestehende Zustand wird nicht angetastet. Damit sind sie für die Exegese der Friedenschrift, die die Bedingungen des Austrittes aus dem gegenwärtigen Kriegszustand zum Thema hat, nicht relevant. Ein Beleg dafür ist auch, daß in Brandts Betrachtung die Friedenschrift denn auch abgesehen von der einleitenden Anführung der Fußnote nicht weiter vorkommt. Das heißt nicht, Erlaubnisgesetze stellten kein spannendes Problem dar. Aber wer an den eigentlichen Fragestellungen der Friedenschrift interessiert ist, muß diesen Aufsatz nicht lesen.
Fazit: ein gutes Buch, dessen kleine Schwächen nicht ins Gewicht fallen. Der Verlag darf hoffen, die Auflage außer auf dem Weg der Rezensentenbestechung durch Freiexemplare auch in den Buchhandlungen loszuschlagen.