Frank Rühling

Friedrich von Hardenberg als Student in Jena

Der unter seinem Dichterpseudonym Novalis als eines der herausragenden Mitglieder des Jenaer frühromantischen Kreises geltende Friedrich von Hardenberg hielt sich durchgängig lediglich ein Jahr in Jena auf - und dies zu einer Zeit, als die Geburt des Romantikers Novalis noch in weiter Ferne lag. Gleichwohl hat dieser einzige durchgängige Aufenthalt ebenso wie die späteren zahlreichen Besuche wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung Hardenbergs zu einem der führenden Vertreter der Frühromantik gehabt.

Am 23. Oktober 1790 immatrikulierte sich Friedrich von Hardenberg an der Jenaer Universität um die Rechte zu studieren. Bereits ein knappes Jahr später aber, Anfang Oktober 1791, mußte er Jena schon wieder verlassen, da sich sein Vater wegen Friedrichs ständig nachlassenden Interesses an seinem Fachstudium zum Intervenieren genötigt sah.

Die außergewöhnliche Faszination, die zu Beginn der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts die Philosophie in Jena ausübte, zog den jungen Studenten, der bereits früh ein ausgeprägtes Interesse für Poesie und Weltweisheit entwickelt hatte, bald nach seiner Immatrikulation in ihren Bann. Kaum eine andere Universität Deutschlands schien gegen Ende des 18. Jahrhunderts geeigneter zum Studium der neuesten Philosophie - der kritischen Transzendentalphilosophie Kants. In Jena wirkten neben dem an Kants Ruhm durch seine Briefe über die Kantische Philosophie von 1787 wesentlich mit beteiligten und von dem Königsberger Philosophen gleichsam selbst legitimierten Interpreten der Kritischen Philosophie, Karl Leonhard Reinhold, ebenso Carl Christian Erhard Schmid, Verfasser des damals weit geschätzten Wörterbuchs zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften sowie der berühmte Friedrich Schiller. Mit allen dreien verband Hardenberg nicht nur ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern eine zumindest von Hardenbergs Seite geradezu schwärmerische Freundschaft. Über genaue gedankliche Einflüsse weiß man allerdings wenig. Zwar kann davon ausgegangen werden, daß - den damaligen Üblichkeiten folgend - die von Hardenberg sehr wahrscheinlich besuchten Kollegien Reinholds und Schmids nach deren veröffentlichten Werken gehalten wurden. Davon findet sich jedoch in den spärlich überlieferten Aufzeichnungen Hardenbergs aus dieser Zeit kaum ein Niederschlag. Und da Schiller wegen einer schweren Erkrankung während Hardenbergs Jenaer Studienzeit keine Kollegien hat abhalten können, besteht hinsichtlich seines tatsächlichen Einflusses auf den jungen Friedrich von Hardenberg eine noch größere Unsicherheit. - Gleichwohl äußert sich Hardenberg enthusiastisch gerade über Schillers Einfluß. Was er aber hervorhebt - und das betrifft ebenso Reinhold und Schmid - ist vor allem der menschliche Einfluß sowie eine prinzipielle Orientierung auf gedankliche Ordnung und feste Werte. So schreibt er am 5. Oktober 1791 an Karl Leonhard Reinhold, die Jenaer Monate zusammenfassend: "Wenn noch einst... meine Vernunft das entscheidende Uebergewicht über Sinnlichkeit und Fantasie erhält und Natur und Einfachheit meine Hausgottheiten werden...; dann verdank ich wenigstens Ihnen (Reinhold, F.R.), Schillern und Schmidten die dazu so nöthige Aufmerksamkeit und Beobachtung meiner selbst,..." (Schriften 4, 96)

So hatten die Jenaer Freunde, zu denen neben den genannten Professoren auch die bald durch eigene philosophische Überlegungen sich hervortuenden Mitstudenten Niethammer, Erhard, Creutzer und v. Herbert zählten, Hardenberg vor allem dazu bestimmt, sich nicht von seiner "Brodwissenschaft Abälardisiren" zu lassen. (ebd. 97) Allerdings sollten "Musen und Grazien" lediglich "immer die vertrauten und nützlichen Gespielen" von Hardenbergs Nebenstunden bleiben. (ebd.) Auch für die Beschäftigung mit der Philosophie selbst scheint so zu gelten, was Hardenberg im September 1791 ins Stammbuch Friedrich Creutzers als das Resultat aller seiner bisherigen Philosophie schreibt, nämlich gemäß dem antiken Sinnspruch "meden agan" zu leben, i.e. Alles mit Maß zu besorgen. So sind jene, Philosophie und Poesie eine Nebenrolle zuweisenden Äußerungen Hardenbergs mehr als der bloße Ausdruck des Bestrebens, Dissonanzen zu vermeiden, indem er sich mit dem unvermeidlich Scheinenden (dem Verlassen Jenas) abfindet. Vielmehr deuten sie eine Problematik an, die für Hardenberg bis zu seinem Lebensende Bestand haben wird und die seine Interpreten immer wieder verwirrt hat - das Verhältnis von absoluter Schwärmerey (ein Urteil Friedrich Schlegels über den symphilosophierenden Freund) auf der einen und kaltem technischen Verstand auf der anderen Seite. Beides kommt einzig dann zusammen, wenn Hardenberg vom nüchternen Verstandesdenken geradezu schwärmt. In Erwartung seiner Tätigkeit als Aktuarius beim Kreisamt in Tennstedt, die er am 8. November 1794 antrat, schreibt er beispielsweise an den Bruder Erasmus: "Der Philisterstand ist herrlich. Die überspannten, jugendlichen Ideen sinken dann von selbst in die Grenzen einer bestimmten Wircksamkeit und Thätigkeit herab." (Schriften 4, 123) Und noch in den Fragmenten des Jahres 1799 stellt Hardenberg "kalten technischen Verstand" über die "Fantasie, die uns blos ins Gespensterreich, diesem Antipoden des wahren Himmels, zu leiten scheint." (Schriften 3, 578) Derart bemißt sich der Wert des Jenaer Studiums für Hardenbergs philosophische Bildung vor allem daran, an ihrem Beginn prinzipielle und bleibende Probleme aufgeworfen zu haben. Über diese spezifische - aus den vorliegenden Quellen allein zu rechtfertigende - Bedeutung dürfen die bald nach Hardenbergs Übergang an die Universität Leipzig im Oktober 1792 in Jena sich ereignenden folgenreichen Debatten über Grundlegungsfragen der Philosophie zwar nicht vergessen werden.[1] Da diese aber allenfalls mittelbar für Hardenberg wirksam werden konnten, muß man sich ebenso vor ihrer Überbewertung hüten.

Friedrich von Hardenbergs Jenaer Studienzeit gehört zum unmittelbaren Vorfeld entscheidender Veränderungen in der dortigen Diskussion der kritischen Philosophie. Nachdem Karl Leonhard Reinhold mit seinen Briefen den Ruhm Kants zu begründen wesentlich beigetragen hatte, war er bald schon mit einem eigenen philosophischen Entwurf an die Öffentlichkeit getreten, worin die leise Kritik an Kant, wie sie sich in den Briefen und anderen frühen Veröffentlichungen fand, erheblich deutlicher vorgetragen wurde. Während Reinholds Herder-Rezension von 1785 (in Wielands Teutschem Merkur) der Kantischen Philosophie vorwarf, nur "an einerlei Seelenoperation gewöhnt" zu sein, nämlich "immer im Kopfe" zu sitzen, verschärfte und veränderte sich dieser Vorwurf im Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens von 1789 dahingehend, daß Kant den Begriff der Vorstellung überall unbegründet vorausgesetzt habe. Gerade im Begriff der Vorstellung wurde aber - nach weit verbreiteter (wenngleich verfehlter) Ansicht - das Fundament der Kantischen Philosophie erblickt. In einer Rezension der Kritik der reinen Vernunft, die am 19. Januar 1782 als Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen erschien, heißt es etwa, die Kritik sei ein "Idealismus, der Geist und Materie auf gleiche Weise umfaßt, die Welt und uns selbst in Vorstellungen verwandelt..."[2] Solche den transzendentalen Begründungsgang allzusehr mit den herkömmlichen Debatten über Vorstellung und Bewußtsein vermischende Einschätzungen wurden zwar dem kritischen Ansatz nicht gerecht, gerade sie waren es aber, die das rapide und in seiner Dynamik beispiellose Hinausgehen über die Kantischen Begründungen forcierten. In diese Linie einer mißverständlichen und eben dadurch wirkungsmächtigen Kant-Interpretation ist auch Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie einzuordnen, deren wesentliche Gedanken sich außer im Versuch ebenso in den selbstkritischen Beyträgen zur Berichtigung der bisherigen Mißverständnisse der Philosophen von 1790 sowie in der 1791 erschienen Schrift Über das Fundament des philosophischen Wissens finden. In den Beyträgen stellt Reinhold den Satz des Bewußtseins als obersten Grundsatz auf. "Im Bewußtsein wird die Vorstellung durch das Subjekt vom Subjekt und Objekt unterschieden und auf beide bezogen."[3] Insbesondere durch ihre Struktur - als Philosophie aus einem obersten Grundsatz - hat Reinholds Elementarphilosophie die Jenaer Konstellation der frühen neunziger Jahre nachhaltig beeinflußt. Allerdings ergab sich dieser Einfluß gewissermaßen ex negativo, insofern die junge Jenaer Studentengeneration, allen voran Hardenbergs oben genannte Freunde, sich vehement gegen Reinholds grundsatzphilosophisches Programm wandte. Die Einwände verdichteten sich bis hin zu Niethammers am 2. Juni 1794 in einem Brief an von Herbert signifikant formulierter "Überzeugung der Entbehrlichkeit eines höchsten und Einzigen Grundsatzes der Philosophie".[4] Insbesondere diese Ablehnung einer Grundsatzphilosophie hat für Fichtes Auftreten in Jena von vornherein problematische Rahmenbedingungen geschaffen, die eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der Wissenschaftslehre für die Jenaer nahezu unmöglich machten. Friedrich von Hardenberg allerdings, dessen 1795 begonnene Fichte-Studien gleichfalls ein Ringen um philosophische Grundlegung bezeugen, hatte Jena zu dem Zeitpunkt, da seine Freunde sich kritisch gegen Reinhold wandten, bereits verlassen. Die bedeutsamen Veränderungen, die Dieter Henrich in seinem Jena-Projekt hinsichtlich der frühen neunziger Jahre überzeugend dargelegt hat, ereigneten sich wesentlich erst nach Hardenbergs Jenaer Studienaufenthalt. Derart genügt es nicht zu fragen, wie Hardenberg nach seinem Weggang aus Jena Anschluß an die dortige Konstellation hielt. Denn unklar ist ebenso, ob er überhaupt mit den für die Jenaer nach Henrichs Recherchen so bedeutenden Konstellationen vertraut war und wenn ja, wie er sich ihnen gegenüber verhielt. Seine Fichte-Studien wenigstens geben keine Hinweise auf eine Kritik Fichtes durch Hardenberg, die sich notwendig aus der Jenaer Konstellation der Jahre 1792 bis 1795 ergäbe. Die (zudem recht marginalen) Ressentiments gegen Fichte sind keinesfalls prinzipieller Natur, sondern erscheinen eher als der Versuch, Fichtes Position konsequenter zu formulieren.[5] Damit vollzieht Hardenberg die bald nach dessen Berufung nach Jena aufkommenden Widerstände gegen Fichte nicht mit und macht sich eben dadurch um seinen ehemaligen Studienort in besonderer Weise verdient.