Warum Reduktionist sein?

von Frank Stäudner

Eine spontane Reaktion auf die im Titel gestellte Frage ist oft "Bloß nicht! Auf keinen Fall!" Daß es eine Form des Reduktionismus gibt, bei dem dieser Ausruf die natürliche Reaktion ist und der demzufolge in der philosophischen Diskussion einen schweren Stand hat, dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe - einer davon ist historischer Art.

Am Ausgang des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlitt der Mechanizismus Schiffbruch. ( `Mechanizismus' ist ein von E.J. Dijksterhuis 1956 in seinem Buch Die Mechanisierung des Weltbildes geprägtes Kunstwort, das den uhrwerkhaften Beiklang von `Mechanismus' vermeidet.) Das ambitionierte Programm scheiterte, alle Natur- erscheinungen auf die Wechselwirkung kleiner harter ("materialer") Körper durch entweder zwischen ihnen wirkenden Kräften nach den Gesetzen Isaac Newtons (1643-1727) oder durch direkten Stoß, wie es sich Christiaan Hygens (1629-1695) dachte, zurückzuführen. Immerhin - der Mechanizismus hatte sich 250 Jahre behauptet und ihn zu Fall zu bringen bedurfte es des kombinierten Zusammenwirkens neuer Entdeckungen in Thermodynamik, Elektrizitätslehre, der sich entwickelnden Quantenmechanik und der Speziellen Relativitätstheorie. Aber dauerhafter Erfolg war dieser "Theorie für Alles" nicht beschieden. Daraus sollte man die Lehre ziehen, keine je existierende empirische Theorie zum letzten Wort in der Sache `Naturerklärung' zu machen und nicht versuchen, alle Phänomene im Licht dieser Theorie zu erklären. Die schlichte Lehre lautet: "Baue das reduktionistische Programm nicht auf eine konkrete empirische Theorie, denn sie ist sowieso meistens (einigen Kritischen Rationalisten zufolge sogar immer) falsch."

Den zweiten Einwand handeln sich die besonders im englischen Sprachraum vorkommenden "nothing but"-Philosophen mit ihrem "nothing but"-Reduktionismus ein. Im Licht dieser speziellen Betrachtung wäre z.B. die menschliche Kommunikation, der Austausch von Worten und Sätzen, die Gedanken transportieren, nichts als die Übertragung von Schallwellen, moduliert durch mechanische Lippenbewegungen und ausgelöst durch Vibrationen der Stimmbänder. Weil so etwas wie der semantische Gehalt von Sätzen in physikalischen Theorien kein Äquivalent hat, ist eine beliebte Methode, den "nothing but"-Proponenten zu prügeln, die Anwendung seiner Betrachtung auf ihn selbst und seinen eigenen Worte, die danach nur bedeutungsleeres Blabla sein können. Ist der Reduktionismus damit erledigt? In seiner kruden Variante sicher.

Aber eine erkenntnistheoretische Betrachtung der Struktur unseres Wissens legt einen Standpunkt zwingend nahe, der durchaus die Bezeichnung Reduktionismus verdient. Zumindest will ich dafür argumentieren - als reduktionistischer Überzeugungs- täter gewissermaßen.

Bei der Beschreibung oder Erklärung dessen, was wir in der Welt wahrnehmen, machen wir exzessiv von allgemeinen Gesetzen Gebrauch. Und das hat einen einfachen Grund. Mit solchen Gesetzen läßt sich eine algorithmische Kompression des Datenmaterials erreichen. Wenn sich eine Reihe von Einzelphänomenen unter ein allgemeines Gesetz subsumieren läßt, bedeutet das eine eindrucksvolle Arbeitsersparnis. An die Stelle einer seitenlangen Aufzählung von Ereignissen und Beobachtungen kann ein in einer Zeile ausgeführtes Gesetz treten. Daß so ein mit Allquantor versehener Satz (das darf hier als Definition eines Gesetzes genügen) über die zwangsläufig endliche Datenbasis hinausgeht und dadurch den Wahrheitsanspruch verliert, hat in diesem Jahrhundert insbesondere der Kritische Rationalismus unter dem alten Stichwort "Induktionsproblem" ausgiebig verhandelt. Weil wir dem Descartesschen Ideal vom sicher als wahr erkannten Wissen nicht mehr anhängen, darf ein Allsatz Wissensstatus beanspruchen. Und er darf sogar noch mehr - nämlich beanspruchen, Wissen in einem handhabbaren und brauchbaren Sinn erst möglich zu machen. In Kurzform lautet meine These: Wissen entsteht durch Reduktion.

Im Schritt von den Einzeltatsachen hin zu Gesetzen hat diese Reduktion einen eigenen Namen: algorithmische Kompression. Im nächsten Schritt, wo Gesetze zu Theorien zusammengefaßt werden und zwischen Theorien unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades Verknüpfungen hergestellt werden, muß diese Verknüpfung reduktiv genannt werden, weil der begriffliche Rahmen für die Vereinheitlichung allen Gesetzeswissens bereits entwickelt ist (P. Oppenheim und H. Putnam: Unity of Science as a Working Hypothesis, 1958) und darin genau dieser Terminus benutzt wird, der demjenigen der algorithmischen Kompression äquivalent ist.

Beispiele für geglückte Theoriereduktionen finden sich (soweit sie dem Verständnis des Autors zugänglich sind) am ehesten innerhalb der Physik, beispielsweise bei dem Nachweis des `Enthaltenseins' der Klassischen Mechanik in der Nichtrelativistischen Quantenmechanik oder dem der Galileischen Kinematik in der Klassischen Mechanik. Bei diesen Theoriereduktionen werden neben den Gesetzen noch spezialisierende Annahmen, Näherungen und kontingente Randbedingungen eingesetzt.

In der Tat können wir, wenn Reduktion etwas ist, das wir erst in die Natur hineinlegen, nicht sicher davor sein, an einen Punkt zu gelangen, an dem singuläre, kontingente, historische, (kurz: Einzel-) Phänomene ein Übergewicht erlangen, welches eine gesetzmäßige und damit gleichbedeutend reduktive Erfassung der Natur unmöglich macht. Die Erklärung des menschlichen Geistes könnte z.B. jenseits dieser Grenze liegen.

Um meine These von der unaufhebbaren Verbindung von Erkenntnis und Reduktion noch einmal stark zu machen, will ich auf die Geschichtswissenschaft verweisen. Ein Historiker hat unzweifelhaft (wenn man nicht gerade Anhänger eines extremen Determinismus ist) mit singulären Ereignissen zu tun, die auf dem freien Handeln geschichtlicher Personen beruhen. Trotzdem suchen Historiker in ihrem Arbeitsgebiet intensiv nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, auch wenn sie im Ergebnis oft nicht an die Exaktheit und Präzision der "harten" Naturwissenschaften heranreichen.

Auf die eingangs gestellte Frage "Warum Reduktionist sein?" kann an dieser Stelle die Antwort nur lauten "Weil wir nicht anders können."

Wenn man den Gedanken akzeptiert, Reduktionist sein zu müssen, dann tut der Vorwurf, dadurch ein Dogmatiker geworden zu sein, besonders weh. Paul Feyerabend (1924-1994) hat ihn erhoben. Ich hoffe aber, Dispens erteilen zu können.

Wenn die Reduktion einer Theorie auf eine umfassendere Theorie eine gute Erklärung für die reduzierte Theorie ist, dann ist die beste Erklärung diejenige, die ein Theoriengebäude errichtet, in dem alle existierenden Theorien direkt oder mittelbar (transitiv) über andere Theorien auf eine einzige Theorie zurückgeführt werden. Das ist Theorienmonismus. Und darin lauert nach Feyerabend der Dogmatismus.

Denn die Leistungsfähigkeit einer einzelnen Theorie soll sich nicht durch die Kontrolle an der Erfahrung, also letztlich durch Vergleich mit Beobachtungstatsachen, erweisen lassen, sondern nur durch Vergleich mit anderen Theorien. Und wenn es nur eine Theorie gibt, ist sie gegen Widerlegung immun, weil kein Vergleich stattfinden kann. Dem Bild von der Kontrolle an der Erfahrung muß nämlich die Annahme zugrunde gelegt werden, daß diese vom theoretischen Hintergrund unabhängig erfolgen kann. Tatsachen müssen also eine "relative Autonomie" (Feyerabend) besitzen. Sonst erlaubt der Blick durch eine `theoriegefärbte' Brille auf die Welt überhaupt nur, daß Tatsachen wahrgenommen werden, die mit der Theorie übereinstimmen. Mehr als Selbstbestätigung der Theorie findet dann nicht statt.

Ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte kann die Autonomieannahme aber nicht stützen, sondern erhärtet die Vermutung einer "theory-ladenness of observation" (Hanson). Die `Entdeckung' des Sauerstoffs ist so ein Beispiel. "Der unmögliche Gedanke, daß Priestley zuerst den Sauerstoff entdeckte und Lavoisier ihn danach erfand, hat seine Reize." (Kuhn). Joseph Priestley (1733-1804) erzeugte ab 1774 in seinem Labor Sauerstoff, konnte als Anhänger der Phlogistontheorie (Phlogiston=Wärmestoff) Sauerstoff aber nicht als eigenständige chemische Substanz anerkennen. Antoine Laurent Lavoisier (1743-1794) experimentierte ab 1775 ähnlich, hielt das Gas zunächst für "völlig unveränderte Luft", nur etwas reiner und "besser atembar" und erkannte es ab 1777 als selbständige Substanz und einen der Hauptbestandteile der Atmosphäre. Sauerstoff im modernen Sinn hatte aber auch Lavoisier nicht gefunden, der zeitlebens an einem `Säureprinzip' festhielt, welches die sich entwickelnden Sauerstoffchemie erst bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Feld schlagen konnte.

Tatsachen, das zeigen dieses Beispiel und viele andere derselben Art, werden also nicht einfach entdeckt, sondern in einem Prozeß der wechselseitigen Verschärfung von Beobachtung und Hypothese hin zu einer neuen Theorie erst erzeugt.

Ist der Theorienmonismus damit erledigt, weil er keine unabhängigen Hypothesen als Nukleationskeime neuer Theorien erlaubt? Keineswegs! Denn die Wissenschafts-geschichte hält "Erklärungsanomalien" (Kuhn) bereit. Auch innerhalb einer allein herr- schenden Theorie kann sich bei den beteiligten Forschern ein Gefühl für die Unzulänglichkeit dieser Theorie entwickeln. Dieses Gefühl wird nicht durch wider- sprechende Fakten genährt, soweit hat Feyerabend recht, sondern durch ausufernde Umständlichkeit und Mühsal bei der Integration mancher Tatsachen. Im Bewußtsein dieser Unzulänglichkeiten - der Anomalien - wird es dann möglich, alternative Theorien zu päppeln, auch wenn sie zunächst nicht besser sind als ihre Vorgänger. Die Kopernikanische Wende ist das klassische Beispiel: Nikolaus Kopernikus' (1473-1543) System der Planeten auf perfekten Kreisbahnen um die Sonne war zunächst in der Wiedergabe astronomischer Beobachtungsdaten nicht besser als das Modell von Epizykeln auf Epizykeln auf Epizykeln... des Ptolemäus (~ 85-160).

Theorien können demnach ein Gefühl ihrer eigenen Unzulänglichkeit ausbrüten, das den Anstoß zu ihrer Ersetzung liefert. Wir können also die beruhigende Einsicht mit nach Hause nehmen, zwar zum Theorienmonismus gezwungen, nicht aber zum Dogmatismus verurteilt zu sein.

Literatur:

[1] Eduard Jan Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin 1956

[2] Paul Feyerabend: How to be a good empiricist - a plea for tolerance in matters epistemological; in W.L. Reese (ed.): Philosophy of Science, The Delaware Seminar vol. 2, New York 1963

[3] Norwood Russell Hanson: Patterns of Discovery, Cambridge 1958

[4]Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1973

[5] Paul Oppenheim, Hilary Putnam: Unity of Science as a Working Hypothesis; in

Concepts, Theories, and the Mind-Body Problem, Minesota Studies in the Philosophy of Science, ed. H. Feigl, M. Scriven, G. Maxwell, Mineapolis 1958

Autor:

Frank Stäudner

Institut f. Philosophie

FSU Jena

Zwätzengasse 9

07740 Jena