Der dritte Mann

Carnap und seine Begleiter als Hörer Freges

Sven Schlotter

In seiner 1963 erschienenen Intellektuellen Autobiographie berichtet der Wissenschaftstheoretiker und Logiker Rudolf Carnap, der in den Vereinigten Staaten zu großer akademischer Wirksamkeit gelangt war, auch über die Studienzeit in Jena vor dem Ersten Weltkrieg.1 Diese Aufzeichnungen haben in der philosophiehistorischen Forschung viel Beachtung gefunden, nicht zuletzt deshalb, weil sie zu den ganz wenigen Quellen zählen, die über Persönlichkeit und Lehrart Gottlob Freges Auskunft geben. Kaum bekannt ist hingegen, daß Carnap in der ursprünglichen Fassung der Autobiographie, die für den Druck in der Reihe The Library of Living Philosophers erheblich gekürzt wurde, noch ausführlicher über sein Verhältnis zu Frege schreibt. Inzwischen sind auch diese Passagen der Forschung zugänglich gemacht worden.2 Das liefert den willkommenen Anlaß, nach genau hundert Jahren ein kriminalistisches Auge auf die näheren Umstände von Carnaps Frege-Studien zu werfen.

Obwohl Frege als Begründer der modernen Logik bereits um die Jahrhundertwende internationales Ansehen genoß, führte er an der Universität Jena eher ein Schattendasein. Auch Carnap hatte, bevor er im Wintersemester 1910/11 Freges Veranstaltung „Begriffsschrift“ belegte, noch nie etwas von der Person oder dem Thema gehört, außer der Bemerkung eines Freundes, „jemand habe es interessant gefunden“. In seinen Erinnerungen findet sich die häufig zitierte Schilderung, nach welcher der scheue und introvertierte Frege seinen Zuhörern gewöhnlich den Rücken zukehrte, während er die „seltsamen Diagramme seines Formalismus“ an die Tafel schrieb. Niemals habe ein Student, von denen nur wenige die Vorlesung besuchten, eine Frage gestellt; die Möglichkeit einer Diskussion schien völlig ausgeschlossen. Von diesem wenig kommunikativen Lehrstil ließen sich Carnap und sein Begleiter jedoch nicht abschrecken, wie man den unveröffentlichten Teilen der Autobiographie entnehmen kann:

But my friend and I became very much interested and had our private discussions on this new form of logic. We were fascinated to learn how the connections between sentences were reducible to two simple ones (negation and conditional) and represented by simple configurations of lines. We amused ourselves by sometimes using or misusing the notation for profane purposes.3

Zunächst ist zu klären, wer der „Freund“ war, von dem Carnap hier spricht. Bislang hat man meist angenommen, daß es sich dabei um Wilhelm Flitner handelt. Dieser nämlich erwähnt in seinen Erinnerungen, daß die Veranstaltung gemäß der Regel „tres faciunt collegium“ ausgefallen wäre, wenn Carnap ihn nicht als zweiten Hörer angeworben hätte. Im „nächsten Semester“ – so Flitner – soll der Kommilitone Kurt Frankenberger die Funktion des „dritten Mannes“ erfüllt haben.4 Tatsächlich existiert der Anfang einer Mitschrift Flitners von Freges Vorlesung.5 Nach brieflicher Auskunft des Sohnes Andreas Flitner aus dem Jahre 1989 umfaßt diese aber nur „drei Blätter, die aus einem Oktavheft herausgerissen sind, offenbar deshalb, weil das Heft im übrigen anderen Zwecken diente“.6 Das läßt vermuten, daß Flitner zwar aus Freundschaft Carnap in die Veranstaltung begleitete, deren Besuch aber schon nach wenigen Sitzungen abgebrochen hat. Ganz sicher war der angehende Pädagoge, der vor allem geistesgeschichtliche Interessen besaß und nur wenig von Mathematik verstand, auf dem Felde der Logik kein gleichwertiger Gesprächspartner für Carnap. Man wird also davon ausgehen müssen, daß der von ihm erwähnte „Freund“ und ständige Begleiter schon in dieser ersten Veranstaltung nicht Flitner, sondern Kurt Frankenberger war. Der 1891 geborene Sohn eines Zeissarbeiters, der zum Werkmeister aufgestiegen und in der Sozialdemokratischen Partei aktiv war, hatte im Sommersemester 1910 in Jena das Studium der Mathematik und Naturwissenschaften aufgenommen. Auch in seiner Biographie läßt sich jene eigentümliche Spannung zwischen jugendbewegter Lebensstimmung und der Ausrichtung an einem streng logischen Wissenschaftsideal erkennen. Wie sein Altersgenosse Carnap nahm er an den geselligen Veranstaltungen des Serakreises teil und besuchte die Seminare des Dilthey-Schülers Herman Nohl, der als Lehrer der Jenaer Freistudenten galt.7 Auf der anderen Seite scheint gerade die Beschäftigung mit Freges Logik einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Am 6. Dezember 1911 hielt Frankenberger in der Jenaer Philosophischen Gesellschaft sogar einen Vortrag „Über Begriffsschrift“.8 In ihm wies er zunächst im allgemeinen auf die Bedeutung einer Begriffsschrift für das logische Denken und seinen Ausdruck hin, skizzierte dann die historische Entwicklung von Zeichensprachen bis hin zu Leibniz und Lambert, um schließlich durchaus sachkundig auf die Untersuchungen Freges einzugehen:

Zum Schluß erwähnte der Vortrag die neuen Antriebe der Gegenwart und betonte die Verwandtschaft von Funktion und Begriff, wie sie von Frege hervorgehoben wird. Die Natur der mathematischen Funktion, die keine Zahl ist, keine Verbindung, vielmehr den Charakter des Unerfülltseins besitzt, zu dem die Zahl als Argument erst hinzutreten muß, wurde entwickelt.9

Eben dieser Gedanke wurde für den zum Herbst 1911 nach Jena berufenen Neukantianer Bruno Bauch wichtig, der seit 1914 in seinen Schriften in Anlehnung an Frege immer wieder den funktionalen Charakter des Begriffes betonte.10 Als Vermittler dieser Auffassung kommt wohl vor allem der Bauch-Schüler Fritz Münch in Frage. Er spielte eine besonders aktive Rolle in der Philosophischen Gesellschaft und kam dort auch mit Frankenberger in Kontakt.11 In seiner 1913 erschienenen Dissertation würdigt Münch die Ausführungen der Begriffsschrift als „scharfsinnige Bemühungen“ im Dienste der „Logisierung der Mathematik“.12 Insgesamt wird deutlich, daß sich Frankenbergers Frege-Interesse nicht auf rein technische Aspekte beschränkte, sondern in weitere philosophische Zusammenhänge eingebunden war. Neben den Berührungspunkten mit neukantianischen Denkern war auch der über Nohl vermittelte Einfluß der Lebensphilosophie bedeutsam. Besonders aufschlußreich ist in dieser Hinsicht ein Kurzreferat, das Frankenberger im Sommer 1912 anläßlich eines Vortrages über den Philosophen Henri Bergson für die Jenaer Hochschulzeitung verfaßte.13 Darin weist er ganz in Übereinstimmung mit Bergson alle Versuche zurück, metaphysische Fragen auf Grundlage der Einzelwissenschaften beantworten zu wollen. Vermag doch der analysierende Verstand, der auf die meßbaren Eigenschaften fester Körper bezogen ist, die „lebendige Bewegung des Weltprozesses“ nicht zu begreifen. Dies bleibe der intuitiv erfassenden Vernunft als dem eigentlichen Erkenntnisvermögen der Philosophie vorbehalten. Zugleich aber weist Frankenberger darauf hin, daß sich Analyse und Intuition nicht etwa gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr einander voraussetzen und bedingen. Deshalb gehe auch der Glaube an eine „wissenschaftslose Weltbetrachtung“ fehl, denn gerade die „Beherrschung des exakt wissenschaftlichen Materials“ ermögliche die „Findung philosophischer Wahrheiten durch intuitive Selbstbesinnung“. So sei auch Bergson selbst durch „Logizismus und Transzendentalismus“ zu einem Idealismus vorgedrungen, der ihn den Denkern der „deutschen Bewegung“ verwandt mache. Der Ausdruck „deutsche Bewegung“, den Frankenberger hier aufgreift, stammt von Herman Nohl, der damit die von ihm als innere Einheit verstandene deutsche Geistesgeschichte vom Sturm und Drang bis zur Romantik bezeichnete.14

In diesem Jena-spezifischen Substrat, das sich als eine Mischung von Logik, Neukantianismus und Lebensphilosophie darstellt, liegen auch die Wurzeln von Carnaps Frühwerk.15 Zwar bekennt er ausdrücklich, die große philosophische Bedeutung Freges erst später erkannt zu haben. Gleichwohl zeigen bereits seine Mitschriften, die Gottfried Gabriel und seine Mitarbeiter in mühevoller Arbeit transkribiert und herausgegeben haben, ein ausgezeichnetes Verständnis des Vorlesungsstoffes.16 Wir wissen außerdem, daß sowohl Frankenberger als auch Carnap gern noch mehr über die Begriffsschrift und ihre Anwendung in der Mathematik erfahren hätten. In besonderer Weise weckte eine Bemerkung Freges gegen Ende des Semesters ihre Neugier, wonach die neue Logik zum Aufbau der gesamten Mathematik dienen könne.17 Es sollte allerdings noch mehr als zwei Jahre dauern, bis sich Gelegenheit zur Vertiefung bot. Im Sommersemester 1911 wechselte Carnap an die Universität Freiburg. Als er zum Wintersemester 1912/13 nach Jena zurückkehrte, nahm er auch seine Studien bei Frege wieder auf und belegte zunächst dessen Veranstaltung „Analytische Mechanik I“.18 Im Sommersemester 1913 schließlich konnten Carnap und Frankenberger die weiterführende Veranstaltung „Begriffsschrift II“ besuchen. An dieser Stelle ist hervorzuheben, daß Frege zwar seit 1883/84 regelmäßig in jedem Wintersemester „Begriffsschrift“ ankündigte,19 aber nur dieses eine Mal während seiner gesamten akademischen Lehrtätigkeit die Veranstaltung „Begriffsschrift II“ anbot. Zu dieser Ankündigung wäre es wohl nie gekommen, wenn nicht Teilnehmer der einführenden Veranstaltung den Wunsch nach einer Fortsetzung geäußert hätten. Es ist allerdings kaum vorstellbar, daß die beiden Studenten diese Bitte artikulierten. Carnap selbst will niemals gehört haben, daß ein Student zu Frege gegangen sei, um mit ihm zu sprechen.20 Wer sonst kommt in Frage? Ein Hinweis darauf findet sich in Carnaps Autobiographie:

In the summer semester of 1913, my friend and I decided to attend Frege’s course ‚Begriffsschrift II‘. This time the entire class consisted of the two of us and a retired major of the army who studied some of the new ideas in mathematics as a hobby. It was from the major that I first heard about Cantor’s set theory, which no professor had ever mentioned.21

Den Herausgebern von Carnaps Vorlesungsmitschriften ist es bereits gelungen, die Identität des dritten Teilnehmers zu lüften.22 Der geheimnisvolle Major a. D. war Richard Seebohm (1866-1934). Diese merkwürdige Persönlichkeit, über deren Lebensweg ich an anderer Stelle ausführlich gehandelt habe,23 entstammte einer wohlhabenden Bürgerfamilie, die Kohlegruben in Nordböhmen besaß. Nach Schuljahren in Sachsen und Thüringen hatte sich der junge Seebohm für eine militärische Laufbahn entschieden. In Magdeburg trat er bei den Pionieren ein und bestand als Leutnant die Fachprüfung für Ingenieuroffiziere. Danach diente er beim Eisenbahnregiment, von wo er sich auf eigenen Wunsch zur Infanterie versetzen ließ. Bei seinen Vorgesetzten scheint sich See­bohm bald für höhere Aufgaben empfohlen zu haben. Nach dem Besuch der Kriegsakademie wurde er für zwei Jahre zum großen Generalstab kommandiert und war schließlich als Lehrer an der Kriegsschule in Potsdam tätig. Wegen eines Herzleidens mußte er jedoch bereits in verhältnismäßig jungen Jahren den Abschied nehmen. Trotz der bis dahin äußerlich ungebrochenen Laufbahn verkörperte Seebohm doch keineswegs den Typus des engstirnigen und bornierten Militärs. Vielmehr war er schon frühzeitig durch starke geistige Interessen aufgefallen. So begann er sich noch als aktiver Offizier eingehend mit theosophischen Ideen zu beschäftigen. Als Rudolf Steiner 1913 die „Anthroposophische Gesellschaft“ ins Leben rief, gehörte der Major zu deren ersten Mitgliedern.

Besondere Aufmerksamkeit widmete Seebohm der Erziehung seiner Kinder. Bei der Suche nach geeigneten Internaten für den Sohn und die ältesten Töchter war er auf die von Hermann Lietz initiierte Landschulbewegung aufmerksam geworden. In Abkehr von den herkömmlichen Lehranstalten ging es dieser Bewegung um eine ganzheitliche Erziehung durch Unterricht und Arbeit in der Natur, fernab der Großstadt und den Gefahren der Zivilisation. In den Jahren um 1900 konnte Lietz drei Heime in Ilsenburg (im Harz), Haubinda (bei Meiningen) und Bieberstein (in der Rhön) gründen, die bald große Ausstrahlung erlangten. Auch Seebohm war vom pädagogischen Ansatz des Schulreformers tief beeindruckt. Als Vorsitzender des 1911 gegründeten „Vereins der Freunde der Deutschen Landerziehungsheime“ unterstützte er bald dessen Bestrebungen. In seinen Lebenserinnerungen zählt Lietz den Major daher zu den „opferbereitesten“ Helfern, die als „echte Idealisten die starken Schäden des Bestehenden sahen“ und eine „Besserung der Zustände durch erzieherische Arbeit mit uns erhofften und wünschten“.24

Die Nähe zu den Lietzschen Heimen gab wohl auch den Ausschlag dafür, daß sich Seebohm nach dem Abschied vom Militär in Jena niederließ. Die Universitätsstadt bot ihm überdies die Möglichkeit, seine umfassende Bildung in verschiedene Richtungen zu erweitern. Im Herbst 1911 schrieb er sich an der Salana für das Studium der Philosophie und Mathematik ein. Außerdem wurde er Mitglied der Jenaer Philosophischen Gesellschaft, in der Frankenberger seinen Vortrag „Über Begriffsschrift“ gehalten hatte. In diesem Umfeld wird Seebohm auch Carnap kennen gelernt haben. Beide verband nicht nur das gemeinsame Studieninteresse, sondern auch das Engagement für die Lietzschen Heime. Die Ideen des Reformpädagogen sind im Kreis der Jenaer Freistudenten intensiv diskutiert worden. Vor diesem Publikum hielt Lietz sogar einen eigenen Vortrag, der trotz schwerfälliger und unbeholfener Diktion doch eine große Wirkung ausübte.25 So war auch bei Carnap der Wunsch entstanden, sich näher mit dieser pädagogischen Reformströmung zu beschäftigen.26 Bereits im Juli 1912 konnte ihn Seebohm per Postkarte als neues Mitglied im Freundeskreis der Landerziehungsheime begrüßen. Der handschriftliche Zusatz „Ich hoffe sehr auf die Freude Ihres Besuchs Anfang der Ferien“ weist bereits auf eine nähere Bekanntschaft hin. Wenig später (im September 1912) wendet sich Carnap in einem Brief direkt an Lietz, um seinen Besuch in Haubinda anzukündigen. Nachdem er durch Dritte – damit kann nach Lage der Dinge nur Seebohm gemeint sein – vom Hörensagen näher mit den Heimen bekannt geworden sei, möchte er sie nun „auch aus eigener Anschauung kennenlernen“. Carnap scheint sich sogar mit dem Gedanken getragen zu haben, als Lehrer in den Heimen zu arbeiten. Darauf deutet ein Telegramm von Lietz vom 6. Oktober 1912 mit folgendem Inhalt hin: „Lehrer gefunden. Brief unterwegs“. Leider sind die ausführlichen Tagebücher, die Carnap seit seiner Jugend führte, gerade für diesen Zeitraum nicht erhalten. Aus seinem Notizkalender läßt sich immerhin entnehmen, daß er in den Jahren 1912/13 regelmäßig – meist zum 4-Uhr-Tee – bei Seebohm zu Gast war.27 Dokumentiert ist auch, daß Carnap im März 1913 gemeinsam mit Seebohm zum Schloß Bieberstein fuhr, wo eine der Heimschulen ihren Sitz hatte.28

In eben dieser Zeit bereiteten sich Carnap und Frankenberger, deren erste Beschäftigung mit Freges Logik mittlerweile zwei Jahre zurücklag, auf die Veranstaltung „Begriffsschrift II“ vor. Dabei tauschten sie auch jene scherzhaften Botschaften in Frege-Notation aus, von denen Carnap in seiner Autobiographie berichtet.29 Im Nachlaß findet sich noch der Entwurf zu einer solchen Mitteilung, die Carnap am 20. März 1913 an Frankenberger richtete, nachdem dieser zwei Treffen zum „Frege Arbeiten“ versäumt hatte.30 Die Art ihrer Abfassung verrät, daß die Studenten zur Wiederholung und Vertiefung des Stoffes nun auch die Schriften Freges (insbesondere die Grundgesetze der Arithmetik) heranzogen. Wie aber bereitete sich Seebohm vor? Möglich wäre, daß er während der regelmäßigen Treffen mit Carnap, an denen manchmal auch Frankenberger teilnahm, mit dem Thema vertraut gemacht wurde und dieses im Selbststudium vertiefte. Noch wahrscheinlicher aber ist, daß er im Wintersemester 1912/13 die einführende Veranstaltung zur Begriffsschrift belegte und hier vielleicht auch den Wunsch nach einer Fortsetzung äußerte.

In dem kleinen Kreis, der sich dann im Sommer 1913 allwöchentlich in früher Morgenstunde zu „Begriffsschrift II“ zusammenfand,31 fühlte sich Frege ungezwungener und taute ein wenig auf. Eine Diskussion gab es zwar noch immer nicht. Jedoch berichtet Carnap, daß Frege sich nicht darauf beschränkte, die fortgeschrittenen Teile seiner Logik zu erklären, sondern gelegentlich auch polemische Bemerkungen gegen andere Konzeptionen vorbrachte. Vor allem wandte er sich gegen formalistische Auffassungen (wie sie etwa sein Jenaer Kollege Johannes Thomae vertreten hatte), nach der Zahlen als bloße Zeichen aufzufassen seien.32 Bei dieser Gelegenheit gab er auch Kostproben seiner geistreichen Ironie. Hierzu Carnap:

When he made such side remarks, he would sometimes turn his head a bit away from the blackboard, so that we saw him at least in profile and then, with an ironic smile he would make some sarcastic comment on the opponents.33

Die Vorbereitung der Veranstaltung scheint Frege einigen Aufwand abverlangt zu haben. Den „Beweis, daß es nicht mehr als einen Grenzwert einer Funktion für [ein] positiv ins Unendliche wachsendes Argument gibt“, der den Großteil der Vorlesung einnahm, hat er eigens zu diesem Zwecke und zwar noch während des laufenden Semesters ausgearbeitet.34 Das dürfte dem gesundheitlich angeschlagenen Frege nicht ganz leicht gefallen sein. Am 31. Juli 1913 (das Semester dauerte bis zum 9. August) wandte er sich mit einem Urlaubsgesuch für das nächste Halbjahr an den Senat der Universität. Zur Begründung führt Frege an, daß er sich „gegen Ende der Vorlesungszeit nur noch mühsam hinschleppe“ und auch in den Ferien nicht genügend Kräfte sammeln könne, um seine wissenschaftlichen Arbeiten voranzutreiben. „Dies Nachlassen der Kraft“ verspüre er „nun grade jetzt in besonders hohem Grade“.35 Der Antrag, dem ein ärztliches Attest über „allgemeine Nervenschwäche“ beigefügt war, wurde von der Regierung bewilligt. In seiner mecklenburgischen Heimat – im Ostseebad Brunshaupten – fand Frege die Ruhe, die er zur Erholung und wissenschaftlichen Besinnung nötig hatte. Hier empfing er im Dezember 1913 auch den im Briefwechsel mit Jourdain erwähnten Besuch Wittgensteins.36 Als Frege dann im Frühjahr 1914 nach Jena zurückkehrte, hatte er ein fertiges Manuskript mit dem Titel „Logik in der Mathematik“ im Gepäck,37 welches er der gleichnamigen Vorlesung im Sommersemester 1914 zugrunde legte.38 In den Mitschriften zu dieser Veranstaltung – auch sie fand nur ein einziges Mal statt – hat Carnap gelegentlich die Reaktionen der Anwesenden verzeichnet. So führte die Frege-Lesern wohlbekannte Bemerkung „Diese Zahl kommt nun von Berlin angerast“ zu „Heiterkeit im Zentrum“, während zwei andere sarkastische Aussprüche Freges „Heiterkeit links“ oder gar „Heiterkeit im ganzen Haus“ erregten.39 Diese ironischen Ortsangaben im Stile von Reichstagsprotokollen lassen erkennen, daß die Veranstaltung von mindestens drei, vielleicht sogar wiederum von genau drei Teilnehmern (rechts, Zentrum, links) besucht wurde.40

Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges löste sich der kleine Kreis der Frege-Freunde auf. Carnap meldete sich noch im August 1914 als Kriegsfreiwilliger. Die Ausbildung im Schneeschuhbataillon, das sich wesentlich aus Akademikern zusammensetzte, durchlief er gemeinsam mit Lietz, der trotz seines fortgeschrittenen Alters noch Soldat geworden war.41 Kurt Frankenberger verlor in Folge einer schweren Verwundung im Jahre 1916 ein Bein. Danach arbeitete er als Lehrer, konnte sich aber von den Kriegserlebnissen nie recht erholen. 1936 nahm er sich das Leben.42 Seebohm war im Sommer 1914 reaktiviert worden und kam als Adjutant beim Generalkommando des XI. Armeekorps in Kassel zum Einsatz. Auch in dieser Dienststellung fand er Gelegenheit, sich mit philosophischen Dingen zu befassen. Zu seiner Abteilung gehörte für ein halbes Jahr der Begründer der sogen. Neufriesschen Schule Leonard Nelson. Im Anschluß an Jakob Friedrich Fries vertrat dieser eine Philosophie, deren „kritische Methode“ auch für die Grundlagendiskussionen in Mathematik und Naturwissenschaften Bedeutung beanspruchte. Der Mathematiker David Hilbert hat deshalb wiederholt versucht, dem Privatdozenten eine Professur an der Universität Göttingen zu verschaffen.43 Zu diesem Zwecke legte er im Sommer 1918 eine Sammlung von Argumenten an, mit denen er beim Minister für eine Berufung Nelsons werben wollte. Da dessen ‚patriotische Gesinnung‘ schon in den ersten Kriegsjahren angezweifelt worden war, holte Hilbert auch eine Stellungnahme der militärischen Dienststelle ein. Dieser Bitte ist Seebohm sehr bereitwillig nachgekommen. Am 5. Juli 1918 antwortet er dem weltberühmten Wissenschaftler:

Hochverehrter Herr Geheimrat!
Indem ich den Empfang Ihrer liebenswürdigen Zeilen vom 30. v. [vorigen] Mts. bestätige, danke ich verbindlichst für das Vertrauen, das Sie mir mit Ihrer Anfrage erzeigen.
Ich kann von Herrn Dr. Nelson, der etwa ein halbes Jahr zu meiner Abteilung kommandiert war, nur Gutes berichten und beziehe mich dabei insbesondere auch auf das Urteil meines Mitarbeiters, dem er eigens zugeteilt gewesen ist, mit dem ich über ihn wiederholt und eingehend gesprochen habe, des Hauptmanns d. L. [des Landsturms] Hansen (Geh. Regierungsrat a. D., früher im Kaiserlichen Kolonialdienst).
Herr Dr. Nelson ist, wie mir der hiesige, ihn behandelnde Militärarzt, ein anerkannt tüchtiger Nervenarzt, sagte, tatsächlich nervenleidend, und zwar derart, daß er zur Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit einer besonderen Pflege und einer besonderen Lebensweise dauernd bedarf, also zum Heeresdienst untauglich ist. Ich schicke das voraus, damit darüber kein Irrtum entstehen möge.
Trotzdem ihm der Dienst im Geschäftszimmer des Generalkommandos, der ja viel fordert, nicht leicht geworden ist, hat er sich mit anerkennenswertem Eifer seiner Obliegenheiten angenommen. Auch seine menschlich wertvollen Eigenschaften haben wir geschätzt.
Ich würde mich freuen, wenn Herr Dr. Nelson zu der auszeichnenden Stellung berufen würde, von der Sie, hochverehrter Herr Geheimrat, schreiben, und wenn es ihm beschieden sein sollte, in dieser unserem Vaterlande weiterhin gute Dienste zu leisten.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ganz ergebener Seebohm!
Major und Adjutant beim stellvertr. Generalkommando XI A.Ks44

Die Bemühungen Hilberts blieben nicht ohne Erfolg. Im Frühjahr 1919 wurde Nelson auf das neugeschaffene Extraordinariat für die Philosophie der exakten Wissenschaften in Göttingen berufen. Mit Blick auf die Beziehung zu Seebohm ist von Interesse, daß sich Nelson schon vor dem Kriege eingehend mit Frege auseinandergesetzt und sogar dessen Aufnahme in den Kreis der Neufriesianer erwogen hatte.45 Zugleich war er ein Bewunderer von Lietz, auf dessen Erziehungsprogramm er sich seit 1919 bei der Verwirklichung seiner eigenen philosophisch-politischen Ideen berief. Unter Nelsons Einfluß entstand sogar ein eigenes Landerziehungsheim in Walkenmühle, in dem die ‚Führer‘ des Internationalen Jugendbundes ausgebildet wurden. Vielleicht erneuerte sich in diesem Zusammenhang auch die Bekanntschaft mit Seebohm, der nach der Entlassung aus dem Militärdienst seine ganze Arbeitskraft in den Dienst der Landerziehungsheime stellte. Das Testament des im Juni 1919 verstorbenen Lietz sah vor, die bis dahin im Privatbesitz befindlichen Einrichtungen in eine Stiftung umzuwandeln. Seebohm hatte wesentlichen Anteil daran, daß der Wunsch des Verstorbenen trotz großer Hindernisse rasch organisatorische Form erhielt.46 Als erster Vorstand der Stiftung, die dem preußischen Kultusministerium unterstellt war, führte er die entscheidenden Verhandlungen mit den amtlichen Stellen.

Zu Beginn der 20er Jahre rückten jedoch bei Seebohm die anthroposophischen Interessen immer stärker in den Vordergrund. Anläßlich der Einweihung des Goetheanums, dem Zentralbau der Steiner-Anhänger in Dornach bei Basel, hielt er im September 1920 eine der Eröffnungsansprachen. Vor allem aber wirkte er in Jena als Leiter des von ihm begründeten Fichte-Schiller-Zweiges. Schon 1913 hatte er im Vorort Zwätzen – in exponierter Lage an der Südostseite des Galgenberges – mit dem Bau eines repräsentativen Hauses begonnen, das als Versammlungsstätte der Jenaer Anthroposophen dienen sollte. Während des Krieges und in den nachfolgenden Krisenjahren geriet die bauliche Fertigstellung allerdings immer wieder ins Stocken. Aus dieser Zeit existiert ein Bericht des Germanisten Kuno Francke (1855-1930), der deutsche Kulturgeschichte in Harvard gelehrt hatte und 1920 erstmals nach Kriegsende sein Vaterland besuchte.47 Während dieser Reise kam er auch nach Jena, wo er für eine Woche bei einem Verwandten in Löb­stedt wohnte. Dieser Verwandte war kein anderer als eben jener Hansen, den Seebohm in seinem Brief an Hilbert erwähnt. Der ehemalige Kolonialbeamte, der zwischen 1907 und 1912 sogar stellvertretender Gouverneur von Kamerun gewesen war, hatte sich in den Nachkriegswirren in Sichtweite zum Seebohmschen Anwesen niedergelassen.48 Francke empfand es geradezu als eine „Verwirklichung Tolstoischer Ideale“, wie sich der an Komfort gewohnte Mann und seine zur Weltdame erzogene Frau in die neuen bescheidenen Verhältnisse fügten, ihr schönes Landhaus in eine Art bäuerlicher Kleinwirtschaft verwandelten, Ziegen melkten, Kaninchen fütterten, den Garten bestellten und mit den Bewohnern des benachbarten Dorfes auf dem Fuß der Gleichberechtigung lebten. Durch Hansen lernte Francke auch Seebohm kennen, über den er in seinen Erinnerungen schreibt:

Vor dem Kriege hatte er sich auf einer Höhe in der Nähe von Loebstädt ein kastellartiges Schloß errichtet, welches aber im Bau stecken geblieben war. Jetzt hauste er in dieser Burgruine mit ihren halbfertigen Altanen, schadhaften Dächern und unbekalkten feuchten Wänden als ein vegetarischer Einsiedler und begeisterter Prophet von Rudolf Steiners Anthroposophie.49

Abb. 1: Freges Widmung in Carnaps Exemplar der Begriffsschrift. Abb. 2: Freges Widmung in Husserls Exemplar der Begriffsschrift.
Freges Widmung in Carnaps Exemplar der Begriffsschrift. Freges Widmung in Husserls Exemplar der Begriffsschrift.

Diese kurze Schilderung, bei der Francke auf Namensnennung diskret verzichtet, hat offenbar eine Wiedererkennung ermöglicht. Im Exemplar der Jenaer Universitätsbibliothek kennzeichnete ein Benutzer diese Stelle handschriftlich mit „Seebohm!“. Auf das weitere Schicksal des pensionierten Offiziers kann ich hier nicht näher eingehen. Abschließend sei nur noch erwähnt, daß Seebohm seinem pädagogischen Engagement auch in den folgenden Jahren treu blieb. Das 1924 provisorisch instand gesetzte Haus in Zwätzen stellte er zunächst als Schulungsstätte für angehende anthroposophische Lehrer zur Verfügung, später war in ihm ein Heim zur Pflege geistig behinderter Kinder untergebracht.

Nachbemerkung

Der Nachlaß Carnaps enthält sämtliche Hauptwerke Freges. Darunter befindet sich ein Exemplar der Begriffsschrift, das auf dem Schmutztitel die handschriftliche Widmung „Ehrerbietigst überreicht vom Verfasser“ trägt.50 Erich H. Reck vermutet, daß Frege diese Widmung für Carnap verfaßt hat.51 Dagegen spricht allerdings, daß die Handschrift deutlich von derjenigen des späten Frege abweicht. Eine auffällige Übereinstimmung besteht hingegen mit der Widmung im Exemplar der Begriffsschrift, das Frege im Mai 1891 als „Gegengabe“ für die Zusendung von Schriften an Husserl schickte.52 Diese lautet (in der Reproduktion etwas schwer zu entziffern) „Ehrerbietig überreicht vom Verfasser“.53 Darüber hinaus entsprach es wohl kaum den akademischen Gepflogenheiten im Kaiserreich, daß ein Professor sein Werk für einen Studenten mit „ehrerbietigst“ signierte. Zu beachten ist ferner, daß die Widmung mit Bleistift durchgestrichen ist. Möglicherweise hat Carnap damit kenntlich machen wollen, daß die Widmung nicht für ihn bestimmt war. Insgesamt liegt also die Vermutung nahe, daß das Buch aus zweiter Hand in seinen Besitz gelangte.


1 Carnap, Rudolf: Intellectual Autobiography, in: The Philosophy of Rudolf Carnap, Edited by P. A. Schilpp (The Library of Living Philosophers, 11), LaSalle/London 1963, S. 1-84 (zu Frege S. 4-6). In deutscher Übersetzung: Mein Weg in die Philosophie. Übersetzt und mit einem Nachwort sowie einem Interview hg. v. W. Hochkeppel, Stuttgart 1993 (zu Frege S. 8-10).

2 Abgedruckt in der Einleitung zur englischen Übersetzung von Carnaps Frege-Mitschriften: Frege’s Lectures on Logic. Carnap’s Student Notes, 1910-1914, Translated and edited by E. H. Reck and S. Awodey, Based on the German text, edited, with introductions and annotations, by G. Gabriel, Chicago and LaSalle 2004, S. 18-21.

3 Frege’s Lectures 2004, S. 19.

4 Flitner, Wilhelm: Erinnerungen 1889-1945, Paderborn 1986, S. 126f. Diese Aussage muß schon deshalb Zweifel erregen, da Carnap im „nächsten Semester“ nach Freiburg wechselte. Aus Carnaps Bericht geht außerdem klar hervor, daß er beide Veranstaltungen zur Begriffsschrift mit ein- und demselben Freund besucht hat. In Flitners Studienbuch ist aber nur diese eine Veranstaltung Freges eingetragen.

5 Kreiser, Lothar: Gottlob Frege. Leben – Werk – Zeit, Hamburg 2001, S. 277, Fußnote 4.

6 Herrn Christian Thiel danke ich für eine Kopie dieses Briefes.

7 Korsch, Karl: Gesamtausabe, Bd. 8: Briefe 1908-1939, hg. v. M. Buckmiller u. a., Amsterdam 2001, S. 77, S. 80, Anm. 7; Flitner 1986, S. 108. Karl Korsch war sehr eng mit Kurt Frankenbergers älterem Bruder Julius befreundet, der neben Flitner und Carnap zu den Wortführern der Jenaer Freistudenten zählte.

8 Zur Jenaer Philosophischen Gesellschaft, deren Vorträge von den Freistudenten eifrig besucht wurden, siehe Flitner 1986, S. 168.

9 Jahresbericht der Philosophischen Gesellschaft zu Jena, Jena 1912, S. 21f.

10 Zu Bauchs Frege-Rezeption siehe: Schlotter, Sven: Frege’s Anonymous Opponent in „Die Verneinung“, in: History and Philosophy of Logic, Vol. 27 (2006), Nr. 1, pp. 43-58.

11 Frankenberger referierte in der Jenaer Hochschulzeitung (SS 1912, Nr. 4, S. 10f.) einen Vortrag, den Münch in der Philosophischen Gesellschaft über Hegels „Phänomenologie des Geistes“ hielt.

12 Münch, Fritz: Erlebnis und Geltung. Eine systematische Untersuchung zur Transzendentalphilosophie als Weltanschauung, Berlin 1913, S. 41. Hierzu ausführlicher Schlotter, Sven: Die Totalität der Kultur. Philosophisches Denken und politisches Handeln bei Bruno Bauch, Würzburg 2004, S. 95-97.

13 Jenaer Hochschulzeitung (SS 1912), Nr. 3, S. 9. Den Vortrag „Über Bergson“ hielt Julius Esslen am 22. Mai 1912. Vgl. hierzu Jahresbericht der Philosophischen Gesellschaft zu Jena, Jena 1913, S. 2-4. Kurts Bruder Julius Frankenberger übersetzte für den Diederichs-Verlag Bergsons Abhandlung Materie und Gedächtnis. In seinem ersten Hauptwerk Der logische Aufbau der Welt (Berlin 1928, § 182) stimmt auch Carnap hinsichtlich „der Verlegung der Metaphysik in das Gebiet des Nichtrationalen“, also rein intuitiv Erfassbaren, mit Bergson überein.

14 Nohl, Herman: Die deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze zur Geistesgeschichte von 1770-1830, hg. v. O. F. Bollnow u. F. Rodi, Göttingen 1970.

15 Hierzu ausführlich Gabriel, Gottfried: Introduction: Carnap brought home, edited by S. Awodey and C. Klein, Chicago/LaSalle 2004, S. 3-23.

16 Frege, Gottlob: Vorlesungen über Begriffsschrift. Nach der Mitschrift von Rudolf Carnap. Unter Mitwirkung v. Ch. v. Bülow u. B. Uhlemann mit Einleitung und Anmerkungen hg. v. G. Gabriel, in: History and Philosophy of Logic 17 (1996). Zur historischen und philosophische Einordnung der Mitschriften siehe die instruktive Einleitung des Herausgebers, S. III-XVI. Vgl. hierzu auch Gabriel, Gottfried: Frege and Carnap, in: The Cambridge Companion to Carnap, edited by M. Friedman and R. Creath, Cambridge 2007, S. 65-80.

17 Carnap unterstellt Frege hier im Rückblick sein eigenes (durch Russell beeinflußtes) Verständnis des Logizismus, wonach sich tatsächlich die gesamte Mathematik unter Einschluß der Geometrie logisch begründen läßt. Vgl. hierzu Frege’s Lectures 2004, S. 6f.

18 Carnap hörte im nächsten Semester auch die Fortsetzung „Analytische Mechanik II“.

19 Aus Mangel an Hörern ist die Veranstaltung jedoch nicht immer zustande gekommen. Siehe hierzu die Aufstellungen von Kreiser 2001, S. 280-284 und Kratzsch, Irmgard: Material zu Leben und Wirken Freges aus dem Besitz der Universitätsbibliothek Jena, in: Begriffsschrift. Jenaer Frege-Konferenz 1979, Jena 1979, S. 537-543.

20 Frege’s Lectures 2004, S. 19: „And I never heard that a student ever went to Frege’s office in order to talk to him.“ Dies bestätigt auch Flitner 1986, S. 127: „Mit Frege hat Carnap während seines Studiums kein Wort gesprochen“. Auf Anfrage gab Carnap 1963 außerdem zur Auskunft, „nie mit Frege korrespondiert“ zu haben. Das ist allerdings nicht ganz richtig. In einer Karte vom 30. November 1921 bat Carnap, gerade mit der Fertigstellung seiner Dissertation Der Raum für den Druck beschäftigt, Frege um ein Exemplar des Aufsatzes „Begriff und Gegenstand“ (Frege, Wissenschaftlicher Briefwechsel, hg. v. G. Gabriel u. a., Hamburg 1976, S. 16). Ob Frege darauf reagierte, ist ungewiß.

21 Carnap 1963, S. 5.

22 Frege 1996, S. XI, Fußnote 25.

23 Schlotter, Sven: Der anthroposophische Major im Logikseminar. Richard See­bohm (1866-1934), in: Ketzer, Käuze, Querulanten. Außenseiter im universitären Milieu, hg. v. M. Steinbach u. M. Ploenus, Jena/Quedlinburg 2008, S. 234-248; Ders.: Richard Seebohm und sein Haus in Zwätzen, in: Zwätzener Almanach, hg. v. Th. Pester, Jena/Quedlinburg 2011, S. 128-132.

24 Lietz, Hermann: Lebenserinnerungen, hg. v. A. Andreesen, 4./5. Auflage 1935, S. 164f.

25 Flitner 1986, S. 158.

26 Im Philosophischen Archiv der Universität Konstanz existiert eine Mappe mit Dokumenten, die über Carnaps Beziehung zu Seebohm und den Landerziehungsheimen Auskunft geben. Für den Hinweis auf diese Quellen danke ich Frau Brigitte Parakenings, die auch einige in Kurzschrift verfaßte Texte Carnaps für mich transkribierte.

27 In Carnaps Notizbuch finden sich häufig Eintragungen wie „Tee bei Seebohm“ oder „nachmittags mit Frankenberger zu Seebohm“. Erhalten sind auch zwei Postkarten (eine von Seebohm selbst, eine andere von seiner Ehefrau Adelheid), in denen Treffen verabredet wurden. Aus ihnen geht hervor, daß die Eheleute Seebohm auch mit Carnaps Mutter bekannt waren.

28 Wenige Wochen später, zu Ostern 1913, besuchte Carnap mit dem Seminar des Philosophen Nohl das Internat in Haubinda (Flitner 1986, S. 170).

29 Vgl. Anm. 3.

30 Frege 1996, S. XI f.

31 Carnap (Frege’s Lectures 2004, S. 20) schreibt hierzu: „The fact that the audience was so small was partly also due to the time: the lectures were at seven o’clock in the morning.“ Diese Aussage wird durch den Eintrag im Vorlesungsverzeichnis bestätigt, wo die einstündige Veranstaltung „Begriffsschrift II“ für 7-8 Uhr angekündigt ist. Während Frege „Begriffsschrift“ sonst meist „publice“ las, ist diese Veranstaltung als „privatim“ ausgewiesen, fand also im Hause Freges statt. Das war besonders für Seebohm sehr bequem, der bis 1913 in der Kochstraße – einer Nebenstraße des Forstweges – also in unmittelbarer Nachbarschaft zu Frege wohnte.

32 Vgl. dazu den Schluß von „Begriffsschrift II“, wo Frege (1996, S. 41) eindringlich auf den Unterschied zwischen Zeichen und Bezeichnetem hinweist.

33 Frege’s Lectures 2004, S. 20.

34 Laut dem von Heinrich Scholz verfertigten Nachlaßverzeichnis trägt das betreffende Textstück (N 46), das im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen ist, die Datumsangabe „5. VII. 1913“. Veraart, Albert: Geschichte des wissenschaftlichen Nachlasses Gottlob Freges und seiner Edition, in: Schirn, Matthias (Hg.): Studien zu Frege I: Logik und Philosophie der Mathematik, Stuttgart/Bad Cannstatt 1976, S. 95. Auch Carnap (1963, S. 6) weist darauf hin, daß einige Beweise, die Frege während der Vorlesung wohl frei entwickelte, in keiner seiner Veröffentlichungen enthalten sind.

35 Dathe, Uwe: „Zu sagen habe ich ja noch manches“. Gottlob Freges letzte Schriften im Spiegel unbekannter Briefe, in: Genese und Geltung, hg. v. Ch. Schildknecht u.a., Paderborn 2008, S. 33-43, hier S. 34f.

36 Frege 1976, S. 129.

37 Frege, Gottlob: Logik in der Mathematik [Frühling 1914], in: Nachgelassene Schriften, hg. v. H. Hermes u. a., 2. Aufl., Hamburg 1983, S. 219-270.

38 Das Vorlesungsverzeichnis der Universität Jena verzeichnet – offenbar irrtümlicherweise – für das Sommersemester 1914 keine Lehrveranstaltungen Freges.

39 Gottlob Frege, Logik in der Mathematik. Nach der Mitschrift von Rudolf Carnap. Unter Mitwirkung von Ch. von Bülow und B. Parakenings herausgegeben von G. Gabriel; in: In Sprachspiele verstrickt? oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, hg. v. St. Tolksdorf u. H. Tetens, Berlin/New York 2010, S. 467-491, hier S. 477, 479.

40 Dazu könnte neben Carnap auch wieder Seebohm gehört haben. Frankenberger hatte inzwischen die Prüfung für das „Lehramt an höheren Schulen“ abgelegt und war seit dem Sommersemester 1914 nicht mehr als Student in Jena immatrikuliert (Universitätsarchiv Jena, BA 886, Nr. 131). Leider sind seine Prüfungsakten samt der Staatsexamensarbeit 1974 einer „Kassation“ zum Opfer gefallen.

41 Carnaps Schwester Agnes schrieb noch 1946 nieder, daß Carnap während seiner Soldatenzeit im Ersten Weltkrieg am Anfang „monatelang mit Dr. Lietz im Skibataillon“ zusammen war. In den Kriegsjahren korrespondierte Carnaps erste Frau – Elisabeth Schöndube – mit Jutta, der Gattin von Hermann Lietz.

42 Korsch 2001, S. 80, Anm. 7, S. 239.

43 Hierzu Peckhaus, Volker: Hilbertprogramm und Kritische Philosophie (Studien zur Wissenschafts-, Sozial- und Bildungsgeschichte der Mathematik, 7), Göttingen 1990, S. 196-224.

44 Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. D. Hilbert 368. Die kursiv gesetzte Textpassage ist von Hilbert – wohl für seine Materialsammlung – am Rande angestrichen worden.

45 Zu den Einzelheiten siehe Peckhaus, Volker: Kantianer oder Neukantianer? Über die Schwierigkeiten, Frege der Philosophie seiner Zeit zuzuordnen, in: Gottlob Frege. Werk und Wirkung, hg. v. G. Gabriel und U. Dathe, Paderborn 2000, S. 201-205.

46 Scheller, Rainer: Das Testament des Dr. Hermann Lietz und die Schaffung der Stiftung „Deutsche Land-Erziehungsheime (Dr. Lietz)“, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins, Bd. 21 (2006), S. 153-169.

47 Biographische Angaben zu Francke in: Internationales Germanistenlexikon 1800-1950, hg. v. Ch. König, Berlin 2003, Bd. 1, S 515-517.

48 Weiterführende biographische Angaben zu Wilhelm Peter Hansen (1870-1946) finden sich in Dvorak, Helge: Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft, hg. v. Ch. Hünemörder, Bd. 1/2, Heidelberg 1999, S.235f. Der Jenaer Historiker Alexander Cartellieri erwähnt am 31. Dezember 1922 in seinem Tagebuch mit Geringschätzung, daß sich Hansen als „Republikaner“ bekenne (Der Nachlaß von A. Cartellieri wird in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Abteilung Handschriften und Sondersammlungen aufbewahrt).

49 Francke, Kuno: Deutsche Arbeit in Amerika. Erinnerungen, Leipzig 1930, S. 84f.

50 Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Archives of Scientific Philosophy, University of Pittsburgh (Signatur: RC 111-C-58).

51 Erich H. Reck: Form Frege and Russell to Carnap: Logic und Logicism in the 1920s, in: Carnap Brought Home. The View from Jena, ed. by S. Awodey and C. Klein, Chicago and La Salle 2004, p. 157, Footnote 4.

52 Gottlob Frege: Wissenschaftlicher Briefwechsel, hg. v. G. Gabriel u. a., Hamburg 1976, S. 98.

53 Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Husserl-Archivs, Leuven (Signatur: BQ 141).