Martin Seel: Theorien. Frankfurt am Main (S. Fischer): 2009. 255 S. Euro (D) 19,95. ISBN: 978-3100710109
Daniel Krause / Krakau
Martin Seel ist Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt, gleichsam im ‚Hause Adorno’. Dieser Berufung wird Seel in besonderer Weise gerecht: Er wechselt, wie der Patron, mit Lust und Überzeugung die Seiten, von der wissenschaftlich verstandenen, methodisch reglementierten Philosophie zum Essai, zur Zeitungskolumne – und wieder zurück. Längst liegt ein Band mit Dutzenden der ZEIT entnommener Seelscher Kolumnen vor: Vom Handwerk der Philosophie (München 2002). Nun folgt ein Band mit Aphorismen, mehr als 500 an der Zahl: Theorien.
Den Buchumschlag ziert eine in unüberschaubaren Grau- und Weißschattierungen schillernde Kreidezeichnung Cy Twomblys (1970), der, scheint es, Mark Rothko als liebsten Maler der denkenden Zunft abzulösen beginnt. (In München wurde ihm ein ‚eigenes’ Museum, ‚Sammlung Brandhorst’, errichtet – wie der Zufall es will, nahe den Universitätsgebäuden.) Besagte Zeichnung nennt sich „Untitled“. Dies wirft die Frage auf, ob Seels „Theorien“ nicht ebenfalls als ein Leerzeichen fungiert, Verweigerung jedes gehaltvollen, aussagekräftigen Titels, welch letzterer einem fünfhundertteiligen Kaleidoskop von Prosastücken – mit Leitmotiven, aber ohne Theorie –, in der Tat unangemessen sein müsste.
Nun ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass eine im deutschen Philosophiebetrieb vernachlässigte Äußerungsform zur Geltung gebracht wird. Freilich: Da Seel seit Jahr und Tag ‚literarisch’ tätig ist, zugleich als akademischer Philosoph wohlakkreditiert, gehört kein ‚existenzieller’ Wagemut zu einem solchen Unterfangen. Das bloße Faktum der Publikation, wiewohl bemerkenswert, kann Theorien nicht legitimieren. Es kommt aufs Wie des Gelingens – oder des Scheiterns – an. Das Scheitern allerdings kann höchst blamabel sein – in diesem Sinne ist Wagemut bei Seel durchaus vorauszusetzen –, denn allzu oft degenerieren Aphorismen zu kalenderspruchmäßiger Einfalt, und jeder Schnitzer der sprachlichen Form tritt gnadenlos deutlich hervor. Der Aphoristiker exponiert sich in mehrerlei Weise: intellektuell, dem sprachlichen Vermögen nach und als Persönlichkeit, besonders wenn er die erste Person Singular einsetzt. (Seel tut dies sehr oft.)
Was Theorien betrifft, ist die Bilanz eine gemischte. Da gibt es vieles gedanklich und sprachlich Geglückte: „Wie ein kleiner, funkelnder Diamant ist das kleine Wörtchen ‚wahr’, das auch in manch anderen Sprachen zu den four letter words zählt, ins Geschmeide der Sprache eingearbeitet“ (Aphorismus 283, S. 142).
„Also bewegt er [Seels Vater] sich schleppend vorwärts […]. Beim Rückweg nimmt er den letzten Stopp an der Wohnung einer Erika Sowieso, die er nicht kennt, deren Vorname ihn aber an eine Apothekerstochter aus Gießen erinnert, das erste Mädchen, das er vor siebzig Jahren küsste. ‚Ein Gruß an Erika’, lautet der einsame Toast, der ihm die Kraft für die restlichen Meter gibt“ (410, S. 207).
Fachphilosophische Terminologie wird beinahe niemals bemüht, wenn doch, in charakteristisch apartem, fachfremdem Kontext: Die „Zuschreibung phänomenaler Eigenschaften“ steht zwischen „Seide“, „Spargel“ und „Tropfen Blut“ (132, S. 61).
Anderes ist weniger überzeugend geraten. Seel bietet diese (geistvolle) Maxime: „Sich nicht vom Gedanken zur Formulierung, sondern von der Formulierung zum Gedanken verleiten lassen – das ist der Trick“ (12, S. 8). Und die Gefahr, denn manche Seelsche Formulierung wirkt rabulistisch, verschmockt, redundant dialektisch, darin fast marottenhaft – als sei sie mehr Wort als Gedanke, schlimmstenfalls Wort ohne Gedanken.
Beim Stichwort ‚Dialektik’, fällt die gedankliche, zuweilen sprachliche Nähe zu Theodor W. Adorno ins Auge, besonders dessen Minima Moralia – ohne freilich, dass Theorien ins Epigonale geriete. Manches ähnelt einer Negativen Dialektik in nuce: „Nur die wenigsten Anschauungen sind Theorien. Zu Theorien werden sie […] wenn aus Ihnen Sätze werden, die sich sehen lassen können, weil in ihnen etwas Unbestimmtes schwingt“ (3, S. 5). Oder, Adorno noch näher, bis hin zur Ununterscheidbarkeit: „Das höchste Erkennen liegt im Erkennen der Einseitigkeit des höchsten Erkennens“ (22, S. 10). Auch rufen Seels sentimentalische Reminiszenzen an eine Kindheit auf dem Lande, unabsichtlich oder nicht, Adornos „Amorbach“ auf – und zählen zu den schönsten, szenisch suggestivsten Passagen des Bandes.
Der schönste Vorzug der Gattung ‚Aphorismus’ – ob bei Seel, Adorno, Karl Kraus oder französischen Moralisten – ist platterdings in der Kürze zu sehen, in Dichte und Prägnanz. Vor allem aber: Wer kurze Bücher schreibt, hat Muße, sich Fragen des sprachlichen Ausdrucks zu widmen. Die besten Stilisten sind Wenig-, nicht Vielschreiber: Karl Kraus, Ernst Jünger, auch Brecht. (Musils unvollendetes Lebenswerk, Der Mann ohne Eigenschaften, kann als einziger Mehrtausendseiter deutscher Sprache angesehen werden, der gleichsam das Siegel sprachlicher Vollendung trägt.) Dabei bezieht sich ‚Stil’ nicht allein auf den einzelnen Satz. Rhythmus und Tempo- wie Pausendramaturgie, Wiederholung und Variation, sind von hohem Belang – zumal, wenn die Zahl der anzuordnenden Elemente wie bei Seel das halbe Tausend übersteigt: Das mühsame Geschäft des Stilisten ist weitaus diffiziler, als es im Ergebnis scheinen darf. Gleichwohl, es kann die Mühe lohnen: „Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz“ (Gottfried Benn).
Ob Theorien vor diesem Anspruch, stilistisch wie gedanklich, besteht? Martin Seel braucht es ‚recht eigentlich’ nicht zu bekümmern, denn
„wie ein Hund, der nach einem ausgiebigen Bad sein dickes Fell schüttelt, muss der Schreibende alles abschütteln, was bei seinen Lektüren auf ihn eingeprasselt ist. Die spitzen Schreie der Umstehenden nimmt er mit dem Gleichmut eines seiner Natur gehorchenden Vierbeiners zur Kenntnis“(19, S. 10).