Hannah Arendt und die Friedliche Revolution

Welche Rollen spielten Macht und Gewalt im Herbst 1989?

von Teresa Tammer

1. Einleitung

Vor wenigen Wochen wurde die Deutsche Einheit 20 Jahre alt. Im Jahr 1990 gingen die Veränderungen in der noch bestehenden Deutschen Demokratischen Republik mit einer so ungeheuren Geschwindigkeit voran bis schließlich am 3. Oktober 1990 die Einheit von Ost und West besiegelt wurde. Nicht einmal zwölf Monate zuvor fiel die Mauer und mit ihr die Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) sowie der gesamte DDR-Staat. Vor allem die Bevölkerung der DDR mit ihrem Willen zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen bestimmte diese rasant ablaufende Entwicklung, so dass die so genannte „Wende“ eher als eine Revolution bezeichnet werden muss. Die ostdeutsche Revolution vom Herbst 1989 kann jedoch nicht unabhängig von anderen Ereignissen betrachtet werden, sondern gehört in eine längere Geschichte von Aufständen, die den Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt in Mittel- und Osteuropa bewirkten und damit dem Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges ein Ende setzten.

Anders als am 17. Juni 1953 in der DDR, in Ungarn 1965, in der Tschechoslowakei 1968 oder auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni 1989 blieben die Massendemonstrationen in Leipzig und Berlin weitgehend friedlich. Es fuhren keine sowjetischen Panzer auf, die in die Menge schossen und ein Blutbad an der Zivilbevölkerung anrichteten, obwohl dies sicherlich eine der Handlungsoptionen war.

Hannah Arendt (1904-1975), die sich mit der Gewaltfrage in Bezug auf Revolutionen und vor allem mit den Studentenbewegungen der 60er Jahre in den USA und der Bundesrepublik befasste, hat diese Friedliche Revolution leider nicht mehr erlebt. In ihrem Buch Macht und Gewalt von 1970 legt sie eine Theorie dieser beiden Begriffe vor, erarbeitet eine Differenzierung von ähnlich verwendeten Begriffen und zeigt die Unterschiede zwischen ihrer Theorie und denen anderer politischer Denker auf. Das Anliegen Arendts ist es, gegen die in früherer Literatur vorherrschende Meinung, Macht und Gewalt seien Aspekte eines Phänomens, wobei Gewalt nur als die „eklatanteste Manifestation von Macht“[1] betrachtet wird, zu argumentieren. Sie bezieht sich dabei auf Max Weber, Bertrand de Jouvenel, Jean Paul Satre, Rober Strausz-Hupé, Alexander Passerin d’Entrève und andere, die in ihren Arbeiten, die Staatsmacht mit dem Gewaltmonopol gleichsetzen und Gewalt als ein Instrument der Macht oder Macht als mildere Form der Gewalt definieren. Für Arendt sind Macht und Gewalt Gegensätze. Gewalt kann Macht nur vernichten, jedoch niemals erzeugen und wirkliche Macht beruht auf ihrer Legitimation nicht auf möglicher Gewaltanwendung. Obwohl, nach Arendt, Gewalt und Macht oft gleichzeitig und nicht klar voneinander trennbar auftreten, müssen sie begrifflich differenziert werden.

Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Begriffsbestimmungen Hannah Arendts und versucht von diesen ausgehend, die Gewaltlosigkeit während der Revolution von 1989 zu erklären. Macht ist dabei der zentrale Begriff. Wo war sie bzw. wo war sie nicht mehr vorhanden?

Im ersten Teil der Arbeit soll ein Überblick über die Vorbedingungen gegeben werden, die zum Verfall des SED-Regimes und den Massenprotesten führten. Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit der Frage der Gewalt- bzw. Gewaltlosigkeit der Ereignisse im Oktober und November 1989. Danach werden Hannah Arendts Begriffsbestimmungen von Macht und Gewalt genauer betrachtet. Am Ende soll gezeigt werden, dass die ostdeutsche Revolution keiner gewalttätigen Auseinandersetzungen bedurfte, weil Macht und Gewalt eben nicht notwendigerweise gemeinsam auftreten müssen.

2. Die Friedliche Revolution in der DDR

2.1 Die Macht verliert ihre Legitimation

Ohne die massenhaften Proteste der ostdeutschen Bevölkerung wären der Mauerfall und die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen. Die Staatskrise in der DDR war im Sommer 1989 unübersehbar geworden und die Menschen waren nicht länger bereit, diese Diktatur länger hinzunehmen. Der Mauerfall am 9. November 1989 war Folge und endgültiger Höhepunkt der Massenproteste, die in den Wochen zuvor bereits in Berlin und Leipzig, aber auch in anderen Städten der DDR stattgefunden hatten. Der 9. November markierte das Ende der DDR-Regierung und des SED-Regimes, welches bis dahin noch hoffte, durch Zugeständnisse die Macht sichern und die Kontrolle über das Land bewahren zu können. Doch schließlich siegte die Revolution.[2] Klaus-Dietmar Henke nennt zehn Bedingungen, die dazu beitrugen, dass es zur Massenmobilisierung in der DDR kam. Dazu gehörte die Politik der Transparenz unter Michail Gorbatschow in der Sowjetunion ab Mitte der 80er Jahre, die auch den sowjetischen Bruderländern neue Spielräume eröffnete. Außerdem wurde 1975 die KSZE[3]-Schlussakte von der DDR mit unterzeichnet, die sich damit auf internationale Prinzipien der Wahrung grundlegender Menschenrechte festlegte. Das SED-Regime kam somit immer öfter in Erklärungsnot. Das Machtmonopol der Einheitspartei in den sozialistischen Bruderländern Polen und Ungarn begann bereits ab 1987/88 zu wanken und zu verfallen. Damit wurde die Reformfeindlichkeit in der DDR deutlich, die im Gegensatz zu den anderen Ländern nicht auf die Forderungen nach Wandel zu reagieren in der Lage war. Die Besonderheit in der DDR war die Nähe zum Westen, zur Bundesrepublik. Die Menschen in der DDR wussten um die Diskrepanz der Lebensverhältnisse in Ost und West. Darüber hinaus war die SED-Führung unfähig, Produktion und Produktivität in der DDR zu einem solchen Maß aufrecht zu erhalten und zu steigern, dass es den Bürgern zumindest akzeptabel erschien. 1989 hatte die wirtschaftliche Situation der DDR ihren Tiefpunkt erreicht. Die Bevölkerung hatte das Vertrauen in die eigene Regierung verloren. Es herrschten Frustration und Unzufriedenheit im Land. Nicht nur innerhalb der Bevölkerung, sondern auch aus den Reihen des Regierungsapparates kamen Stimmen, die den offiziellen Kurs in Frage stellten und an der Glaubwürdigkeit der Führungsriege zweifelten. Eine wichtige Rolle auf dem Weg zur und während der Friedlichen Revolution spielten die Kirchen, vor allem die Evangelische Kirche in der DDR. Sie war als Institution vom direkten Zugriff des Staates geschützt und bot seit den 70er Jahren Unterschlupf für vielfältige Gruppen, die sich mit politischen, gesellschaftlichen und ökologischen Themen beschäftigten. Die positiven Visionen der vielen unterschiedlichen Gruppen von einer besseren DDR, die sich meist um den Begriff der Basisdemokratie drehten und den zwischenmenschlichen Dialog zur Voraussetzung eines Neuanfangs erhoben, trugen maßgeblich zum Umbruch mit friedlichen Mitteln bei.[4] Das deutlichste Merkmal des Machtverfalls und des Legitimationsverlustes der DDR-Regierung waren jedoch die massenhaften Ausreisen und Fluchten in den Westen.[5] Seit 1961 hatte das Regime versucht die Abwanderung mit Zwangsmaßnahmen zu unterdrücken. Doch ab Sommer 1989 war der ostdeutsche Exodus nicht mehr unter Kontrolle zu bekommen. Tausende strömten über Ungarn, wo die Grenze nach Österreich bereits nur noch aus einem Stacheldraht bestand, über die westdeutschen Botschaften in Prag, Warschau, Ostberlin und Budapest in die Freiheit. Am 11. September ´89 öffnete die ungarische Regierung die Grenze vollständig. Binnen weniger Wochen verließen 50000 Ausreisewillige auf diesem Weg die DDR. Die anhaltenden Massenfluchten bestärkten die zurück gebliebenen DDR-Bürger auf die Straße zu gehen und ihren Unmut nun noch lauter zu artikulieren.[6] Angesichts dieser Entwicklungen mussten die Reformgegner in der DDR, aber auch in der ČSSR, in Bulgarien und Rumänien einsehen, dass eine Machtteilung nicht aufzuhalten war.

2.2. Revolution und Gewaltlosigkeit

Die „Wende“ von 1989 ist in den meisten europäischen Ländern eine der wichtigsten Zäsuren der Zeitgeschichte und zudem meist positiv besetzt. In der DDR und der ČSSR war der Bruch einschneidender als beispielsweise in Polen und Ungarn, wo bereits wirtschaftliche und politische Reformen eingeleitet wurden und der Übergang graduell erfolgte. Der Begriff „Revolution“ ist jedoch kein Quellenbegriff, d.h. im Herbst ´89 wurde dieser noch nicht verwendet. Erst nach 1989 sollte durch ihn der scharfe Bruch mit der Vergangenheit zum Ausdruck gebracht werden.[7]

Die Frage, inwiefern die Ereignisse ´89 in der DDR gewaltfrei waren, lässt sich nur in Abgrenzung zu den Niederschlagungen ähnlicher Bewegungen, wie beispielsweise der „chinesischen Lösung“[8] oder der Erschießung von friedlichen Demonstranten durch das Ceausescu-Regime in Rumänien, feststellen. Die SED-Diktatur ließ nach wie vor politische Gegner festnehmen und teilweise misshandeln, aber die Oppositionellen wurden nicht massenhaft getötet oder in Lager verschleppt. Die Machthaber verzichteten auf die gewalttätige Lösung, obwohl die Mittel dazu vorhanden waren. Phillip Ther spricht in diesem Fall von „Selbstbeschränkung“, da das Regime vor der Entscheidung stand, seine Macht zu teilen oder die Aufstände blutig niederzuschlagen.[9] Gewaltlosigkeit hieß demnach, dass auf bestimmte Mittel verzichtet wurde. Die Gründe dafür sind, laut Ther, zum einen darin zu sehen, dass mit der Entstalinisierung die Massenrepressionen nicht mehr zum Repertoire politischer Handlungsoptionen zählten. Zweitens gab es seit den 80er Jahren eine starke kritische Öffentlichkeit, die sich auch auf internationaler Ebene in den Medien präsent war. „Der Einsatz von militärischer Gewalt war daher wesentlich riskanter, hätte westliche Sanktionen und die Gefahr von Bürgerkriegen nach sich gezogen.“[10] Mit dem Zugeständnis, Teile der Macht an das Volk zu übertragen, war anfangs noch nicht der Gedanke an eine vollständige Entmachtung verbunden. Lediglich rationale Überlegungen und strategischen Entscheidungen führten dazu, dass Volkspolizei und NVA am 9. Oktober 1989 in Leipzig nicht den Befehl erhielten, die Demonstration aufzulösen. An diesem Tag entschied sich der weitere Verlauf der Bewegung und er gilt bis heute als Wendepunkt des Geschehens. Denn mit dem Verzicht auf militärische Gewalt gegenüber siebzigtausend Demonstranten kapitulierte die Staatsmacht vor dem Volk.[11]

Für einige Politologen und Soziologen sind Revolutionen stets mit Gewalt verbunden, was für 1989 jedoch nicht zutrifft. Die Frage ist demnach, ob ´89 überhaupt als Friedliche Revolution bezeichnet werden kann oder sich die Begriffe „friedlich“ und „Revolution“ gegenseitig ausschließen. Phillip Ther spricht sich für den Begriff der Revolution aus, da es mit dem teilweisen oder vollständigen Herrschaftswandel zu tief greifenden Veränderungen im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System in den einzelnen Staaten kam. Außerdem wurden spätestens ab 1991 in allen Ländern des vorher sowjetischen Machtbereichs demokratische und rechtsstaatliche Institutionen eingerichtet.[12] Um auf das Problem der Gewalt in Revolutionen näher eingehen zu können, sollen im Folgenden die Begriffe von Hannah Arendt aufgegriffen werden. Sie geht davon aus, dass Gewalt kein wesentliches Merkmal von Revolutionen ist.

3. Hannah Arendt und die Friedliche Revolution

3.1 Macht und Gewalt

Die zentrale These Arendts ist der Gegensatz von Macht und Gewalt.

„Politisch gesprochen genügt es nicht zu sagen, daß Macht und Gewalt nicht dasselbe sind. Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist; überlässt man sie den ihr selbst innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel, ihr Ziel und Ende, das Verschwinden von Macht.“[13]

Macht gehört, nach Arendt, „in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht.“[14] Was den Gesetzten, Institutionen und Herrschern eines Landes Macht verleiht, ist die Zustimmung des Volkes. „Macht bedarf keiner Rechtfertigung, da sie allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist. Hingegen bedarf sie der Legitimation.“[15] Eine solche Legitimation entsteht, wenn sich Menschen zu einer Gruppe zusammenschließen und gemeinsam handlungsfähig werden wollen. Macht hängt somit von der Anzahl ihrer Befürworter ab. Je mehr Mitglieder einer Gruppe die Herrschaft über diese unterstützen, desto fester ist die Basis der Macht. Wird diese Macht nicht mehr durch das Volk gestützt, bricht sie zusammen. [16] Macht muss demnach auch nicht gerechtfertigt werden, da ihre Existenz bereits die Legitimation darstellt. Macht ist nicht auf einen Zweck gerichtet, sondern sie ist Selbstzweck.

„Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtanspruch, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt. Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit, während die Rechtfertigung eines Mittels durch einen Zweck erfolgt, der in der Zukunft liegt.“[17]

Gewalt dagegen, so Hannah Arendt, „ist ihrer Natur nach instrumental; wie alle Mittel und Werkzeuge bedarf sie immer eines Zwecks, der sie dirigiert und ihren Gebrauch rechtfertigt.“[18] Handlungen, die durch einen Zweck bestimmt sind, unterliegen einer klaren Struktur mit Anfang und Ende. Auch wenn Gewalt, beispielsweise im Falle der Selbstverteidigung, gerechtfertigt werden kann, so ist sie doch niemals legitim. Anders als bei Machtbildung, ist die Intensität der Gewalt nicht von der Anzahl der Beteiligten abhängig, da Waffen eine Wirkkraft haben, die unabhängig vom von menschlicher Stärke ist.

„Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen Macht und Gewalt gehört, daß Macht immer von Zahlen abhängt, während die Gewalt bis zu einem gewissen Grade von Zahlen unabhängig ist, weil sie sich auf Werkzeuge verläßt.“

Gewalt ist für Hannah Arendt technisches Handeln. So werden auch zwischenmenschliche Beziehungen durch Werkzeuge (Waffen) hergestellt. Solche „Zwecktätigkeiten…unterliegen einer technischen Regelhaftigkeit, haben einen klar definierten Anfang und ein ebenso klar definiertes Ende.“[19] Politisches Handeln unterbricht dagegen regelhafte Prozesse.[20] Es könnte jedoch Ziel sein, Macht durch Gewalt zu erhalten. In diesem Fall würde es möglich sein, wie beispielsweise die aktuelle Situation im Iran es zeigt, die Demonstranten und das Aufbegehren zu unterdrücken.

„Man kann Macht durch Gewalt ersetzen, und dies kann zum Siege führen, aber der Preis solcher Siege ist sehr hoch; denn hier zahlen nicht nur die Besiegten, der Sieger zahlt mit dem Verlust der eigenen Macht.“[21]

Eine Strategie der gewalttätigen Unterdrückung von machtgefährdenden Entwicklungen kann demnach nicht verhindern, dass das Regime an Zuspruch verliert. Denn was Gewalt nicht erzeugen kann, ist Legitimation und Unterstützung für die durch sie gestützte Macht.

3.2 Die Revolution ohne Gewalt

Aus den historischen Fakten und den theoretischen Begriffe von Hannah Arendt sollen nun die wichtigsten Argumente herausgegriffen und so miteinander verbunden werden, dass ein Zusammenhang zwischen der Revolution von 1989 und ihrer Gewaltlosigkeit entsteht. Die Geschehnisse hätten durchaus anders verlaufen können. Es soll nicht behauptet werden, dass die Revolution friedlich sein musste. Vielmehr geht es darum, die Möglichkeit des friedlichen Machtwechsels zu erläutern.

Die „verbreitete Vorstellung von der Revolution als Folge des bewaffneten Aufstands [ist] ein Märchen. Revolutionen gerade werden nicht gemacht und am wenigsten durch eine lernbare Prozedur, in der man vom Dissent zur Verschwörung, von passivem Widerstand zum bewaffneten Aufstand fortschreitet.“ [22] Gewalt ist, nach Arendt, also kein wesentlicher Bestandteil einer Revolution. Auch die Akteure der Protestbewegung in der DDR propagierten von Anfang an Gewaltverzicht. Stattdessen riefen sie die Regierung auf, in einen Dialog mit dem Volk zu treten.[23] Denn im Grunde ging es und geht es auch beim Revolutionsbegriff von Arendt um Machtverhältnisse und nicht um Waffenstärke. Auch das Regime demonstrierte ab dem 9. Oktober 1989 keine Waffenstärke mehr, obwohl gilt: „ Wo Gewalt der Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen“ [24]. Die Staatsgewalt hatte sich entschieden, den Massenprotest in Leipzig nicht aufzulösen und so, oder gerade deswegen, konnte die Revolution ihren Lauf nehmen.

Die SED und die alten Herren des Regimes hatten in der Endphase der DDR fast vollständig ihre Legitimation als Herrschaftsriege eingebüßt. Die wirtschaftlich äußerst prekäre Situation war nur ein Faktor, der dazu führte, dass die Menschen der Regierung kein Vertrauen mehr entgegen brachten. Wie bereits in 2.1 ausgeführt, hatten die DDR-Bürger durch Vergleiche mit anderen Ländern ein gutes Bild vom inneren Zerfall des Landes und der Unfähigkeit der Politik, darauf zu reagieren. Nicht zuletzt die Massenausreisen und Fluchten über Österreich, Ungarn und die Botschaften der Bundesrepublik zeigten, dass der DDR-Regierung stetig der Rückhalt aus der Bevölkerung entzogen wurde. Arendt formuliert die Bedeutung der Zahl derer, welche die Macht unterstützen bzw. ablehnen, wie folgt:

„Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.“[25]

Die Demonstranten auf dem Leipziger Ring oder später in Ostberlin wussten jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht, wie die Nacht für sie enden würde. Trotzdem setzten sie das klare Zeichen, dass eine Führung, die ihre öffentlichen Räume nicht unter Kontrolle hat, ihre Legitimität teilweise oder vollständig verloren hat.[26]

Bereits vor dem Herbst 1989 formierte sich Widerstand auf den Straßen. Die Menschen, die sich durch kommunikative Prozesse zusammenfanden und sich für ein gemeinsames Handeln entschieden, fingen an Macht zu konstituieren, die der Staatsgewalt zur Konkurrenz wurde. Jürgen Habermas leitet aus den Texten Arendts drei konkrete Situationen ab, in denen sich Macht manifestiert, die auf gewisse Weise die Lage in der DDR und die Konstituierung der Widerstandsbewegungen spiegeln: „a) in politischen Ordnungen, die die politische Freiheit schützen; b) im Widerstand gegen Kräfte, die die politische Freiheit von außen oder innen bedrohen; und c) in jenen revolutionären Akten, die neue Institutionen der Freiheit begründen“[27] In dem Maße wie das SED-Regime seine Legitimation stetig einbüßte, gewann die Opposition an Zuspruch. Zwar waren die Bürgerinitiativen gespalten, doch der Wunsch nach Veränderungen und der Wille auf die Straße zu gehen, unabhängig von den konkreten Motiven, legitimierte jede einzelne Gruppe als Träger von Macht und schließlich die gesamte Protestbewegung bei der Entmachtung des alten Regimes. „Max Weber hat Macht als die Möglichkeit definiert, den jeweils eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen. Hannah Arendt hingegen versteht Macht als die Fähigkeit, sich in zwangloser Kommunikation auf ein gemeinschaftliches Handeln zu einigen.“[28] Die große Leistung der Friedlichen Revolution, die Aushebelung der alten Verhältnisse, muss somit eher in der gemeinsamen Willensäußerung tausender Demonstranten und anderer Aktivisten gesehen werden, als in der bloßen Tatsache der Überwindung des DDR-Regimes. In diesem Prozess des Zusammenschlusses fehlte Gewalt völlig.

Die Macht, die sich auf Legitimation in der Bevölkerung stützte, konstituierte sich also gewaltlos. Gewalt ging von der Ohnmacht der Mächtigen aus, konnte jedoch nicht mit aller Konsequenz durchgesetzt werden, da die Macht spürte, wie sie sich selbst damit gefährdet hätte. „Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen.“[29] Hier wird das von Phillip Ther verwendete Wort der „Selbstbeschränkung“ wichtig. Die SED-Führung zeigte mit der Entscheidung, keine militärische Gewalt einzusetzen, dass die absehbaren Folgen eines solchen Eingreifens dem Machtapparat noch verheerender erschienen, als das Dulden des Widerstandes der Bevölkerung. Es war klar, „daß Gewalt, eben weil sie in der Tat Macht vernichten kann, stets die eigene Macht mitbedroht.“[30] Bei Habermas wird dies wie folgt ausgedrückt: „Keine politische Führung kann ungestraft Macht durch Gewalt ersetzen; und Macht kann sie einzig aus einer nicht deformierten Öffentlichkeit gewinnen.“ [31]

4. Zusammenfassung und Resümee

Die Ereignisse des Herbstes 1989 verdienen die Bezeichnung der Friedlichen Revolution, denn ohne Gewalt, sondern durch den aktiven Entzug der Legitimation durch die Bevölkerung, wurde das bestehende Herrschaftssystem gestürzt. Das Volk ging auf die Straße, um seinem Unmut und seiner Unzufriedenheit, aber auch seinem politischen Willen Ausdruck zu verleihen. Das zahlenmäßige Ausmaß der Demonstranten und Mitläufer stellte die Legitimation der herrschenden Macht offen in Frage. Unterstütz durch die Bewegungen in den sozialistischen Nachbarstaaten und die Politik Gorbatschows ging das SED-Regime seiner Herrschaftsbasis verlustig. Dass die Revolution überwiegend gewaltfrei von statten ging kann durch die These Hannah Arendts erklärt werden, dass Gewalt keine Macht erzeugen, nur zerstören kann. Ohne zu behaupten, dass die Akteure, Staatsmacht sowie Demonstranten, sich dieser Zusammenhänge bewusst waren, muss der Verlauf einer gewaltfreien Revolution, sowie ihn Hanna Arendt theoretisch möglich sieht, anerkannt werden. Auf die Frage, warum die Revolution friedlich verlief, soll hier statt der historischen Fakten folgende Antwort gegeben werden: Die Revolution war eine friedliche, nicht weil dies notwendig, sondern weil dies möglich war. Da sich Macht nicht auf Gewalt, sondern auf Legitimation stützt, veränderten sich die Machtverhältnisse, aufgrund dessen, dass die Menschen der einen Herrschaft ihre Zustimmung absprachen und einer anderen übertrugen.


[1] Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, Gisela Uellenberg (Übers.), München/Zürich 1970, S. 36.

[2] Vgl.: Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): 1989, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 11ff.

[3] Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

[4] Vgl.: Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): 1989, S. 15ff.

[5] Bis zum Mauerbau verließen 3 Mio. DDR. Zwischen 1961 und 1988 waren es 600.000 Flüchtlinge. Außerdem wurden in dieser Zeit ca. 33.000 politische Häftlinge von der BRD freigekauft.

[6] Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): 1989, S. 26f.

[7] Vgl.: Ther, Phillip: 1989 – eine verhandelte Revolution, in: Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik, 3/2010, S. 11.

[8] Hier ist das Massaker an Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 in Peking gemeint.

[9] Vgl.: Ther, Phillip: 1989 – eine verhandelte Revolution, in: Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik, 3/2010, S. 15.

[10] Ebd., S. 16.

[11] Vgl.: Grünbaum, Robert: Deutsche Einheit. Ein Überblick 1945 bis heute, Berlin 2010, S. 65.

[12] Vgl.: Ther, Phillip: 1989 – eine verhandelte Revolution,S. 11.

[13] Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, Gisela Uellenberg (Übers.), München/Zürich 1970, S. 57.

[14] Arendt, Hannah: Denken ohne Geländer. Texte und Briefe, Heidi Bohnet/ Klaus Stadler (Hg.), Band 601 in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, S. 89.

[15] Ebd, S. 90.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Ebd., S. 89.

[19] Arendt, Hannah: Denken ohne Geländer, S. 89.

[20] Vgl.: Kulla, Ralf: Politische Macht und politische Gewalt. Krieg, Gewaltfreiheit und Demokratie im Anschluß an Hannah Arendt und Carl von Clausewitz, Hamburg 2005, S. 45.

[21] Arendt, Hannah: Denken ohne Geländer, S. 92.

[22] Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, S. 49.

[23] Vgl.: Maier, Charles S.: Essay: Die ostdeutsche Revolution, in: Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 553.

[24] Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, S. 49.

[25] Ebd., S. 42.

[26] Vgl.: Maier, Charles S.: Essay: Die ostdeutsche Revolution, S. 564.

[27] Habermas, Jürgen: Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen, Stuttgart 1989, S. 106.

[28] Ebd., S. 103.

[29] Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, S. 57.

[30] Ebd., S. 56.

[31] Habermas, Jürgen: Politik, Kunst, Religion, S. 108f.