Christian Tornau
Die Philosophie des griechischen Neuplatonikers Plotin (205-270 n. Chr.) ist in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt als originärer Beitrag zu Grundfragen der Metaphysik, der philosophischen Anthropologie und auch der Ethik anerkannt worden. Dabei hat gerade auch das Phänomen der menschlichen Individualität einige Aufmerksamkeit gefunden, dessen Realität Plotin fraglos anerkennt, das aber im Rahmen einer neuplatonischen, das Eine über das Viele stellenden Metaphysik nicht leicht zu erklären ist. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, wie Plotin den ihm von der philosophischen Tradition und der natürlichen Intuition vorgegebenen Begriff des Individuums grundlegend reinterpretiert und ihm damit auch unter platonischem Vorzeichen einen Sinn abzugewinnen vermag.
Plotin hat eine äußerst differenzierte Auffassung von der Natur des Menschen. Auf die Frage: „Und wir – was sind wir?“, antwortet Plotin:
Sind wir das Dortige [= Ewige, Intelligible] oder das, was sich ihm annähert, das Werdende in der Zeit? Nun, bevor wir zu unserem hiesigen Werden kamen, waren wir schon dort, und dort waren wir andere Menschen und einige sogar Götter: reine Seelen und Geist in Berührung mit dem gesamten Sein. Wir waren Teile des geistig Erkennbaren, nicht abgegrenzt und nicht abgeschnitten von ihm, sondern zum Ganzen gehörend. Sogar jetzt sind wir ja noch nicht abgeschnitten (VI 4 [22],14,16-22).2
Diesem Menschen, der „wir“ ursprünglich waren, hat sich – so fährt Plotin fort – ein zweiter Mensch „angefügt“ und gleichsam um ihn herumgelegt und mit ihm zusammen das aus Körper und Seele zusammengesetzte Menschenwesen gebildet, als das wir uns selbst in unserem Dasein in der sinnlich wahrnehmbaren Welt erfahren.3 Plotin betrachtet den Menschen also als etwas Doppeltes: Auf der einen Seite ist er mit dem Dialog Alkibiades grundsätzlich davon überzeugt, daß „der Mensch nichts anderes als seine Seele“ ist;4 auf der anderen erkennt er die Existenz des Menschen als eines psychophysischen Lebewesens mit einem einheitlichen, die körperlichen Anteile einschließenden Bewußtsein durchaus als philosophisch relevant an. Insofern sie die Antwort auf die Frage: „Qui sommes nous?“ gibt, ist diese Theorie des doppelten Menschen zugleich eine Theorie des doppelten „Wir“ oder doppelten Selbst;5 anders formuliert: die Anthropologie ist zugleich eine Ethik. Was „wir“ sind, ist nicht ontologisch vorgegeben, sondern hängt von einer ethischen Entscheidung ab, nämlich davon, ob wir mit unserer Aktivität und Lebensgestaltung auf der Stufe unseres empirischen Selbst verbleiben und uns mit dem „zweiten“, psychophysischen Menschen identifizieren, oder ob wir zu der höheren, rein geistigen Stufe unseres Menschseins und zu unserem ursprünglichen Selbst zurückkehren.6 Das Selbst wählt sich also seine ontologische Stufe selbst und definiert sich damit selbst.7 Der Terminus technicus „Wir“ (ἡμεῖς) markiert die subjektiv-innere Seite dieses Vorgangs. Plotin gebraucht hierfür grundsätzlich die erste Person Plural, weil er sich weniger für das „Ich“, die unverwechselbare personale Identität des individuellen Menschen, als für die Innenperspektive des menschlichen Daseins im Allgemeinen interessiert.8 Natürlich wirft diese Theorie eine Reihe von Fragen auf. Plotin nennt das höhere, „wahre“ Selbst zwar auch den wahren Menschen; aber kann auf der Ebene des reinen Intelligiblen, wo das Selbst mit dem gesamten Intellekt und der intelligiblen Welt eins wird, noch sinnvoll von menschlichen Individuen gesprochen werden? Und in welchem Sinne kann zwischen den beiden Stufen des „Wir“ eine Kontinuität des Ich-Bewußtseins bestehen? Einerseits muß es eine solche Kontinuität geben, wenn der ethische Imperativ des Aufstiegs der Seele zu ihrem Ursprung sinnvoll sein soll, der ja laut Plotin eine Rückkehr zum eigenen ursprünglichen Selbst ist. Andererseits ist es schwer zu verstehen, wie das menschliche Selbst dasselbe bleiben kann, wenn es beim Aufstieg nahezu alle Züge hinter sich läßt, die es in der Erfahrungswelt zu einem Individuum machen – Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Emotionalität und sogar die Erinnerung daran.9 Der Begriff der Individualität ist in Plotins Philosophie des „Wir“ also durchaus problematisch.
Der Theorie des doppelten Selbst korrespondiert auf dem Gebiet der Seelenlehre die bekannte plotinische Sonderlehre vom nicht herabgestiegenen Seelenteil. Hiernach verbleibt der höchste Teil unserer individuellen, in die Körperwelt „gefallenen“ Seelen stets in der intelligiblen Welt, so daß jede Seele nach Art eines Amphibiums zugleich in dieser und in jener Welt lebt.10 In Plotins System hat diese Theorie eine Vielzahl von Funktionen.11 Exegetisch stellt sie eine nichtmythische Interpretation der platonischen Anamnesislehre dar;12 epistemologisch gesehen, sichert sie die Fähigkeit der Seele, die im transzendenten Intellekt angesiedelten intelligiblen Wesenheiten zu erkennen.13 Vor allem aber bildet die Lehre von der nicht herabgestiegenen Seele das ontologische Fundament der plotinischen Ethik der Rückkehr zum eigenen geistigen Ursprung: Der „Aufstieg“ der Seele zum Intellekt ist die Wiederherstellung eines ihr immer schon gegebenen Zustandes der Glückseligkeit, den sie niemals wirklich verliert, den sie aber aktualisieren und sich bewußt machen muß.14 Auch hier ergeben sich freilich Probleme. Ähnlich wie vorhin beim höheren Selbst, fragt es sich, wie die nicht herabgestiegene Seele als individuelle Seele gelten kann: Da nach Plotins Auffassung alle Seelen nur eine sind und diese eine Seele als solche niemals der Körpergebundenheit anheimfällt,15 kann das Prinzip der Individuation anscheinend weder in der Seele selbst (die ja einheitlich ist) noch in den Körpern (die auf eine körperfreie Seele nicht wirken können) liegen. Weiterhin stellt sich die Frage, in welchem Sinne die nicht herabgestiegene Seele „im Intelligiblen“ (IV 8 [6],8,3) ist: Eine maximale Deutung wird hieraus ihre völlige Einheit und sogar Identität mit dem Intellekt und den in ihm enthaltenen intelligiblen Formen ableiten, während eine minimale Interpretation auf der Differenz zwischen Seele und Intellekt insistieren und in Anlehnung an Platon selbst eher von einer Ähnlichkeit oder Verwandtschaft sprechen würde,16 deren genauer Sinn freilich zu bestimmen bliebe. Die von Plotin verwendeten Metaphern der „Kontinuität“ und des „Nichtabgeschnittenseins“ scheinen beide Deutungsmöglichkeiten offenulassen.17
Die bis hierher skizzierten Schwierigkeiten kristallisieren sich in der von der Plotinforschung seit längerem diskutierten Frage, ob Plotin Formen von Individuen angenommen hat.18 Eine solche Annahme liefe den Aussagen der Dialoge Platons über die Funktion der Formen scheinbar direkt zuwider19 und stünde im Widerspruch nahezu zu der gesamten Tradition des Platonismus;20 Sinn ergibt sie nur mit Blick auf menschliche, denkende Individuen und unter der spezifisch plotinischen Voraussetzung, daß jede individuelle Seele in unmittelbarem Kontakt mit dem Intellekt steht:
Gibt es eine Form des Individuums? Nun: Wenn es für mich und jeden Einzelnen die Zurückführung auf das geistig Erkennbare gibt, dann ist der Ursprung jedes Einzelnen dort (V 7 [18],1,1-3).21
Diese Stelle gilt als der expliziteste Beleg dafür, daß Plotin Individualideen angenommen hat.22 Sie ist in dieser Hinsicht allerdings nicht ganz so eindeutig, wie es in der Forschung bisweilen erscheint.23 Und auch wenn man sie als klare Affirmation der Existenz von Individualideen liest, wirft sie mehr Fragen auf als sie Antworten gibt: Kann das intelligible Prinzip jedes Individuums, von dem Plotin hier spricht, als Form dieses Individuums bezeichnet werden? Und wie verhält sich der Teil der Seele, mit dem sie „im Intelligiblen“ verbleibt, zu diesem Prinzip? Ist er mit ihm identisch – und falls er es nicht ist, worin liegt die Differenz? In jedem Fall ergibt sich die mißliche Situation, daß neben die klassischen platonischen Formen des Menschen oder des Gerechten – deren Funktion die Erklärung wiederkehrender Züge in der Erfahrungswelt ist – eine „Form des Sokrates“ (Αὐτοσωκράτης) zu stehen kommt, deren Wirkung Individualität und damit Einmaligkeit ist. Der Grundzug der meisten in jüngerer Zeit vorgetragenen Lösungsvorschläge sieht etwa folgendermaßen aus: Plotin hat die Existenz von Individualformen bejaht in dem Sinne, daß er darunter den nicht herabgestiegenen Teil der menschlichen Seele verstanden hat; diese „Seelen-Formen“ sind jedoch von den im Intellekt enthaltenen platonischen Formen zu unterscheiden.24 Die nicht herabgestiegene Seele – so argumentiert etwa Cristina D’Ancona in einem bedeutenden Aufsatz – ist das, was Plotin an anderer Stelle den „Intellekt in uns“25 nennt, also diejenige Instanz der Seele, die die Formen in gewissem Sinne „besitzt“ und der Seele so das dianoetische Nachdenken über nichtsinnliche Gegenstände ebenso wie die noetische Erkenntnis der intelligiblen Wesenheiten und die Einswerdung mit dem Intellekt ermöglicht.26 Diese individuellen Intellekte oder Intellekt-Seelen bevölkern zusammen mit den überindividuellen Formen die intelligible Welt, sind aber nichtsdestoweniger als „Seelenteile“ je einer individuellen Seele zugeordnet.27 Wie D’Ancona an anderer Stelle ausführt, bevorzugt Plotin diese Theorie gegenüber der Alternative, die intellektuellen Fähigkeiten der Seele mit der unmittelbaren Präsenz des hypostatischen Gesamt-Intellekts in jeder einzelnen Seele zu begründen und damit dem höchsten Seelenteil kollektiven, überindividuellen Charakter zuzuschreiben,28 weil die Individual-Intellekte für ihn außerdem als Prinzip der Individuation der Seelen fungieren.29
Nun kann zwar m.E. die Identität der nicht herabgestiegenen Seelen mit den Formen der Individuen vernünftigerweise nicht bestritten werden. Die scharfe Abgrenzung der letzteren von den platonischen Formen und damit von dem diese umfassenden Gesamt-Intellekt scheint mir jedoch aus mehreren Gründen bedenklich. Erstens: Wenn die Erkenntnisweise der zum Intellekt aufgestiegenen und mit ihm vereinigten Seele eine im vollen Sinne noetische, durch die Einheit des Erkennenden mit dem Erkannten definierte Erkenntnis ist,30 dann sieht man schwer, wodurch sich eine solche Seele noch vom Intellekt unterscheiden soll. Der Intellekt ist die einzige Wesenheit, der Plotin noetische Selbsterkenntnis in diesem Sinne zuerkennt; was noetische Selbsterkenntnis hat, kann also nichts anderes als Intellekt sein.31 Zweitens: Wenn der Aufstieg der Seele zu ihrem geistigen Ursprung die Aktivierung und Bewußtmachung ihres im Intelligiblen verbliebenen Teils ist und zwischen dem letzteren und dem Gesamt-Intellekt ein prinzipieller Unterschied besteht, dann endet der Seelenaufstieg nicht beim Intellekt, sondern auf einer diesem nachgeordneten Stufe. Das aber ist sicher nicht die Auffassung Plotins. Drittens: Es gibt zwar, wie wir sehen werden, gute Gründe, das Prinzip der Individualität der Seelen schon auf der Stufe des Intellekts anzusetzen. Es geht jedoch nicht an, die Theorie der nicht herabgestiegenen Seelenteile oder individuellen Intellekt-Seelen als Alternative zu der Präsenz des einen, überindividuellen Gesamt-Intellekts in der Seele zu interpretieren. Eine solche Deutung läßt die ontologische Struktur des plotinischen Intellekts als Einheit-Vielheit unberücksichtigt, die es verbietet, eine derartige Alternative auf ihn anzuwenden: Wo ein Einzelintellekt gegenwärtig ist, ist immer auch der Gesamt-Intellekt gegenwärtig.
Es soll daher im folgenden der Versuch gemacht werden zu zeigen, daß Plotin die reale Identität der nicht herabgestiegenen Seele mit dem Intellekt als solchen vertritt,32 daß er den Individualformen denselben ontologischen Status zuweist wie den traditionellen platonischen Formen und daß eine solche Position für ihn darum philosophisch möglich wird, weil er den Begriff der Individualität selbst einer grundlegenden Revision unterzieht.33 Die Leitfrage dieser Untersuchung ist insofern nicht die traditionelle, ob es bei Plotin Formen von Individuen gibt, sondern die grundsätzlichere, was für Plotin überhaupt das Kriterium von Individualität ist. Dabei müssen drei Aspekte dieses Begriffs unterschieden werden:34 1. Die individuelle Seele und das individuelle Selbst eines Menschen gehört diesem allein an und ist von den Seelen und „Selbsten“ der anderen eindeutig abgrenzbar. Das entscheidende Kriterium der Abgrenzung ist die Subjektivität, das individuelle Ich-Bewußtsein, das uns erlaubt, von „meiner“ und „deiner Seele“ und generell von „Ich“ und „Du“ zu sprechen.35 Der Körper spielt für diesen Aspekt von Individualität dagegen keine Rolle. Das Ich-Bewußtsein ist als solches unkörperlich, auch dann, wenn es faktisch das Bewußtsein eines συναμφότερον, eines Körper-Seele-Verbundes, ist; es behält daher seine Relevanz als Kriterium von Individualität auch dort, wo es keine individuellen Körper mehr gibt, auf der Ebene der nicht körpergebundenen Seele.36 2. Im logisch-ontologischen Sinne spricht man vom Individuum (τὸ καθέκαστα) im Gegensatz zum Allgemeinen (τὸ καθόλου). Bei Aristoteles, auf den die Terminologie zurückgeht, ist das Individuum in der Regel das sinnlich wahrnehmbare Einzelding und das Allgemeine die Art oder Gattung, der es angehört.37 Plotin verwendet die aristotelische Terminologie,38 teilt als Platoniker aber nicht die ontologischen Annahmen, die sie impliziert. Wie wir sehen werden, führt bei ihm die Frage, ob und wie sich der aristotelische Gegensatz zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen auf die Individualität von Seele und Selbst anwenden läßt, zu einer neuen, unaristotelischen Bestimmung dieses Gegensatzes. 3. Schließlich können zwischen verschiedenen Exemplaren einer und derselben Art individuelle Unterschiede rein körperlicher Natur bestehen. Plotin diskutiert dieses Phänomen im Zusammenhang mit der Frage der Individualformen, weil es mit Hilfe von Gattungs- und Art-Formen allein nicht zu erklären ist, aber auch nicht von vornherein als Störung oder Mangel eingestuft und auf die Materie zurückgeführt werden kann.39 Dieser Aspekt von Individualität kann für unsere Zwecke außer Betracht bleiben.
Die Frage nach Formen von Individuen bei Plotin ist auch deswegen so schwer zu beantworten, weil sie im Rahmen von Plotins Denken eigentlich falsch gestellt ist. Plotin fragt zwar ausdrücklich: „Gibt es eine Form des Individuums?“ (V 7 [18],1,1). Aber er übernimmt diese Formulierung aus der Tradition, wo die Frage nach den Individualformen ein Teilaspekt der alten platonischen Streitfrage war, wovon es Ideen gibt;40 und er gibt keine direkte Antwort darauf, weil mit der Bezeichnung „Individuum“ das sinnlich wahrnehmbare Einzelding bereits als selbständiges Seiendes mit einer eigenen Realität und Substantialität anerkannt ist. Die Idee kann dann nur noch als etwas zu diesem Seienden Relatives gesehen werden; sie wird dann wesentlich im Hinblick darauf betrachtet, daß sie die Idee „von“ diesem Seienden ist und in irgendeiner Weise „in“ ihm präsent ist, und beide Redewesen – das „Von-etwas-Sein“ und das „In-etwas-Sein“ - signalisieren ontologische Abhängigkeit. Damit muß der Versuch, die Ideen dennoch als selbständige Substanzen zu denken und den sinnlichen Substanzen dualistisch gegenüberzustellen, notwendigerweise zu einem Widerspruch und zu den bekannten, im Parmenides und von Aristoteles aufgeworfenen Aporien der Ideenlehre führen. Noch wichtiger für unseren Zweck ist, daß mit der Qualifizierung der Sinnendinge als Individuen den Ideen bereits implizit der Status von Allgemeinbegriffen zugewiesen ist, womit ihre Substantialität ernsthaft in Frage gestellt ist. Der Vertreter der Ideenlehre setzt sich an dieser Stelle dem Einwand des Aristoteles aus, nach dem Allgemeinheit und Substantialität einander ausschließen:
Aufgrund dieser Erwägungen ist deutlich, daß nichts Allgemeines Substanz ist und daß das allgemein Ausgesagte nicht ein Dieses (τόδε τι), sondern eine Qualität (τοιόνδε) bezeichnet (Metaph. Z 13, 1038b34-1039a2).
Es war demnach der Kardinalfehler der Platoniker, die Ideen zugleich als Substanzen und als Allgemeinbegriffe denken zu wollen. Substanz kann nur sein, was ein „Dieses“ (τόδε τι) und mithin ein Individuum ist, und hierfür kommt für Aristoteles nur das sinnliche Einzelding in Frage. Für Plotin ist diese Betrachtungsweise indessen eine Fehlwahrnehmung, die aus der Prägung des diskursiven Denkens durch seinen täglichen Umgang mit den Sinnendingen erwächst. Die Gewöhnung an die Sinnendinge bewirkt die Neigung des Denkens, diese als selbständige Realitäten anzusehen und die Ideen zu ihnen in Relation zu setzen. Es ist daher ein wesentlicher Teil von Plotins philosophischem Programm, einen Wechsel in der Perspektive des Denkens herbeizuführen: Der Ausgangspunkt, von dem aus die Ideen gedacht werden, sollen nicht mehr die Sinnendinge sein, deren Ideen sie sind; sondern sie sollen aus ihrem eigenen Sein heraus, aufgrund der ihnen angemessenen Prinzipien, als intelligible Realitäten eigenen Rechts begriffen werden, zu denen die Sinnendinge ihrerseits in Relation stehen und von denen her das Sein und die Erkennbarkeit der Sinnendinge überhaupt erst gedacht werden kann.41 Der Begriff des „In-Seins“ etwa wird dahingehend revidiert, daß nicht die Idee „im“ Einzelding ist, sondern die Einzeldinge „im“ intelligiblen Seienden sind und ihr Sein von diesem empfangen ; damit ist das Dilemma der Partizipation gelöst.42 Entsprechend müssen Begriffe wie „Dieses“ und „Individuum“, die wir unreflektiert in ihrer für die Sinnenwelt gültigen Bedeutung zu verwenden pflegen, überdacht und nach den Prinzipien des wahren, intelligiblen Seins neu definiert werden; dabei ist auch zu fragen, ob der Gegensatz von Individualität und Allgemeinheit, der der Kern des aristotelischen Einwands ist, für das intelligible Sein in gleicher Weise gilt.43
Dies geschieht etwa in folgendem Text, der als direkte Antwort auf Aristoteles gelesen werden kann:
Denn die seienden Dinge müssen fest stehen, die geistig erkennbaren Gegenstände müssen [stets] identisch sein, und jeder einzelne muß der Zahl nach eins sein. Denn nur auf diese Weise ist er ein Dieses (τὸ τόδε). Bei manchen Dingen ist ja wegen der Natur der Körper die Individualität (καθέκαστον) etwas Fließendes, weil die Form etwas ihnen von außen Zukommendes ist; darum kommt das Immersein ihnen [nur] der Art/Form nach (κατ’ εἶδος) zu aufgrund durch Nachahmung der [wahrhaft] seienden Dinge. Bei anderen Dingen liegt, da sie nicht aus einer Zusammensetzung bestehen, das Sein in dem, was der Zahl nach eins ist, was ihnen von Anfang an zukommt; weder werden sie zu etwas, das sie nicht [immer schon] waren, noch werden sie einmal nicht mehr das sein, was sie sind (IV 3 [27],8,22-30).44
Plotin übernimmt hier die aristotelische Unterscheidung zwischen numerischer und artmäßiger oder formaler Einheit, integriert sie jedoch in die Ontologie Platons und verknüpft sie mit der im Timaios niedergelegten Grundunterscheidung zwischen Sein und Werden.45 Er gesteht Aristoteles zwar zu, daß etwas, um ein „Dieses“ zu sein, die Bedingung numerischer Einheit erfüllen muß, mit anderen Worten: ein Individuum sein muß.46 Durch die Verbindung mit dem Timaios wird die numerische Einheit selbst aber an eine Bedingung geknüpft, die bei Aristoteles keine Rolle spielt: die der Unveränderlichkeit. Damit ein Ding numerisch eines ist, genügt es in Plotins Augen nicht, daß es zu einem gegebenen Zeitpunkt mit sich selbst identisch ist; sondern dies muß immer der Fall sein, das betreffende Ding muß sich also – nach Platons berühmter Formel – „immer gleich und auf dieselbe Weise verhalten“.47 Als numerisch einheitliche substantielle Individuen kommen damit nur noch die platonischen Formen in Frage. Den sinnlich wahrnehmbaren Individuen wird die numerische Einheit dagegen abgesprochen, weil sie im ständigen Fluß sind und die Bedingung des ewigen Bestehens folglich nicht erfüllen können; sie können somit weder als „Dieses“ im eigentlichen Sinne noch als Substanzen und strenggenommen nicht einmal als Individuen gelten. Ihren relativen Grad an Realität erreichen sie nicht durch ihr individuelles Sein, sondern dadurch, daß sie einer Art angehören, die als Art immer bestehen bleibt und dadurch der Ewigkeit der intelligiblen Wesenheiten wenigstens nahe kommt. Bei den Sinnendingen gibt es also keine numerische, sondern lediglich artmäßige Einheit.48 Die Art (εἶδος) in diesem aristotelischen Sinne aber ist ein Allgemeinbegriff. Plotin verwendet den aristotelischen Terminus καθέκαστον hier zwar noch in traditioneller Weise für das sinnliche Einzelding und geht nicht so weit, ihn auf die intelligible Form zu übertragen.49 Die Stoßrichtung des Textes ist nichtsdestoweniger klar: Plotin kehrt die aristotelische Zuordnung der Begriffe „allgemein“ und „individuell“ zu den sinnlichen und intelligiblen Wesenheiten um, indem er die Individualität ebenso wie das wahre Sein für die letzteren reserviert und den Sinnendingen lediglich Sein in einer über ihr individuelles Dasein hinausreichenden, zeitübergreifenden Allgemeinheit zugesteht.50 Diese Revision der gängigen Auffassung des Individuellen und des Allgemeinen wirkt paradox, ergibt sich aber logisch aus Plotins philosophischem Programm. Der Begriff der Individualität wird von den Sinnendingen gelöst und nach den Kriterien des intelligiblen Seins neu bestimmt.
Diese Strategie ist freilich nur auf die im zitierten Text genannten Stoff-Form-Komposita – die aristotelischen „sinnlichen Substanzen“51 – anwendbar, nicht aber auf eine immaterielle Wesenheit wie die Seele. Dies zeigt sich schon daran, daß in diesem Fall kein Teilhabe-Verhältnis besteht; die einzelnen Seelen verhalten sich zur „Seele an sich“ (der Seelen-Hypostase) nicht wie Einzeldinge zu einer Form.52 Plotin vertritt zwar die Lehre von der Einheit aller Seelen; er kann aber aus mehreren Gründen nicht allein der Gesamtseele Individualität zuschreiben und die Existenz individueller Seelen0 wie die Realität der Sinnendinge zur Illusion erklären.53 Das wäre nicht nur extrem kontraintuitiv, sondern er würde er damit auch gegen die Unterscheidung des Timaios zwischen Welt- und Einzelseelen und gegen die Metaphorik des Phaidros vom Seelensturz und -wiederaufstieg, d.h. gegen Platon selbst, stellen; sachlich liefe das auf eine quasi gnostische Ethik hinaus, nach der jede Moralität und jedes philosophische Bemühen um Erlösung überflüssig wäre, weil die menschliche Seele immer schon identisch mit der Allseele und mithin „von Natur aus erlöst“ wäre.54 Gerade in der Schrift VI 4-5 [22-23], wo er die platonische Redeweise vom Eingehen der Seele in die Körper konsequent als Hinwendung der vielen Körper zu der einen Seele allegorisiert,55 hält Plotin aber klar an der Auffassung fest, daß die Seele durch exzessive Aufmerksamkeit auf einen Körper ihre Aktivität partikularisieren und minimieren und so ihre Einheit mit dem intelligiblen Ganzen verlieren und sich im Körperlich-Partikulären gleichsam verfangen kann.56 Dies setzt voraus, daß es neben der absoluten Einheit auch eine reale Vielheit der Seelen gibt. Die Position der Schrift VI 4-5 [22-34] kann also offensichtlich nur konsistent sein, wenn die Seele als solche zugleich eines und vieles ist; und genau dies ist die Auffassung Plotins.57 Zwar kommt er gelegentlich der Behauptung nahe, daß die Vielheit der Seelen nur Schein ist; so interpretiert er die änigmatische Aussage des Timaios, daß die Seele „an den Körpern teilbar wird“, in der Weise, daß eine und dieselbe Seele an vielen Körpern sichtbar wird, so wie das unteilbare Sonnenlicht sich scheinbar an den von ihm beleuchteten Körpern teilt.58 Wie er sogleich hinzufügt, darf daraus jedoch nicht geschlossen werden, daß die Körper das Prinzip der Vielheit und der Individuation der Seelen sind:
… man darf nicht annehmen, daß erst durch die räumliche Größe der Körper die Vielheit der Seelen entsteht, sondern daß sie schon vor den Körpern viele und eine sind. In dem Ganzen sind nämlich die vielen schon enthalten, und zwar nicht nur potentiell, sondern so, daß jede einzelne aktuell ist; die eine, gesamte Seele verhindert nicht, daß in ihr viele Seelen enthalten sind, und ebensowenig schränken die vielen die eine ein. Sie unterscheiden sich, ohne Distanz zu haben, und sie sind beieinander, ohne sich von sich selbst zu entfremden. Sie sind ja nicht durch Grenzen voneinander getrennt, ebensowenig wie die vielen Wissenschaften in einer einzigen Seele; und die eine ist von solcher Art, daß sie sie alle in sich selbst enthält. Das ist der Sinn, in dem eine solche Natur unendlich ist (VI 4 [22],4,37-46).59
Plotin unterzieht hier die Gegensatzpaare „Eines – Vieles“ und „Teil – Ganzes“ einer Revision. In der Körperwelt schließen diese Charaktere einander aus: Zwei Menschen können nicht zugleich einer sein, weil sie – genauer: ihre Körper – sich an verschiedenen Orten im Raum befinden. Aus demselben Grund können zwei Teile eines Körpers weder miteinander eins sein noch mit dem Ganzen, weil bei Körpern der Teil kleiner als das Ganze ist.60 Sobald man es jedoch mit einer unkörperlichen Natur wie der Seele zu tun hat, fallen diese spezifisch körperlichen Einschränkungen weg, und Einheit und Vielheit hören auf, kontradiktorische Gegensätze zu sein. Dagegen gibt es keinen Grund, Vielheit und Differenz als solche – ohne die Bindung an einen Ort – lediglich als körperspezifische Mängel anzusehen; sie sind also auch als Charakteristika der Seele als solcher anzusehen, ohne daß diese an einen Körper gebunden ist. Plotin versucht diesen Sachverhalt mit dem Beispiel der Wissenschaften plausibel zu machen: Geometrie und Dialektik sind voneinander eindeutig unterschieden und werden doch in einer und derselben Seele gleichzeitig aktual gewußt; in derselben Weise ist die körperfreie Seele zugleich die eine Gesamtseele und die Vielzahl der individuellen Seelen, und zwar aktual. Die ganze Tragweite der Wendung „nicht nur potentiell, sondern so, daß jede einzelne aktuell ist“ (VI 4 [22],4,40) enthüllt sich indessen erst, wenn man berücksichtigt, daß Plotin damit auf eine Überlegung aus der Metaphysik des Aristoteles Bezug nimmt:
Dasselbe ist auch aufgrund folgender Überlegung offensichtlich: Es ist unmöglich, daß eine Substanz aus Substanzen besteht, die der Verwirklichung nach in ihr vorhanden sind. Denn dasjenige, was der Verwirklichung nach zwei ist, ist niemals der Verwirklichung nach eins, sondern sie können nur dann eins sein, wenn sie der Möglichkeit nach zwei sind, so wie z.B. das Doppelte aus zwei Hälften besteht, aber nur der Möglichkeit nach; denn die Verwirklichung trennt (Metaph. Z 13, 1039a3-7).
Nach dieser Argumentation können die Teile eines Ganzen nicht zugleich mit dem Ganzen aktuale Substanzen sein. Zwei Hälften sind nur potentiell ein Ganzes, und umgekehrt; Honig und Wein sind zwei Substanzen, die sich potentiell zu Honigwein vereinigen können, und in der einen Substanz Honigwein sind die Substanzen Honig und Wein potentiell enthalten, da das Gemisch wieder getrennt werden kann. Plotin akzeptiert diese Argumentation, soweit sie sich auf Körper bezieht,61 verwirft sie aber mit Bezug auf die Seele, die gerade dadurch ausgezeichnet ist, daß Gesamtseele und Teilseelen zugleich aktual bestehen können. Vor allem aber ist dieser Aristotelestext die Fortsetzung und Begründung jener Passage, in der die Substantialität der platonischen Form bestritten wurde, sofern diese als ein Allgemeines aufgefaßt wird.62 Indem Plotin das Argument des Aristoteles für die Seelen zurückweist, nimmt er also auch hier eine Neubestimmung des Verhältnisses von Allgemeinheit und Individualität vor, freilich in einer anderen Weise als es vorhin bei den sinnlichen Einzeldingen der Fall war. Plotin ist weit entfernt davon, den Einzelseelen die Individualität zu bestreiten und sie, wie vorhin für die Form, für die Seele als ganze oder die Hypostase Seele zu reservieren. Er hebt vielmehr den Gegensatz von Individualität und Allgemeinheit auf: Sowohl die individuellen Seelen als auch die Gesamtseele, die sie als ein Allgemeines alle umgreift, sind jeweils ein „Dieses“ und mithin Individuen. Plotins Auffassung von der Individualität nicht körpergebundener Seelen kann also nur mit Blick darauf verstanden werden, wie er die Einheit (genauer: die Einheit-Vielheit) aller Seelen denkt.63
Es fällt auf, daß Plotin eine Reihe von Zügen, die man als konstitutiv für unsere empirische Individualität und Personalität ansehen kann (etwa den Besitz eines eigenen Körpers und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort in Raum und Zeit, mit anderen Worten: eine individuelle Geschichte), hier ganz außer acht läßt. Stattdessen versieht er uns mit einer Individualität, deren Proprium gerade nicht die Abgrenzung, sondern die Inklusion des Anderen und des Ganzen ist. Was das für eine Erfahrung sein könnte, sagt Plotin nicht: Der neue, das Allgemeine mit umfassende Begriff von Individualität ist nicht durch Introspektion, sondern mit ontologischen Mitteln, durch den Rekurs auf das der immateriellen Seele eigene Wesen, gefunden worden. Es ließe sich an dieser Stelle sogar einwenden, daß Plotin in der gerade besprochenen Passage nur von der Vielheit, nicht aber von der Individualität der Seelen spricht und daß die Einzelseelen, von denen er dort spricht, nicht notwendigerweise mit den uns in der Erfahrungswelt begegnenden Seelen des Sokrates, Pythagoras usw. identisch sind.64 Denkbar wäre ja auch, daß die Einzelseele zwar durch ihre Präsenz im συναμφότερον, im Kompositum von Seele und Körper, die Existenz des psychophysischen menschlichen Individuums verursacht, daß aber der Träger der menschlichen Individualität nicht die Seele, sondern das Kompositum ist. Die Auflösung des Kompositums im Tod wäre dann auch das Ende der Individualität, die in der reinen Seele nicht fortexistieren würde. Das würde bedeuten, daß die vom Körper befreite Seele des Sokrates nicht mehr die Seele des Sokrates ist, mit anderen Worten: daß es zwischen Sokrates und seiner unsterblichen Seele keine Kontinuität des Ich-Bewußtseins gibt. Es gibt durchaus Züge in Plotins Denken, die in diese Richtung weisen.65 Daß dies dennoch nicht das von Plotin Gemeinte ist, deutet sich in der Wendung „ohne sich von sich selbst zu entfremden“ (οὐκ ἀλλοτριωθεῖσαι: VI 4 [22],4,43) an; an einer unserer Stelle sehr ähnlichen Passage aus der Schrift IV 3 [27] argumentiert er explizit dagegen:
Aber wie kann dann noch die eine Seele die deine, die andere diejenige dieses bestimmten Menschen (τοῦδε) und eine dritte die eines anderen sein? Ist sie etwa nur mit ihrem unteren Teil die Seele dieses bestimmten Menschen, während sie mit ihrem oberen nicht zu diesem Menschen, sondern zu jener [Wesenheit] gehört (d.h. zu der Hypostase Seele, in der alle Seelen eins sind und die niemals in einen Körper eingeht; vgl. IV 3 [27],4,15)?66 Aber dann würde Sokrates, d.h. die Seele des Sokrates,67 nur so lange existieren, wie sie in einem Körper wäre, und gerade dann zugrundegehen, wenn sie den besten Zustand erreicht hätte. – Nein, denn nichts von dem, was ist, wird zugrundegehen. Auch dort lösen sich ja die Geistwesen nicht deswegen in einer Einheit auf, weil sie nicht auf körperliche Weise voneinander getrennt sind; sondern jedes einzelne bleibt bestehen in der Andersheit, weil ihm zukommt, genau das zu sein, was es ist.68 Genauso ist es mit den Seelen, die von jedem einzelnen Geist unmittelbar abhängig sind, da sie von den Geistwesen kommende rationale Strukturen (λόγοι) sind und in höherem Maße als diese entfaltet sind [...]; jede für sich bleibt eins, und alle zusammen sind sie eins (IV 3 [27],5,1-14).69
Die Parallelität dieser Passage zu der soeben besprochenen aus VI 4 [22],4 steht außer Frage. Plotin beschreibt im letzten zitierten Satz dieselbe zugleich einheitliche und vielheitliche Struktur, in der jede individuelle Seele eins mit dem Ganzen ist und doch sie selbst bleibt. Aber Plotin führt die Struktur der nicht körpergebundenen Seele jetzt explizit auf die Einheit-Vielheit der nächsthöheren Hypostase, des Intellekts, zurück: Die Seelen werden mit dem vielzitierten, sonst meist auf den Intellekt bezogenen Anaxagoras-Fragment „alle zusammen“ belegt.70 Umgekehrt wird für den Intellekt betont, daß die Unterschiedenheit der Einzel-Intellekte nicht dadurch bedroht ist, daß sie nicht durch Körper voneinander abgegrenzt sind – hier spiegelt sich Plotins Überzeugung, daß für das sinnlich geprägte diskursive Denken die unkörperliche Pluralität des Intellekts leichter zu denken ist als die der Seele, deren Vielheit sich uns in der Erfahrungswelt immer durch ihre Relation zu den Körpern zeigt.71 Der wahre Grund für die Vielheit der Seele ist jedoch ihre Abhängigkeit vom Intellekt, dessen entfaltetere Version sie ist und dessen Grundzug sie bewahrt: das Zugleich von Identität und Differenz.72 Wie diese Entfaltung vor sich geht, ist nicht ganz klar. Plotin beschreibt die Seelen als λόγοι ihrer jeweiligen Intellekte, d.h. er setzt das Verhältnis von Intellekt und Seele, wie auch sonst gelegentlich, in Analogie zu dem Verhältnis von innerseelischem und sprachlich vorgetragenem Logos, das nach seiner Interpretation eine Teilung und Vervielfältigung impliziert;73 und er schreibt der Seele in Anlehnung an den Timaios (35a) einerseits Unteilbarkeit, andererseits eine Tendenz zur Teilung zu. Damit kann nicht das „reale“ Geteiltwerden der Seele beim Eingehen in die Körper gemeint sein, da von nicht körpergebundenen Seelen die Rede ist; eher meint Plotin, daß die im Intellekt miteinander vereinigten Inhalte in der Seele bereits stärker voneinander differenziert sind, so daß ihre Ordnung auf die raumzeitliche Anordnung vorausweist, die die Seele ihnen in der Körperwelt geben wird.74 Dagegen ist Plotins Rede von der Entfaltung sicher nicht so zu verstehen, daß es eine größere Anzahl von Seelen als von Intellekten gibt, daß also aus je einem Intellekt mehrere Seelen hervorgehen. Der Faktor, um den die Seelen gegenüber den Intellekten vermehrt sind, wäre eine rein willkürliche Annahme (ob ein Intellekt zwei, drei oder zehn Seelen aus sich heraussetzt, wäre nicht begründet zu entscheiden). Es kommt Plotin vielmehr darauf an, daß sich die Einzelseelen zu den Einzel-Intellekten so verhalten wie die Gesamtseele zum Gesamt-Intellekt.75 Diese Interpretation ist, wie mir scheint, vor allem deswegen notwendig, weil das Problem, das Plotin mit der bis hierher nachvollzogenen Argumentation lösen will, dasjenige der Individualität der körperlosen Seelen ist. Der Text wird eröffnet mit der Frage, ob unter der Voraussetzung der Einheit aller Seelen in der Hypostase Seele überhaupt noch von der Seele eines individuellen Menschen wie des Sokrates gesprochen werden kann oder ob die Seele des Sokrates nach ihrer Befreiung vom Körper in der Hypostase Seele aufgeht und aufhört, Seele des Sokrates zu sein. Das ist zum einen der Einwand der natürlichen Intuition, die das menschliche Individuum immer unter Einbeziehung des Körpers und der persönlichen Geschichte denkt und die sich infolgedessen das Fortbestehen von Individualität in der Körperlosigkeit schwer vorstellen kann. Es ist bemerkenswert, daß Plotin bei Teilen seiner Leserschaft einen solchen – freilich intuitiven, nichttheoretischen – Begriff von Individualität voraussetzt und mit entsprechendem Widerstand gegen seine Theorie von der Einheit aller Seelen rechnet;76 der Grund dafür dürfte in seinen Augen die schon erwähnte Beeinflussung des diskursiven Denkens durch die Sinnendinge sein, gegen die seine philosophische Argumentation hier wie überall ankämpft. Zum anderen ist es aber auch der Einwand des Platonikers, der bezweifelt, ob das Ideal des Phaidon – die Lösung der Seele vom Körper durch Philosophie – noch einen Sinn ergibt, wenn die individuelle Seele beim Erreichen dieses Ziels in einer differenzlosen All-Seele aufgeht. Das philosophierende Selbst würde damit vernichtet; die platonische Unsterblichkeit der Seele wäre lediglich eine allgemeine, aber keine persönliche Unsterblichkeit.77 Wenn Plotins Argumentation in IV 3 [27],5,5ff. auf diese Fragen eine überzeugende Antwort geben soll, dann darf sie sich nicht lediglich, wie der vorige Text aus VI 4 [22],4, auf die objektive Vielheit, sondern muß sich auch auf das Selbstsein, die Subjektivität der einzelnen körperfreien Seelen beziehen. Das Selbstbewußtsein der Seelen muß in Kontinuität mit dem Selbstbewußtsein des Menschen stehen, dessen Seelen sie sind bzw. waren, sofern die Redeweise von „deiner Seele“ oder „der Seele des Sokrates“ in der Körperlosigkeit ihre Gültigkeit behalten soll. Wenn Plotin also in IV 3 [27],5 jede Seele in einem individuellen, ihr allein zugeordneten Intellekt gegründet sein läßt, dann verankert er damit die menschliche Individualität im Sinne des individuellen Selbstbewußtseins in der intelligiblen Welt. Zu beachten ist freilich, daß es sich dabei um Individualität in dem für den intelligiblen Bereich gültigen, Einheit mit dem Ganzen nicht ausschließenden Sinne handelt, wie die anaxagoreische „Alles zusammen“-Formel zeigt.
Für Plotin ist der Intellekt also das Prinzip nicht nur der Pluralisierung, sondern auch der Individuation der Seelen.78 Daraus folgt freilich noch nicht, daß es bereits auf der Stufe des Intellekts selbst ein „Wir“ gibt, ein individuelles Selbstbewußtsein, das in der ersten Person beschrieben werden kann. Wie wir sogleich sehen werden, gibt es jedoch Texte, die hinreichend belegen, daß dies der Fall ist und daß der Intellekt insofern nicht nur das Prinzip, sondern auch die höchste Form jedes individuellen „Wir“ ist.
Es gibt keinen vernünftigen Grund zu bezweifeln, daß es sich bei den körperlosen Seelen, von denen in den bis hierher diskutierten Texten die Rede war, um die nicht herabgestiegenen Teile der individuellen menschlichen Seelen handelt. Genauer gesagt: Es handelt sich um die höchsten Teile dieser Seelen, die im Sinne des Timaios (35a) „unteilbar“ sind und sich per se niemals mit einem Körper verbinden – im Gegensatz zu den niederen Seelenteilen, die ihrer Natur nach „an den Körpern teilbar“ sind, auch wenn sie faktisch einmal nicht an einen Körper gebunden sein sollten.79 Weniger klar ist hingegen das Verhältnis der nicht herabgestiegenen Seelen zum Intellekt. Sind sie trotz ihres Verbleibens „im Intelligiblen“ vom Intellekt klar differenziert – oder handelt es sich bei ihnen um individuelle Intellekte, die wegen des für immaterielle Wesenheiten gültigen Verständnisses von Individualität zugleich der Gesamt-Intellekt sind? In diesem Fall wären sie „Formen von Individuen“ in dem Sinne, wie Plotin ihn in V 7 [18] diskutiert. Die bis hierher besprochenen Passagen enthalten diesbezüglich keine eindeutigen Aussagen; die Formulierung in IV 3 [27],5, daß die Seelen mit dem Geist „durch dasjenige in Verbindung stehen, was an ihnen das weniger Teilbare ist“ (IV 3 [27],5,11f.) scheint eher für eine Differenz zwischen Intellekt und unteilbarem Seelenteil zu sprechen. Es soll daher nun gezeigt werden, daß Plotin die nicht herabgestiegene Seele tatsächlich mit dem Intellekt gleichsetzt und daß diese Gleichsetzung ernstgenommen werden sollte, weil es für sie im Rahmen von Plotins Denken gute philosophische Gründe gibt.
Die Schrift VI 4-5 [22-23] interpretiert bekanntlich die platonische Teilhabe an den Formen als die ungeteilte Gegenwart des gesamten intelligiblen Seins, d.h. des Intellekts, bei jedem sinnlich wahrnehmbaren Einzelding. In der Tat kann Teilhabe nichts anderes sein, wenn sie nach den dem intelligiblen Sein angemessenen Prinzipien verstanden werden soll, also unter Ausschluß jeder räumlichen Distanz oder körperlichen Teilung. Dabei ist nicht nur das Dasein von Tieren oder Mineralien, das man traditionell mit der Teilhabe an den entsprechenden Formen begründete, als Ergebnis der Allgegenwart des intelligiblen Seins zu erklären. Dasselbe Prinzip gilt auch und vor allem für das höchste in der Erfahrungswelt vorfindliche Seiende: den Menschen, das aus Körper und Seele zusammengesetzte „rationale Lebewesen“.80 Es reicht dabei nicht aus, auf die Unteilbarkeit und Allgegenwart der Seele im Körper zu verweisen, die Plotin in VI 4-5 [22-23] häufig als konkretes Beispiel für die Unteilbarkeit und Allgegenwart des Intelligiblen anführt.81 „Wir“, d.h. die menschliche Rationalität und der menschliche Intellekt, gehen vielmehr direkt auf den höchsten Intellekt und das intelligible Sein in seiner Ganzheit zurück:
Denn auch das zu uns Gehörige82 und wir selbst werden auf das Sein zurückgeführt; d.h. wir steigen auf zu ihm und zu dem ersten, was von ihm ausgeht,83 und haben ein geistiges Erkennen des Dortigen, ohne Abbilder oder Eindrücke davon zu haben. In diesem Fall aber ergibt sich, daß wir es erkennen, indem wir es sind. Wenn wir mithin am wahren Wissen teilhaben, dann sind wir die betreffenden Gegenstände, nicht indem wir sie abgeschlossen in uns haben, sondern indem wir unsererseits in ihnen sind. Da aber nicht nur wir allein, sondern auch die anderen [Menschen] sie sind, ergibt sich, daß wir alle sie sind. Also sind wir mit allen [Menschen] beisammen, wenn wir sie sind; also sind wir alle alles und sind eins (VI 5 [23],7,1-8).84
Es geht in diesem Text nicht in erster Linie – wie etwa in IV 8 [6],1,1-11 – um den Aufstieg der Seele oder des Selbst zum Intellekt und in die intelligible Welt. Dieser Aspekt erscheint zwar auch, doch die eigentliche Aufmerksamkeit gilt der Tatsache, daß wir, um den Aufstieg überhaupt durchführen zu können, immer schon im Intelligiblen verwurzelt und in letzter Instanz mit ihm eins sein müssen. Der Wiedergewinn des wahren Selbst ist für Plotin nichts anderes als der Rückgang auf den eigenen Ursprung.85 Plotin unterscheidet diese logisch-ontologische Reduktion („wir ... werden ... zurückgeführt“; im Griechischen steht das zu ἀναγωγή, „Reduktion“, gehörige Verb) der Seele auf den Intellekt hier auch terminologisch von dem ethisch-aktualen Aufstieg („wir steigen auf“). Der Grund für Plotins Akzentsetzung ist klar: Ein beispielhafter Fall der Allgegenwart des intelligiblen Seins ist die Einheit des Selbst mit dem Intellekt nur, insofern sie immer besteht, nicht insofern sie erst im Laufe der Zeit erreicht wird und wieder verlorengehen kann. Für Plotin ist an dieser Stelle nicht relevant, daß wir Intellekt werden können, sondern daß wir es immer schon sind.86
Drei Punkte sind für unsere Zwecke an dem zitierten Text besonders hervorzuheben. Erstens: Das „Wir“ erkennt die intelligiblen Wesenheiten dadurch, daß es diese ist. Das wird damit begründet, daß es sich bei der Erkenntnisweise des „Wir“ um wahre Erkenntnis handelt, die nicht indirekter Natur sein kann (hierfür stehen die „Abbilder“ und „Eindrücke“), sondern unmittelbare Erkenntnis und damit Selbsterkenntnis im Sinne der Identität von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt sein muß. Exakt dies ist aber die Erkenntnisform, die nach der bekannten Argumentation von V 5 [32],1 das Wesen des göttlichen Intellekts ausmacht, weil nur sie die für diesen vorauszusetzende absolute Irrtumsfreiheit gewährleistet.87 Wenn das „Wir“ in der intelligiblen Welt also eine irrtumsfreie Erkenntnis der intelligiblen Objekte hat, die zugleich Selbsterkenntnis ist, dann ist es Intellekt. Plotin deutet mit keinem Wort an, daß er eine Differenzierung zwischen „Wir“ und Intellekt für notwendig hält, und eine solche ließe sich auf der Basis der Argumentation von VI 5 [23],7 auch nicht ohne Künstlichkeit durchführen. Zweitens notiert Plotin ausdrücklich, daß die ursprüngliche Einheit mit dem Intellekt nicht nur besonders fähigen oder privilegierten Menschen (etwa Philosophen), sondern allen Menschen zukommt. Auf der Ebene des Intellekts bilden sämtliche „Wir“ eine Einheit. Damit ist eben jene einheitlich-vielheitliche Struktur gemeint, die in VI 4 [22],4 mit aristotelischer Terminologie und in IV 3 [27],5 mit der anaxagoreischen „Alles zusammen“ -Formel beschrieben wurde. Wenn Plotin sie jetzt aus der subjektiven Perspektive des „Wir“ beschreibt, beweist das noch einmal, daß die Einheit aller Seelen im Intelligiblen nicht den Verlust des aus der Erfahrungswelt geläufigen individuellen Selbst bedeutet. Wohl aber deutet sich – im Sinne des für immaterielle Wesenheiten gültigen revidierten Individualitätsbegriffs – eine Integration der Anderen in das eigene Selbst im Sinne totaler gegenseitiger Transparenz an.88 Drittens charakterisiert Plotin dieses intelligible Selbst deutlich als Form. Der hier mit „also sind wir alle alles und sind eins“ eher paraphrasierte als übersetzte griechische Satz πάντα ἄρα ἐσμὲν ἕν verknüpft mit außerordentlicher sprachlicher Kühnheit drei Aussagen: 1. „Wir alle sind eins“, der aus dem vorhergehenden Satz folgende Gedanke der Einheit aller „Wir“ miteinander; 2. „Wir sind alles (d.h. alle platonischen Formen)“, die Einheit jedes individuellen „Wir“ mit der Totalität der Formen; 3. „Alle Dinge (d.h. alle platonischen Formen) sind eins“, die Einheit aller Formen im Intellekt. Diese drei Gedanken kombiniert Plotin zu einem einzigen Satz, der, wörtlich übersetzt, heißen müßte: „Wir, alle Dinge (d.h. alle platonischen Formen), sind eins.“ Hier sprechen gewissermaßen die platonischen Formen selbst und stellen ihre fundamentale Einheit fest; da aber der ganze umgebende Text in der ersten Person Plural steht, sprechen zugleich die individuellen „Wir“ der Menschen, denen auf diese Weise selbst der Status von Formen zuerkannt wird. Die eingangs für die Erkenntnisform des „Wir“ festgestellte Subjekt-Objekt-Identität ist also so zu deuten, daß das „Wir“ ein intelligibles Objekt im vollen Sinne ist und nicht lediglich ein Subjekt, das im Moment des Erkennens mit seinem Objekt eins wird. Mit anderen Worten: Das „Wir“ ist sowohl individuelle Form als auch Form eines menschlichen Individuums.
Das Problem, das die jüngere Forschung so sehr beschäftigt hat – die Abgrenzung dieser intelligiblen Individuen oder Seelen-Formen von den „echten“ platonischen Formen – scheint sich für Plotin hier nicht zu stellen. Es scheint aber auch nicht, daß das erforderlich wäre. Generell sind die platonischen Formen für Plotin ja Intellekte, die sich selbst als ein bestimmtes Seiendes (Mensch, Pferd) erkennen und zugleich alle anderen Formen und den Gesamt-Intellekt erkennen; genauer gesagt, sind sie der sich selbst erkennende Gesamt-Intellekt, der sich in jeder von ihnen als ein bestimmtes Seiendes denkt.89 Wie wir soeben sahen, gilt alles das auch für das intelligible „Wir“, die Individual-Form. Und speziell nach der Argumentation von VI 4-5 [22-23] ist in der Seele des Sokrates und in der Form des Baumes gleichermaßen das gesamte intelligible Sein präsent; die Differenz ist dadurch bedingt, daß Sokrates dieses auch nahezu als ganzes aufnimmt, während der Körper des Baums nur die Aufnahmefähigkeit für eine einzelne Form besitzt. Diese Konzeption wirft fraglos eigene Probleme auf, sobald man nach der Ursache der unterschiedlichen Aufnahmefähigkeit der Körper fragt. Doch hat das nichts mit der Unterscheidung von individuellen und überindividuellen Formen zu tun; die platonische Form des Baumes und die Individualform „Sokrates“ entfalten dieselbe Art von Kausalität.
Plotin gebraucht für den nicht herabgestiegenen Teil der individuellen Seele, dessen Identität mit dem Intellekt er an unserer Stelle herausarbeitet, den subjektiven Terminus „Wir“. Das ist kein Widerspruch zu anderen Passagen, an denen er das Wir auf der Stufe des diskursiven Denkens verortet90 oder sogar ausdrücklich feststellt, daß „Wir“ nicht der Intellekt sind.91 An diesen Stellen spricht Plotin von dem Selbstbewußtsein des empirischen Menschen, das wesentlich durch die Rationalität geprägt ist: Als Menschen sind wir per definitionem rationale Wesen und denken jederzeit diskursiv, während die noetische Erkenntnis für uns etwas Intermittierendes ist.92 In VI 5 [23],7 ist dagegen von jenem schon in der eingangs zitierten Passage aus VI 4 [22],14 erwähnten „Wir“ die Rede, das unser Selbst ist, bevor dieses durch den Zusatz des Körpermenschen verändert wird. In diesem Sinne sagt Plotin einmal, daß der empirische Mensch, um die wahre, nur auf der Ebene des Intellekts mögliche Selbsterkenntnis zu erreichen, „ein anderer“ werden muß.93 Nach allem, was wir bis jetzt über das Fortbestehen der menschlichen Individualität auf der Intellekt-Ebene festgestellt haben, kann damit sicher nicht gemeint sein, daß die noetische Selbsterkenntnis für das erkennende Subjekt den Verlust des „Wir“, seines individuellen Selbst, bedeutet. Gewiß verlangt Plotin eine radikale Neudefinition des Wir, von der der körperliche Zusatz-Mensch kein Teil mehr ist. Das bedeutet jedoch nicht, daß das bisherige Wir, das subjektive Bewußtsein des psychophysischen Menschen, vernichtet wird und das neue, rein intelligible Wir eine andere Person, ein anderes Ich ist; das Gegenteil muß der Fall sein, wenn die Aussagen von IV 3 [27],5 über das Fortbestehen der Person Sokrates in der Körperfreiheit gültig sind und wenn der Gedanke der Neudefinition des eigenen Selbst überhaupt einen Sinn haben soll. Freilich erfährt das intelligible „Wir“ gegenüber dem empirischen eine entscheidende Modifikation, deren spezifischer Charakter in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem für immaterielle Wesenheiten gültigen Individualitätsbegriff steht. Der Gebrauch der ersten Person erlaubt es Plotin, diese Modifikation subjektiv als die Erfahrung der Erweiterung des Ich-Bewußtseins zu beschreiben:
Freilich wird man sich selbst zunächst noch nicht als das All sehen; aber dann, wenn man nicht mehr weiß, welchen Standpunkt man einnehmen und wie man sich abgrenzen soll und bis zu welchem Punkt man selbst eigentlich geht, wird man darauf verzichten, sich ein- und vom Sein insgesamt abzugrenzen, und so in das gesamte All hineingelangen – nicht indem man in irgendeine Richtung fortschreitet, sondern indem man da bleibt, wo das All seinen festen Standort hat (VI 5 [23],7,13-17).94
Wenn man genau hinsieht, beschreibt dieser eindrucksvolle Text allerdings keine Erweiterung, sondern eine Entgrenzung des Selbst. Plotin spricht nicht von einer quantitativen Vergrößerung oder räumlichen Bewegung des Selbst (auch nicht metaphorisch); die letztere wird sogar explizit ausgeschlossen. Um der Intellekt und alle Formen und alle anderen „Wir“ zu werden, muß man lediglich darauf verzichten, seinem eigenen Ich die Grenzen zu setzen, die man sich aufgrund der Gewöhnung an die Körperwelt üblichererweise setzt, die sich aber als willkürliche, der wahren Natur des Ich nicht entsprechende Beschränkungen erweisen, sobald man die Kriterien des wahren, intelligiblen Seins zugrundelegt.
Es ist wohl kaum zu vermeiden, daß man mit Plotins Ideal eines absolut körperfreien, rein intelligiblen Daseins die Vorstellung des Verlusts der eigenen Individualität assoziiert. Wir nehmen neben den rein intelligiblen Kriterien materiale Separation, Körperlichkeit, persönliche Geschichte und Erinnerung als Kriterien von Individualität an und betrachten das Wegfallen dieser Elemente auf der Ebene des Intelligiblen intuitiv als einen Verlust, durch den die Individualität und das Selbst überhaupt bedroht ist. Für Plotin stellt sich der Sachverhalt dagegen eher umgekehrt dar. In seinen Augen ist die Entstehung der empirischen aus der intelligiblen Individualität eben jener Sachverhalt, den er mit den Worten beschreibt: „Durch den Zusatz bist du weniger geworden“ (VI 5 [23],12,20f.). Körperlichkeit und Geschichte, die vermeintlich konstitutiven Elemente unserer Individualität, sind solche mindernden Zusätze zu unserem wahren Selbst; sie sind Begleiterscheinungen des platonischen Seelensturzes, d.h. des Hinzutretens des Körpermenschen zu „uns“. Ihr Hinzutreten ist gleichbedeutend mit dem Verlust einer viel reicheren Art von Individualität, die es nur unter nichtkörperlichen Bedingungen geben kann und und deren reduzierte, den Bedingungen von Raum und Zeit angepaßte Form unsere empirische Individualität ist. Kriterien dieser transzendenten Individualität sind einerseits das individuelle Ich-Bewußtsein und die Differenz zum Anderen; in dieser Hinsicht ist die empirische Individualität ihr Abbild. Andererseits impliziert sie zugleich mit der Differenz auch die Identität des Individuums mit allen anderen Individuen und mit der Gesamtheit des Seienden; und diese Identität kann in der empirischen Welt nicht erhalten bleiben, weil sie hier – wo Identität und Differenz einander ausschließen – den Verlust der Individualität bedeuten würde.
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1 Dieser Beitrag ist in französischer Übersetzung in der Zeitschrift Les études philosophiques erschienen (C. Tornau, Qu’est-ce qu’un individu? Unité, individualité et conscience de soi dans la métaphysique plotinienne de l’âme, Les études philosophiques 90, 2009: Plotin et son platonisme, 333-360; Online-Version: http://www.cairn.info/revue-les-etudes-philosophiques-2009-3-p-333.htm). Ich danke dem Verlag Presses Universitaires de France für die freundliche Erlaubnis, die deutsche Fassung an dieser Stelle zu veröffentlichen. Die Forschungsdiskussion und philologischen Detailbemerkungen in den Fußnoten sind gegenüber der französischen Fassung stark gekürzt. Riccardo Chiaradonna danke ich für die kritische Diskussion einer früheren Version dieses Artikels.
2 Übersetzungen aus Plotin stammen aus Tornau 2001 oder wurden für diesen Beitrag neu angefertigt.
3 VI 4 [22],14,22-26.
4 Pl. Alc. 130c; vgl. bes. IV 7 [2],1,1; 22-25; Dörrie/Baltes 2002a, 58f.; 251-253 (Baustein 157). Zu Plotins Exegese des Alkibiades vgl. zuletzt Aubry 2004, 15-32; Aubry 2007, 163-171.
5 I 1 [53],10,5-9: „Das ‘Wir’ ist also etwas Zweifaches – entweder wird das wilde Tier mit dazugerechnet, oder es ist nur das, was bereits über diesem steht. Und das Tier ist der mit Leben versehene Körper ; der wahre Mensch ist dagegen etwas anderes, er ist von all dem rein und besitzt die im geistigen Erkennen liegenden Tugenden, diejenigen also, die ihren Standort in der sich vom Körper trennenden Seele selbst haben ...“ Zu dieser Stelle: Aubry 2004, 273-286. Vgl. I 1 [53],7,17-24; II 3 [52],9,30f.; V 3 [49],4,7-13 (Doppeltheit des Menschen mit Bezug auf die Selbsterkenntnis; dazu Corrigan 2000, 165f.); IV 3 [27],31,15 („das Zweifache unserer Seelen bleibt uns verborgen“). Plotins Philosophie des Selbst hat entsprechend dem Interesse der modernen Philosophie an den Fragen von Subjektivität und Reflexivität einige Aufmerksamkeit in der Forschung erhalten. Grundlegend ist O’Daly 1973 (Besprechung der relevanten Textstellen). Vgl. außerdem Gerson 1994, 139-151 („ideal self“ versus „endowed self“); Beierwaltes 2001, 84-122; Perkams 2008, 305-335 (Einordnung in die Entwicklung der Philosophie des Selbst im Neuplatonismus bis zu Damaskios). Remes 2007 behandelt Plotin vom Standpunkt der Gegenwartsphilosophie aus und mit deren Fragestellungen und untersucht Aspekte wie „self-awareness“, „mental connectedness“ und „self-knowledge of the thinking thing“; sie arbeitet durchweg die Bewußtseinskontinuität zwischen niederem und höherem Selbst und die Einheit des „Wir“ heraus (vgl. z.B. 123f.). Sorabji 2006 bietet eine umfassende Darlegung antiker Ideen zum Selbst; zur platonischen Tradition und zu Plotin vgl. bes. 115-136.
6 Vgl. VI 4 [22],14,29-31; 15,35-40. Zu VI 4 [22],14 vgl. meinen Kommentar, Tornau 1998a, 266-276; Remes 2007, 9; Aubry 2008a, 281-285.
7 Dieser Punkt wird vielleicht etwas überbetont von Aubry 2004, 22-32; 41-59 („Un sujet sans identité“), die so weit geht, das „Wir“ als „sujet non substantiel“ (ebd. 41) oder als reine Potentialität (Aubry 2007, 170) zu charakterisieren; kritisch dazu Chiaradonna 2008, 282-284.
8 Gelegentlich steht allerdings auch die erste oder zweite Person Singular (IV 3 [27],5,1; IV 9 [8],1,6; IV 9 [8],2,7; IV 7 [2],6,18f. nach Arist. de an. 3,2, 426b19).
9 Zum Problem der Erinnerung vgl. IV 3 [27],25-IV 4 [28],8; Brisson 2006; Remes 2007, 111-119. Zu der anscheinend durch Epikur und Stoa angeregten modernen Privilegierung der Erinnerung bei der Konstitution des Selbst etwa bei John Locke vgl. Sorabji 2006, 94-111.
10 Vgl. bes. IV 8 [6],8,1-6 und dazu Dörrie/Baltes 2002b, 32-35; 202-204 (Baustein 172.3); D’Ancona al. 2003, 47-65; 205-208. Zur Metapher des Amphibiums vgl. IV 8 [6],4,31-35.
11 Vgl. die Zusammenfassung bei Chiaradonna 2005a, 27-34.
12 Dies ist vielfach festgestellt worden, vgl. z.B. Beierwaltes 1981, 73. Zum exegetischen Aspekt vgl. auch Szlezák 1979, 167-205; Szlezák 2000.
13 Vgl. Chiaradonna 2005a, bes. 38f.; Chiaradonna 2006, 75f.
14 Vgl. Linguiti 2000, 43-52; Linguiti 2001.
15 Vgl. IV 3 [27],2,8-10; 5,9-21. Zur Problematik der Einheit aller Seelen vgl. IV 9 [8] passim; VI 4 [22],1 und 6; IV 3 [27],1-8.
16 Pl. Phd. 79d-e.
17 Kontinuität: IV 3 [27],5,11 (συναφεῖς). Nichtabgeschnittensein (μὴ ἀποτετμῆσθαι): VI 4 [22],14,21; VI 9 [9],9,6-8 etc. Vgl. V 3 [49],12,44f.: „Denn das von ihm Kommende ist weder von ihm abgeschnitten noch mit ihm identisch.“
18 Zu den Diskussionsbeiträgen der letzten Jahre zählen: Helleman-Elgersma 1980, 338-345 (im Kommentar zu IV 3 [27],5); Gerson 1994, 72-78; Blumenthal 1996; Ferrari 1997; Kalligas 1997a; O’Meara 1999; Morel 1999; Petit 1999; D’Ancona 2002; Remes 2007, 59-91; Aubry 2008a, 277f.
19 Vgl. bes. Pl. R. 10,596a: „Wir setzen ja für gewöhnlich je eine einzige Form für jede Vielheit von Dingen an, denen wir denselben Namen geben.“
20 Vgl. O’Meara 1999; Alcin. Did. 9, p. 163,23-28: „Man definiert die Form als das ewige Vorbild der von Natur aus bestehenden Dinge. Denn die meisten Platoniker nehmen keine Formen von künstlichen Gegenständen [...], von widernatürlichen Dingen [...] oder von Individuen wie z.B. Sokrates oder Platon an ...“. Vgl. Dörrie/Baltes 1998, 20-23; 240-246 (Baustein 127.4).
21 Die Bedeutung des plotinischen höheren Selbst für die Frage der Individualformen hat zuerst A.H. Armstrong in einem noch immer lesenswerten Aufsatz herausgestellt (Armstrong 1977, 57-60).
22 Vgl. Kalligas 1997a, 211f.
23 Die meisten Übersetzungen geben die hier mit „eh bien“ übersetzte Antwortpartikel ἢ in zu stark affirmativer Weise wieder: „Oui“ (É. Bréhier), „Oui, c’est le cas“ (L. Brisson/J. Laurent/A. Petit), „Yes“ (Armstrong). Treffender ist m.E. „Nun“ (Harder/Beutler/Theiler) oder „surely“ (C. D’Ancona). Vgl. D’Ancona 2002, 532 mit Anm. 37.
24 Kalligas 1997a, 217 („soul-forms“); 220f. Skeptisch gegenüber der Annahme von Seelen-Formen ist Remes 2007, 76-85. Blumenthal 1996, 100f. hält die Frage, ob der höchste Seelenteil bei Plotin Intellekt oder Seele ist, für nicht entscheidbar. Zur Identität der nicht herabgestiegenen Seele mit den Formen von Individuen vgl. ausführlich Ferrari 1997, 47-53. Ferrari liest die Schrift V 7 [18] insgesamt als eine Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten, die entstehen, sobald man das Verbleiben der höchsten Seelenteile im Intelligiblen unter dem Aspekt der Frage nach Formen von Individuen betrachtet; hieraus erkläre sich der aporetische Charakter der Schrift und das Fehlen jeder positiven Argumentation für die Existenz von Individualformen (ebd. 46f.; 52; 61). Leider hat diese Erklärung, die viele Probleme der Schrift löst, in der Forschung wenig Beachtung gefunden.
25 V 1 [10],11,6; V 8 [31],3,17.
26 D’Ancona 2002, 542-552 mit Hinweis auf V 3 [49],4,15-19 (wo allerdings auch der transzendente Intellekt gemeint sein kann), V 1 [10],11,1-6, III 4 [15],3,21-27 und I 1 [53],8,1-8: „Und wie verhalten wir uns zum Geist? Mit Geist meine ich hier nicht die Haltung, die die Seele einnimmt und die nur etwas vom Geist Herkommendes ist, sondern den Geist selbst. Nun: Auch diesen haben wir, und zwar oberhalb von uns. Wir haben ihn aber entweder gemeinsam oder jeder für sich allein oder so, daß man ihn sowohl mit allen gemeinsam als auch für sich allein hat: gemeinsam, weil er unteilbar und eins und überall derselbe ist, für sich allein, weil ihn trotzdem jeder in seiner ersten Seele ganz besitzt.“
27 Vgl. bes. D’Ancona 2002, 560: „The solution to this problem lies in that [...] there are not only Forms in the intelligible realm, but Forms and souls, which are present ἐν τῷ νοητῷ through their intellectual part or aspect – that part or aspect which will be called, later on, the apex mentis.”
28 Plotin würde dann einen „Monopsychismus“ oder eine Art Averroismus avant la lettre vertreten (D’Ancona al. 2003, 57 Anm. 127; D’Ancona 2006, 22f.).
29 D’Ancona al. 2003, 57-64; vgl. D’Ancona 2006, 22-28.
30 Daß das der Fall ist, arbeitet C. D’Ancona selbst anhand von Texten wie IV 8 [6],1,1-11 heraus (D’Ancona 2002, 521-533; vgl. auch D’Ancona al. 2003, 131-137).
31 Das ist das Ergebnis der Argumentation von V 3 [49],1-5; vgl. V 3 [49],2,23-25; 3,15-18; 6,1-5 („Die Argumentation hat also gezeigt, daß es etwas gibt, das sich im eigentlichen Sinne selbst erkennt. Dieses erkennt in einem anderen Sinne, wenn es in der Seele ist, im eigentlichsten Sinne aber im Geist. Denn die Seele erkennt sich selbst mit Bezug darauf, daß sie von etwas anderem kommt; der Geist dagegen erkennt, daß er er selbst ist, wie er selbst ist, was er selbst ist, aufgrund seiner eigenen Natur und indem er sich auf sich selbst zurückwendet“; V 3 [49],4,29-31 („Man ist aber selbst Geist geworden, wenn man alles andere von sich selbst weggelassen hat und diesen [= den Geist] durch diesen schaut und sich selbst durch sich selbst. Man sieht also sich selbst dadurch, daß man Geist ist“); Ham 2000, 128f.; 142f.; Beierwaltes 1991, 113. Zur Frage der Selbsterkenntnis und zur Schrift V 3 [49] vgl. Gerson 1997; Corrigan 2000; Beierwaltes 2001, 84-97; Crystal 2002, 179-205; Sorabji 2006, 201-211; Emilsson 2007, 144-160; Remes 2007, 156-175; Perkams 2008, 305-320 und die Beiträge zu Dixsaut al. 2002. Beierwaltes 1991 bleibt fundamental.
32 Es geht also letztlich darum, Aussagen wie V 3 [49],4,29-31 und I 1 [53],8,4-6 in einem starken Sinne zu verstehen.
33 Plotins wichtigste Termini für „Individuum“ und „individuell“ sind καθ’ ἕκαστα/καθ’ ἕκαστον (V 7 [18],1,1 etc.) und ἕκαστος (IV 7 [2],1,1: ἕκαστος ἡμῶν = „jeder individuelle Mensch“). Beide Termini können auch auf individuelle Seelen (IV 3 [27],8,13: ἑκάστη sc. ψυχή; IV 8 [6],4,1: τὰς δὴ καθέκαστα ψυχάς) und Intellekte bezogen werden (VI 7 [38],8,28: τοὺς καθ᾽ ἕκαστα νοῦς; V 9 [5],8,4: νοῦς ἕκαστος). Plotins Sprachgebrauch legt also durchaus nahe, daß es Individualität auch jenseits der sinnlich wahrnehmbaren Welt gibt. In der Schrift VI 1-3 [42-44] erscheint außerdem das aristotelische ἄτομον in der Bedeutung von „Individuum“ im Gegensatz zu „Art“ (εἶδος): VI 2 [43],2,8; VI 2 [43],12,11-13; VI 3 [44],1,15; VI 3 [44],9,37; vgl. VI 7 [38],17,22; Arist. Cat. 3a38f. Soweit ich sehe, bedeutet dagegen ἀμερής/ἀμέριστος trotz der etymologischen Nähe zu lat. individuus nirgends „Individuum/individuell“ in einem dem modernen Sprachgebrauch vergleichbaren Sinne.
34 Die im folgenden genannten Aspekte 1 und 3 unterscheidet auch Remes 2007, 62f.
35 Vgl. IV 3 [27],5,1.
36 Vgl. Morel 1999, 54.
37 Vgl. z.B. Arist. Metaph. Z 13, 1038b34-1039a7 (siehe unten). Zu Aristoteles’ Interpretation der platonischen Ideen als Allgemeinbegriffe vgl. Metaph. M 4, 1078b30-34.
38 IV 4 [28],1,17; VI 2 [43],20,6 und 11; I 8 [51],6,29 und 31. Sie war zu seiner Zeit freilich längst in die philosophische Sprache des Platonismus übergegangen, vgl. Alcin. Did. 5, 158,2f.
39 Individuelle körperliche Differenzen sind auch das Thema der in der Debatte um die Individualformen wohl meistkommentierten Passage, V 9 [5],12. Vgl. zuletzt Kalligas 1997a, 210f.; Ferrari 1997, 31-37; Vorwerk 2000, 157-163; D’Ancona 2002, 552-560; Remes 2007, 79-81; Schniewind 2007, 197-200.
40 Vgl. Pl. Prm. 130c; Ferrari 1997, 26-33; O’Meara 1999, 264f., der eine „standard list“ von Dingen nachweist, bei denen diskutiert wurde, ob es von ihnen Ideen gibt; auf diese Liste nimmt Plot. V 9 [5],9-13 Bezug. Eine umfassende Darstellung der Problematik mit Diskussion der wichtigsten Belegstellen bieten Dörrie/Baltes 1998, 70-78; 336-350 (Baustein 132).
41 Vgl. bes. VI 5 [23],2,6-9: „Wir aber müssen, wenn wir über das Eine und das, was in jeder Hinsicht ist, argumentieren, die dem Gegenstand eigenen Ausgangspunkte wählen, um Glaubwürdigkeit zu erreichen, und das bedeutet: bei geistig erkennbaren Gegenständen geistig erkennbare Ausgangspunkte und solche, die mit dem wahren Sein im Zusammenhang stehen. Die Rede von den „eigenen ... Ausgangspunkten“ ist – ironischerweise – ein Zitat von Arist. APo 1,2, 71b23; 72a6. Zu dem Kapitel VI 5 [23],2 und zur Frage der für die Erkenntnis der intelligiblen Welt adäquaten Prinzipien vgl. Tornau 1998a, 334-346; Chiaradonna 2002, 109f.; Chiaradonna 2006, 75f. Das Bestreben Plotins, die Formen in ihrem eigenen Wert („intrinsic value“) und nicht in Relation zu den Sinnendingen zu erkennen, hat schon Schroeder 1992, 3-23 mit großer Klarheit herausgestellt.
42 Vgl. bes. Plotins Satz-für-Satz-Exegese von Pl. Prm. 131a-b in VI 4 [22],2,17-25 und dazu Tornau 1998a, 48-52. Es ist aussagekräftig, daß Plotin die Frage, wovon es Ideen gibt, zwar diskutiert, die traditionelle Formulierung mit dem Genetiv („Ideen von etwas“; vgl. z.B. Alcin. Did. 9,163,25f.) aber vermeidet und lieber danach fragt, was „dort (ἐκεῖ) ist“ (V 9 [5],10,2f.; 13,1; vgl. 9,1).
43 Die Notwendigkeit, physische und intelligible Individualität zu unterscheiden, betont auch Morel 1999, 60.
44 Vgl. zu diesem Text Wilberding 2006, 45f.; Remes 2007, 35-40 (zum „Fließen“ der Einzeldinge und zu Plotins Version der Ontologie Platons).
45 Pl. Ti. 27d-28a; 37e-38b. Der Anklang an den Timaios zeigt deutlich, daß die Aussagen für das intelligible Sein als solches gelten, auch wenn es im Kontext um die intelligible Struktur der Seele geht.
46 Vgl. Arist. Metaph. Δ 6, 1016b31-33 (dort wie in IV 3 [27],8,26 die Wendung κατ’ εἶδος sc. ἕν). Zur Synonymie von numerischer Einheit und Individualität vgl. Metaph. B 4, 999b33-1000a1. Es stimmt also nur bedingt, daß Plotin „respinge il criterio aristotelico di individualità come τόδε τι“ (D’Ancona al. 2003, 61); richtig ist, daß Plotin eine Neudefinition dieser Individualität nach intelligiblen Kriterien verlangt (ebd.).
47 Pl. Ti. 29a; 52a; Phd. 78d etc.
48 Zum ewigen Bestehen der körperlichen Lebewesen nicht ἀριθμῷ, sondern nur εἴδει vgl. mit ganz ähnlichen Formulierungen II 1 [40],1,4-12; 2,1-4 und dazu Wilberding 2006, 104-106; 114.
49 An anderen Stellen kommt das durchaus vor, vgl. VI 6 [34],15,13-15.
50 Das bedeutet nicht, daß die platonische Form bei Plotin die Funktion des Allgemeinen gar nicht mehr erfüllt. Wie die Schrift VI 4-5 [22-23] zeigt, muß ihre Allgemeinheit aber im Sinne des Paradoxons von Pl. Prm. 131a-b gedacht werden, d.h. als ihre ungeteilte Allgegenwart bei allen Sinnendingen als Individuum. Vgl. z.B. VI 5 [23],11,31-34: „Und was gegenwärtig ist, das ist überall der Zahl nach identisch, nicht so wie das materiegebundene Dreieck, das in Vielen mehreres ist, sondern wie das materiefreie Dreieck selbst, von dem die in der Materie befindlichen Dreiecke ausgehen.“ Vgl. D’Ancona 2002, 539f., deren Schlußfolgerung ich allerdings nicht teilen kann: „in order to be an intelligible something must be omnipresent in the set of things named after it, which implies that by no means it can be an individual“ (540). Da nach VI 4-5 [22-23] mit dem immateriellen Dreieck zugleich die gesamte intelligible Realität präsent ist, stellt sich vielmehr die Frage, wie es zur Individualisierung des immateriellen Dreiecks kommt; hier kommt das schwierige Konzept der Aufnahmefähigkeit (ἐπιτηδειότης) der Körper ins Spiel (vgl. Tornau 1998a, 61-65; Aubry 2008b).
51 Arist. Metaph. Z 11, 1037a15 u.ö. Riccardo Chiaradonna hat in mehreren Arbeiten für mich überzeugend dargelegt, daß Plotin den aristotelischen Begriff der sinnlichen Substanz radikal in Frage stellt (vgl. bes. Chiaradonna 2002, 55-146; ähnlich schon Wurm 1973). Es gibt aber auch andere Auffassungen (Horn 1995; de Haas 2004; Thiel 2004, 176-218).
52 V 9 [5],13,1-7.
53 Zum illusionären Charakter der „sinnlichen Substanzen“ vgl. die Spiegelmetaphorik von III 6 [26],7.
54 Dies wirft Plotin den Gnostikern in II 9 [33],15 vor. Zum Ausdruck „von Natur aus erlöst“ für die gnostischen Pneumatiker vgl. Clem. Al. exc. ex. Theod. 56,3.
55 Vgl. bes. VI 4 [22],12,34-37: „Sie war ja nicht vorab so zubereitet, daß ein einzelner, genau hier liegender Teil von ihr in den betreffenden Körper eingetreten ist; sondern dasjenige, von dem es heißt, es sei „hergekommen“, war in allem in sich selbst und ist immer noch in sich selbst, auch wenn es so scheint, als ob es erst hierher gekommen sei.“
56 VI 4 [22],16, im Rahmen einer Exegese der platonischen Mythen von Seelenabstieg und Totengericht.
57 Vgl. V 1 [10],8,26 mit Zitat von Pl. Prm. 155e.
58 VI 4 [22],4,27-32 mit Zitat von Pl. Ti. 35a; der Vergleich mit dem Sonnenlicht in IV 3 [27],4,16-21.
59 Vgl. zu diesem Text zuletzt Dörrie/Baltes 2002a, 82; 284f.; 288-292 (Baustein 160.5), die ihn auf die nicht herabgestiegene Seele und deren Identität mit dem Göttlichen, d.h. dem Intellekt, beziehen. Vgl. auch Tornau 1998a, 108-114.
60 Vgl. IV 2 [4],1,11-17.
61 In IV 7 [2],82,2-7 setzt er sie gegen die stoische Theorie der totalen Durchmischung der materiell gedachten Seele mit dem Körper ein. Vgl. dazu Chiaradonna 2005b, 137-141, der auf GC 1,10, 327b22-32 als Parallele hinweist; der Gedanke wird dort ausführlicher entfaltet als in der Metaphysik, aber die uns interessierende Übertragung auf das Verhältnis von Individuum und Allgemeinem fehlt.
62 Metaph. Z 13, 1038b34-1039a2, siehe oben.
63 Es ist daher etwas mißlich, daß D’Ancona 2002, 530 Anm. 32 diesen Aspekt ausdrücklich ausspart.
64 So tendenziell Aubry 2008a, 280f.
65 Ein solcher Zug ist die Analogisierung der Rolle der Seele im Körper-Seele-Kompositum mit einer Lichtquelle (vgl. bes. I 1 [53],7,1-6; dazu Aubry 2004, 196-204; Marzolo 2006, 128-134), womit die Seele weit aus dem Menschenwesen hinausgerückt wird (vgl. Tornau 1998a, 221f.). Ein anderer ist die Theorie der Reinkarnation, die der Platoniker Plotin akzeptiert und die er ausdrücklich als eine Schwierigkeit für die Annahme von Individualideen benennt (V 7 [18],1,5-7). Legt man freilich Plotins revidierten Individualitätsbegriff zugrunde, der die Inklusion des Anderen impliziert und körperliche und historische Kriterien ausschließt, so ist es zwar paradox, aber akzeptabel, daß Sokrates und Pythagoras dasselbe Individuum sind. Zuzugeben ist, daß die historischen Individuen Sokrates und Pythagoras damit kontingent werden. Eine Lösung dieses Problems hat Plotin vielleicht mit der Erklärung körperlicher Differenzen durch λόγοι in V 7 [18], mit der rangmäßigen Differenzierung der präexistenten Seelen in IV 3 [27],8,5-17 und – soweit es um die Sinnhaftigkeit von Geschichte überhaupt geht – mit der Providenzlehre von III 2-3 [47-48] versucht.
66 Es handelt sich um einen Rückbezug zu ἐξ ἐκείνου in IV 3 [27],4,15, das sich auf die Seelenhypostase bezieht.
67 Dieselbe Formulierung steht am Anfang der Schrift über die Individualformen (V 7 [18],1,3).
68 Der platonische Terminus technicus für die Idee, vgl. Pl. R. 7,532a-b und häufig.
69 Dieser Text wird traditionell im Zusammenhang mit der Frage der Formen von Individuen diskutiert, vgl. Kalligas 1997a, 222f.; Ferrari 1997, 50f.; Remes 2007, 87f.
70 IV 3 [27],5,14 nach Anaxagoras fr. B 1 DK; vgl. VI 4 [22],14,4 und 6 und mindestens 15 weitere Belege.
71 Vgl. IV 3 [27],4,9-14.
72 IV 3 [27],5,13f.
73 Vgl. I 2 [19],3,28-30; V 1 [10],3,7-9; SVF 2, fr. 135 etc.; Brisson 1999; Tornau 1998b. Im gegenwärtigen Kontext kann es sich um den Übergang vom noetischen Erkennen zum diskursiven Denken handeln, falls das letztere der nicht körpergebundenen Seele zukommt (vgl. IV 3 [27],18,10-13; zur Assoziation von diskursivem Denken – λόγος – und Teilung vgl. VI 5 [23],2,1-5).
74 So Kalligas 1997a, 222 Anm. 62; Kalligas 1997b. Zur Frage der Teilung der Seele vgl. Emilsson 2005 (besonders mit Blick auf die Schrift IV 2 [4]).
75 Eine klare Beschreibung dieser Analogie einschließlich der kausalen Ableitung der Einheit-Vielheit der Seele aus derjenigen des Intellekts findet sich in IV 8 [6],3,6-13. Vgl. D’Ancona al. 2003, 39f.
76 Plotin selbst läßt uns also erkennen, daß nicht erst „the contemporary reader“ (Remes 2007, 246) bei seinen Beschreibungen der vom Körper befreiten Seele Unbehagen empfindet.
77 C. D’Ancona (2002, 542f.; vgl. D’Ancona al. 2003, 61) schlägt vor, unter „Sokrates“ in diesem Text den Sokrates des Phaidon zu verstehen, der sich ausdrücklich nicht mit seinem Körper, sondern seiner unsterblichen Seele identifiziert (115c-116a); dagegen argumentiert Chiaradonna 2008, 286 Anm. 29, der in „Sokrates“ lediglich das übliche Standardbeispiel für einen individuellen Menschen erkennen will.
78 Vgl. Ferrari 1997, 51. Anders Aubry 2008a, 280f.; 284, die die Vielheit des Intellekts als „principe de distinction“ anerkennt, das „principe d’individuation“ aber erst im körperlichen Bereich ansetzt, weil die „conscience“ des „individu incarné“ auf der Stufe des Intellekts nicht erhalten bleibe. Nikulin 2005, 302-304 will m.E. zu Unrecht in der „logical difference“ von V 7 [18],3,7-13 das principium individuationis der Seelen erkennen: An dieser Stelle ist nicht von individuellen Seelen, sondern von individuellen körperlichen Differenzen die Rede (vgl. Ferrari 1997, 44f.).
79 VI 4 [22],1,2f.; IV 1 [21],8-12; IV 3 [27],5,11-13. Die Körpergebundenheit ist für jede Seele etwas Kontingentes (IV 3 [27],2,8-10); das muß auch für die sinnliche und die vegetative Seele gelten, für deren Unsterblichkeit Plotin in IV 7 [2],85 argumentiert (vgl. Tornau 2005). Einen Überblick über Plotins Exegese von Pl. Ti. 35a gebe ich in Tornau 1998a, 18-21.
80 Plotin erwähnt diese traditionelle Definition z.B. in VI 7 [38],4,11.
81 Vgl. VI 5 [23],6,13-15: „Denn das Weiße ist auf eine andere Art und Weise überall, als die Seele jedes einzelnen Menschen in allen Teilen des Körpers identisch ist; wenn nämlich gilt, daß das Sein überall ist, dann in dem letztgenannten Sinne.“ Die ganze Argumentation von VI 4-5 [22-23] macht deutlich, daß das nicht nur ein Vergleich oder eine Analogie ist.
82 Damit muß der individuelle Intellekt im Gegensatz zu dem vor allem auf der Ebene der rationalen Seele beheimateten „Wir“ gemeint sein (vgl. V 3 [49],3,23-29; I 1 [53],7,16-18). Die Terminologie ist vom Alkibiades inspiriert (133d), doch markiert sie bei Plotin eine sehr viel engere Verbindung zwischen Seele und Intellekt als sie der Alkibiades zwischen Seele und Körper annimmt. Vgl. I 6 [1],6,16-18; IV 4 [28],2,20-22.
83 Damit muß die Hypostase Seele gemeint sein.
84 Vgl. hierzu Tornau 1998a, 390-394; Ferrari 1997, 51f., der m.W. bislang als einziger die Bedeutung dieses Textes für die Frage der Individualideen hervorgehoben hat. Ich kann die Interpretation von Aubry 2008a, 280 nicht teilen, die in VI 5 [23],7 einen Beleg dafür sieht, daß beim Aufstieg des Selbst zum Intellekt das individuelle Ichbewußtsein verlorengeht.
85 Vgl. VI 9 [9],7,33f.: „Wer sich selbst erkannt hat, wird auch wissen, woher er stammt.“
86 Daß die reale Einheit des „Wir“ mit dem Intellekt ihrer Bewußtwerdung im Aufstieg vorausliegt, zeigt auch VI 5 [23],12,18f.: „weil du ... auf das „So viel“ verzichtet hast und stattdessen jetzt alles bist, wenngleich du auch zuvor schon alles warst“.
87 Vgl. bes. V 5 [32],1,1-6; 50-68; Emilsson 1996; Chiaradonna 2008, 279-281.
88 Zur gegenseitigen Transparenz der intelligiblen Wesenheiten vgl. bes. V 8 [31],4,3f.: „und so sehen sie alle Wesen, nicht solche, die Werden bei sich haben, sondern nur solche, die Sein haben, und in den anderen sehen sie sich selbst. Es ist ja alles transparent ...“
89 Vgl. V 9 [5],8,1-4: „Wenn also das Denken auf etwas innen Liegendes gerichtet ist, dann ist jenes, das innen Liegende, die Form, und das ist die Idee. Was ist das also? Geist und das geistige Sein, wobei jede Idee nicht verschieden vom (Gesamt-)Geist ist, sondern jede ist Geist“ (Übers. M. Vorwerk). Daß man das wörtlich nehmen darf, zeigt eine Passage wie VI 7 [38],9,25-38, wo das Denkobjekt (also die Form) klar als der sie denkende Teil-Geist und als Denkakt beschrieben wird (vgl. Hadot 1988, 238f.). Gerson 1994, 55 (gefolgt von Remes 2007, 168f.) bevorzugt eine minimale Interpretation von V 9 [5],8, um die Subjektivierung des Denkobjekts zu vermeiden (vgl. auch Gerson 1997, 168). Daß die Formen lebendige, denkende Wesen sind, ist indessen für einen Platoniker keineswegs absurd angesichts von Pl. Sph. 248e.
90 I 1 [53],7,16f.: „... Denkvorgänge, Meinungen und geistige Erkenntnisse, und hier sind wir mehr als irgendwo sonst“. Vgl. V 3 [49],3,35f.
91 V 3 [49],3,31. Vgl. Beierwaltes 1991, 105f.
92 V 3 [49],3,27-29: „Deswegen nutzen wir ihn (= den Geist) und nutzen ihn nicht – das rationale Denken dagegen nutzen wir immer –, und er gehört zu uns, wenn wir ihn nutzen; nutzen wir ihn nicht, gehört er nicht zu uns.“ Zum Kapitel V 3 [49],3 vgl. Ham 2000, 116-122; Beierwaltes 1991, 103-106.
93 V 3 [49],4,10-12: „Sich selbst zu erkennen, bedeutet für ihn nicht mehr, sich als Menschen zu erkennen, sondern so, daß er ein ganz anderer geworden ist ...“. Ham 2000, 54 Anm. 36 merkt zu Recht an, daß „Mensch“ hier für die diskursive Vernunft, nicht aber für das „Wir“ steht. Den Aspekt der Transformation betont Beierwaltes 1991, 107f.
94 Vgl. zu diesem Text Tornau 1998a, 398-400. Verwandte Beschreibungen finden sich in VI 5 [23],12,7-29 (dort unter Verwendung der zweiten Person Singular); V 8 [31],11,1-13.