Die Waffen des Westens

Jan Roß über die Zukunft der westlichen Staaten

Jan Roß: Was bleibt von uns? Das Ende der westlichen Welt­herrschaft. Berlin (Rowohlt): 2008. 221 Seiten. EURO (D) 17,50. ISBN: 9783871345968.

von Daniel Krause

„Hätte auch alles ganz anders kommen können? Fünfhundert Jahre nachdem Kolumbus in Amerika gelandet und Vasco da Gama [...] in den Indischen Ozean gesegelt ist, wirkt die Welteroberung durch den Westen wie eine lange, un­unterbrochene Erfolgsgeschichte, womöglich wie ein gesetzmäßiger Prozess. [...] Historiker der westlichen Erfolgsgeschichte haben seit langem gesehen, wie wenig selbstverständlich der Weg Europas zur globalen Dominanz zumindest in den An­fängen gewesen ist. Andere Weltgegenden waren bevölkerungsreicher, mit frucht­bareren Böden und größeren Schätzen gesegnet, mit eindrucksvolleren Tradi­tionen wohlorganisierter und machtvoller Staatlichkeit, während das Abendland seit dem Untergang des Römischen Reichs politisch zersplittert blieb. Andere war­en auch schneller, sich etwas Neues auszudenken: Kompass, Porzellan, Papier, Schießpulver, Druckerei sind chinesische Erfindungen. Noch zu Beginn des 19. Jahr­hunderts [...] entfielen auf China etwa 30 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, auf Indien knapp 15; ganz Europa trug 15 und die Vereinigten Staaten trugen 2 Prozent bei.“ (S. 88ff)

Jan Roß (DIE ZEIT) zählt zu den wenigen Journalisten, die über einen per­sön­lichen ‚Sound’ verfügen. Sätze aus Roß’ Feder sind als solche deutlich er­kennbar, am Satzbau: unkompliziert – aber komplex –, voll rhyth­mischer Frische und Lebendigkeit. Jan Roß bevorzugt Parataxen – das garantiert ein schwungvolles Lesetempo. Auch hat sich Roß angewöhnt, recht konsequent auch Hauptsätze mit Konjunktionen einzuleiten: Nach Punkten stehen „aber“ und „oder“. „Und“ davon profitiert der Lesefluss er­heblich: Der Leser wird über Satzgrenzen hinweggetragen, als seien sie nichts: Roß’ Prosa bewegt sich im permanenten Andante, unaufgeregt, un­angestrengt.

Ein Weiteres: Jan Roß hat die traditionell aufklärerisch, durchaus ag­nost­isch, mindestens protestantisch, profilierte ZEIT gewiss nicht krypto-kath­ol­isch umformen können (und wollen). Vatikanische Hofberichterstattung nach Heinz-Joachim Fischers Art (Frankfurter Allgemeine) findet in der ZEIT bis heute nicht statt. Wieviel Respekt und Sympathie gegenüber der Institution Kirche Roß’ Beiträgen zur ZEIT innewohnt, ist dennoch be­merkenswert und dürfte ohne Beispiel sein in der Geschichte dieses Blatts. Erstaunlich auch dies: Jan Roß ist Katholik – und ZEIT-Experte für Fragen der Weltpolitik, des Kriegs und der Macht. Das nüchterne real­polit­ische Kalkül – samt idealpolitischer Aspirationen und Sympathien für Bushs Neocons –, die Neigung zu Amerika muss unter katholisch-pazifist­ischen Auspizien überraschen. Kein Zufall, dass Roß’ Verehrung besonders Johannes Paul II. gilt, dem politisch ambitioniertesten und machtbe­wusst­esten Papst der jüngeren Geschichte.

Was bleibt von uns? Das Ende der westlichen Weltherrschaft. Dies ist ein bei Roß durchaus ungewohnter apokalyptischer Ton. Auf 200 Seiten wird eine dichte, gedrängte Bestandsaufnahme der weltpolitischen Lage ge­bot­en, deren Herleitung aus der Geschichte – Spengler, Toynbee, Huntington kommen zu Wort – und eine Vorausschau auf künftige Entwicklungen. Dass Roß’ Prosa sich trotz solcher vermeintlich hypertrophen Bestreb­ung­en leicht und entspannt gibt, ist eine beachtliche, auch literarische Leist­ung.

Wie konnte der vielfach unterlegene Westen zur Weltherrschaft auf­steig­en?

„Kein anderer Gott [...] hatte seinen Gläubigen wie der jüdisch-christ­liche gesagt: ‚Macht Euch die Erde untertan.’ Nach außen ist die abend­ländische Emanzipations- und Aufklärungsgeschichte die Geschichte einer bei­spiellosen Angriffslust und niederwalzenden Expansivität gewesen.“ (S. 97) Dies mag erklären, woher der Drang zur Expansion rührt. Aber wo­durch war Europa befähigt, Tatsachen zu schaffen, die Welt nach seinem Bilde umzuformen? Roß’ vorderhand über­rasch­ende Antwort: Europas Schwäche – die innere Spaltung, Desintegration – ist seine Stärke: „Nicht Machtkonzentration, sondern Machtteilung und Machtbegrenzung war die Grundformel Europas. [...] Nur im Abendland hat sich, wieder dank der Grenz­en der Fürstenmacht, die Stadt als Lebensform und sozialer Organismus [...] ent­wickelt. Machtteilung auch spirituell und weltanschaulich: [...] der Stifter des Christentums [ist] von der Staatsmacht hingerichtet worden [...]. Immer Spalt­ungen, Spannungen, Dualismen: Papst und Kaiser, Kirche und Staat, Geist und Macht [...]. Die Geschichte Europas ist eine Geschichte des ‚Aber’, des ‚Anders’, des ‚Nein’. Etwas muss diese Freiheitstendenz zu tun haben mit Kräften und Insti­tutionen, die zu den Wesensmerkmalen der modernen Welt geworden sind: der Markt­wirtschaft, dem Pluralismus der offenen Gesellschaft, dem politischen System der Gewaltenteilung und Volkssouveränität, der mathematischen und ex­peri­­mentellen Naturwissenschaft, die das Fundament einer immerwährenden tech­no­logischen Revolution bildet. Trotz aller Entdeckungen anderswo: Nur in Europa ist jene nimmermüde Innovations- und Anwendungsmaschine ins Laufen ge­kommen [...], getrieben von einer andernorts unbekannten Dynamik aus Ratio­nalität, Machbarkeitsglauben und kontrollierter, systematischer Neugier und Gier.“ (S. 95ff)

Als Legitimationsgrundlage des Kolonialismus dient das Bewusstsein zivili­sa­torischer Überlegenheit. Aus diesem ergibt sich der Auftrag, die übrige Welt zwangszubeglücken: The White Man’s Burden. Just darin liegt, so Roß, die Krux des Expansionismus: Die westlichen Mächte geben der übrigen Welt technologische Mittel an die Hand, die ihr erlauben, die Herr­schafts­verhältnisse zu revidieren, Japan, China, Indien sind die schlag­endsten Beispiele.

Die westlichen Staaten mögen, so Roß, dafür sorgen, dass über die Technik hinaus, ‚ihre’ Normen – z. B. Demokratie, Rechtssicherheit – uni­ver­selle Geltung erlangen. Ein entferntes Vorbild könne der antike Hellenismus sein: Griechenland war politisch (militärisch, ökonomisch) zur non-entity herabgesunken, Rom, Karthago und asiatische Großreiche dominierten die Szene. Kulturell war Griechenland praeceptor mundi: Zwischen Gibraltar und Indien gingen griechische Lebens- und Denk­formen mit autochthonen Überlieferungen unentwirrbare Mischungen ein. Ähnlich könnten sich westliche mit asiatischen und afrikanischen Tradi­tionen verbinden, durch Handel und Wandel, gewiss nicht durch Krieg. Es entstünde eine anglophone Ökumene. Der Westen hätte – mit anderen Waffen: soft skills – weltweiten Einfluss gewonnen, ohne politisch noch zu dominieren.

Gewiss: Dies sind Mutmaßungen. Sie bleiben unbeweisbar, und 200 Seiten reichen nicht hin, welthistorische Zusammenhänge gründlich zu ent­wickeln. Roß dies zum Vorwurf zu machen, wäre allerdings Bigotterie: Essais müssen ‚raffen’. Für dihäretische Exerzitien, für den Kult des Details ist kein Raum. Statt dessen: Prägnanz, Übersicht, Weite des Blicks. In diesem Sinne hat Jan Roß Erstaunliches geleistet.

„Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts [...] entfielen auf China etwa 30 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, auf Indien knapp 15; ganz Europa trug 15 und die Ver­einigten Staaten trugen 2 Prozent bei. Erst neuerdings, mit dem ökonomischen Boom und dem wachsenden politischen Selbst­be­wuss­tsein im ferneren und fernen Osten, sind diese exotischen Daten wirk­lich [...] wieder dramatisch aktuell ge­worden – als Ausblick auf eine mög­liche Zukunft. Jetzt gibt es indische und chi­nes­ische Kommentatoren, die den europäisch-amerikanischen Triumph als bloßes historisches Zwischenspiel und den gegenwärtigen Aufstieg Asiens als Wieder­­her­stell­ung des globalen Normalzustands darstellen [...].“ (S. 90)