Pflege des antirömischen Affekts

Wir waren Papst - Von der deutschen Lust an alten Zerrbildern

von Martin Lohmann

Joseph Ratzinger war in Deutschland nie wirklich beliebt. Jedenfalls nicht in der veröffentlichten Meinung. Irgendwie war man froh, dass er weit weg in Rom gelandet war. Obwohl: Er hatte für viele zu viel Einfluss unter Johannes Paul II. Seine genaue Theologie, seine präzise Intellektualität und seine Fähigkeit, falsche Entwicklungen unabhängig von ihrer süßen Anziehungskraft zu erkennen und zu markieren, störten. Selbst seine letzte Predigt als Kardinal irritierte, als er vor der Diktatur des Relativismus warnte und der Wahrheit, die mittels der Vernunft erkennbar sei, eine neue Chance reklamierte.

Doch dann geschah - für manche - das Unfassbare: Ratzinger wurde Papst. Der Kardinal wurde zu Benedikt XVI. Und siehe da, nach einer deutschen Schrecksekunde waren auch die Deutschen gezwungen, endlich einmal unverkrampft auf diesen Mann zu schauen - um zu entdecken, wie er wirklich ist. Von Wegen Panzerkardinal. Von wegen unnahbar. Von wegen nur verschlossen. Über Nacht wurden aus bisherigen Ratzinger-Gegnern einfühlsame Papstkenner. Urplötzlich war ein deutscher Star geboren. Die Nation jubelte mit, als eine große Schlagzeile ihnen das neue Credo ins Herz hämmerte: Wir sind Papst. Jetzt wünschen sich vermutlich viele von diesen am 19. April 2005 Neubekehrten und Erleuchteten die Feststellung: Wir waren Papst. Peinlich ist ihnen der Mann in Weiß, der so lange hilflos erschien in einer Zeit der Pannen. Von handwerklichen Fehlern des Papstes wird geredet, Theologen fordern den Rücktritt des Deutschen auf der Cathedra Petri, und die Welt scheint jetzt zu wissen, dass man sich die Informationswege im Vatikan, wie es jemand formulierte, nicht ineffektiv genug vorstellen kann.

Der Vatikan - eine Burg der Intrigen und Weltfremdheit? Ein heiliger Ort voller Scheinheiligkeit? Der Papst als luzider Geist im Gestrüpp weltlicher Händel? Was läuft da eigentlich derzeit für ein Film ab? Ist der Papst wirklich so weltfremd, wie es den Anschein hat? Hat ausgerechnet ein aus Deutschland kommender Brückenbauer Brücken abgerissen? Mancher reibt sich die Augen und raut seinen Ohren nicht, wenn er liest und hört, wie sehr die Erregung täglich neue Höhepunkte erreicht - oder auch sucht. Papst, Traditionalismus, Antisemitismus, vorkonziliar, Israel, Holocaust, Gaskammern - alles wird in einen Topf der Empörung geworfen. Und mittendrin im Feuer des Sturmes ein offenbar hilfloser und verschüchterter Pontifex. Was ist da eigentlich los?

Es ist schon phänomenal, was sich jetzt alles entlädt über Benedikt XVI. Überall erscheinen eher unvorteilhafte Fotos des bis gestern noch umjubelten Papstes, alte Geschichten und Schlagwörter werden aus der Mottenkiste herausgeholt, und in Anlehnung an den einst so beschimpften Panzerkardinal wird dem Petrusnachfolger jetzt das Schild Panzerpapst umgehängt. Man hat fast den Eindruck, als gebe es einen Wettbewerb, wer wohl am schnellsten alte Giftbrühen auftauen kann, um sie - mit allen dumpfen Klischees aus Vergangenheit und Gegenwart angereichert - portionsweise nach Rom zu schleudern. Alles wird miteinander verrührt und geradezu böswillig zu einer üblen Brühe gemacht. Endlich hat vor allem die deutsche Seele wieder ein handfestes Feindbild: eben diesen alten und nichts als rückwärtsgewandten Meister der Theologie im vatikanischen Elfenbeinturm. Reflexartig schnellen manche in Deutschland in jene wirren Klischees zurück, an denen sie sich bis zur Wahl von Benedikt festhielten, die sich aber alle als Seifenblasen erwiesen haben. Frei nach dem Motto: Wir hatten ja doch Recht mit unserem Unrecht.

Dabei wäre es eine nicht allzu anspruchsvolle Leistung des Intellekts, wenigstens einmal zu versuchen, die Dinge auseinanderzuhalten. Da ist zunächst der Papst, der allen Vorurteilen über ihn zum Trotz ein Mann des Ausgleichs und der Versöhnung ist. Benedikt war und ist ein Freund des Judentums, ein entschiedener Gegner des Antisemitismus und ein Mann des Mutes. Es ist absurd, unfair und böswillig, ihn auch nur ansatzweise mit den verderblichen und menschenverachtenden Aussagen eines höchst verwirrten und verirrten Bischofs in Verbindung zu bringen. Denn dieser hat den katholischen Geist wahrlich nicht verstanden. Die großzügige Geste des Papstes, mit der er den verirrten Traditionalisten einen Weg zurück in die Weltkirche bahnen wollte, hat er vielmehr auf das Übelste und höchst primitiv beantwortet. Er hat wahrlich eine hoffentlich baldige Sonderbehandlung von Rom “verdient”.

Ebenso klar wie seine Haltung zu den Geschwistern aus dem Judentum ist des Papstes Bekenntnis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Es war ein gewisser Joseph Ratzinger, der damals den Kölner Kardinal und Konzilsvater Josef Frings beriet. Es war Ratzinger, der diesem Kardinal im Vorfeld des Konzils eine Rede schrieb, von der der Konzilspapst Johannes XXIII. lobend meinte, sie drücke genau aus, was er mit dem Konzil wolle. Benedikt XVI. ist der letzte wirkliche Konzilspapst, weil er als Joseph Ratzinger eben dieses Konzil mit vorbereitete und wesentlich mitprägen konnte. Beides wäre also absurd oder bösartig: ausgerechnet ihm einerseits ein Zurückfallen hinter das Konzil anzudichten wie auch ausgerechnet ihm eine mangelnde Sensibilität gegenüber den Juden.

Und was die Rücknahme der Exkommunikation betrifft, bleibt wahr: Dies ist der erste und ein großherziger Schritt, um den Abtrünnigen die Rückkehr zu ermöglichen. Und zwar mit dem Bekenntnis zum Konzil und mit der Absage gegen jeden Antisemitismus! Diese souveräne Klarheit gehört zur corporate identity des Katholischen. Richtig bleibt auch, dass die von der Exkommunikation Befreiten nach wie vor suspendiert sind, also weder als Priester noch als Bischöfe arbeiten dürfen. Jedenfalls nicht im Namen der römisch-katholischen Kirche in der Einheit mit dem Papst. Auch wenn der Weg zur Rücknahme der Exkommunikation lang und mühsam war, so war er doch ernsthaft von Rom aus vorbereitet. Ob es zur vollen Rückkehr der Kirchenrebellen kommen wird, scheint derzeit mehr als fraglich. Jedenfalls ist dieser Weg wohl noch sehr weit.

Dennoch: Es ist der Papst, bei dem sich alle berechtigte und unberechtigte Kritik bündelt. Seine Leute haben ihn falsch informiert, haben unglücklich und auch dumm gehandelt. Das trifft selbstverständlich auch Benedikt. Deshalb ist jedes klare, notfalls auch wiederholte Wort von ihm so wichtig und buchstäblich notwendig. Möglichst in Deutsch - damit es die Deutschen wenigstens hören. Es war gut und richtig, dass der Vatikan nun sehr deutlich den Holocaust-Lügner aufforderte, eindeutig zu wiederrufen. Es ist gut und richtig, dass gestern endlich an die Adresse der Ex-Exkommunizierten gesagt wurde, ohne eine Einheit mit dem Papst und der Lehre der Kirche, wozu auch das Zweite Vatikanische Konzil gehört, könne es eben keine wirkliche Einheit geben. Der Papst ließ also reagieren. Für ihn sind die dummen wie bösen Aussagen des Herrn Williamson “inakzeptabel”. Gut so! Unnötig hingegen waren vermeintlich kluge Worte ohne versuchte Differenzierung von Regierungschefinnen, die besser klug geschwiegen hätten. Hier gilt: Si tacuisses, philosopha mansisses.

Dem klugen und mutigen wie sensiblen Papst, der als oberster Verantwortlicher natürlich verantwortlich ist, bleibt zu wünschen, dass manche seiner Leute ihn nicht bald schon wieder irgendwo so sträflich reinreiten, wie es jetzt zu seinen Lasten und auf Kosten seiner Glaubwürdigkeit gemacht oder zugelassen wurde. Sie sind mitverantwortlich, wenn Fairness auf der Strecke bleibt. Denn Benedikt will vor allem Klarheit in Wahrheit. Er will klären und versöhnen. Darin unterscheidet er sich, wie man sieht, von vielen anderen. Leider. Die so lange n Deutschland bedienten und gepflegten Klischees über Ratzinger-Benedikt bleiben nichts als Verzerrungen.