David Benatar, BETTER NEVER TO HAVE BEEN. THE HARM OF COMING INTO EXISTENCE, Oxford University Press 2006, ISBN 0-19-929642-1, 237 Seiten

Vom Schaden des Existenzbeginns

von Karim Akerma

„Er sagte: ‚Die Menschen, die einen neuen Menschen machen, nehmen doch eine ungeheuere Verantwortung auf sich. Alles unerfüllbar. Hoffnungslos. Das ist ein großes Verbrechen, einen Menschen zu machen, von dem man weiß, dass er unglücklich sein wird, wenigstens irgendwann einmal unglücklich sein wird. Das Unglück, das einen Augenblick lang existiert, ist das ganze Unglück. Ein Alleinsein erzeugen, weil man nicht mehr allein sein will, das ist verbrecherisch.’ Er sagte: ‚Der Antrieb der Natur ist verbrecherisch, und sich darauf berufen ist eine Ausrede, wie alles nur eine Ausrede ist, was Menschen anrühren.’“

[Thomas Bernhard, Frost]

Täte jedermann und jede Frau das, was der südafrikanische Philosoph David Benatar als moralisch geboten ansieht, so gäbe es bald niemanden mehr, der sein Buch „Better never to have been“ („Besser nie gewesen“) noch lesen könnte. Wie kann jemand ein Buch schreiben, das alle künftigen Leser auf immer und ewig verlöre, richteten alle Menschen ihr Tun und Unterlassen an der Moraltheorie des Autors aus? Nicht geboren zu sein, dies übertrifft alles, formulierte bereits Sophokles im Ödipus auf Kolonos. Und John Milton lässt seinen Adam in Das verlorene Paradies Gott die Klage vortragen: „Ich ward / Ward ohne meinen Willen; drum wär’s billig / Ich würde wieder Staub auf meinen Wunsch / Nimm alles hin, was ich empfing; zu schwer / Sind die Bedingungen, die mir ein Glück / Nach dem ich nicht gestrebt, verbürgen sollten! / ... Du zeugtest mich? Weshalb? Ich heischt es nicht!“ (Milton, 10. Buch, Vers 746ff) Benatar bestätigt die Dichter, deren Reihe sich hier leicht fortsetzen ließe, und hebt die Klagen mit den Mitteln der analytischen Philosophie zu einer erfüllbaren Moraltheorie auf.

Damit niemand auf den Gedanken kommt, in seiner – brillant vorgetragenen – Argumentation für unser Aussterben ein bloßes und existentiell gleichgültiges Gedankenexperiment zu erkennen, teilt Benatar schon in der das erste Kapitel bildenden Einleitung mit: „Es sei betont, dass meine Argumente durch und durch ernst gemeint sind und ich zu den Ergebnissen stehe.“ (Benatar, S. 5) Den Argumenten liegen gewissenhaft durchgeführte Analysen zugrunde. Sie sind im Duktus der Philantropie gehalten, für jeden Leser ein philosophischer – wenn nicht gar existentieller – Gewinn und im Ganzen überzeugend.

Der Einleitung stellt Benatar eine jüdische Spruchweisheit voran: „Life is so terrible, it would have been better not to have been born. Who is so lucky? Not one in a hundred thousand!”

(„Das Leben ist so schrecklich, dass es besser gewesen wäre, nicht geboren worden zu sein. Aber wer hat schon dieses Glück? Nicht einmal einer unter hunderttausend.“) Buchtitel und Spruchweisheit mögen Anlass zu der Annahme geben, dass – neben anderen Menschenvernichtungen großen Stils des 20. Jahrhunderts – insbesondere der Judäozid den Impetus für Benatars Buch abgibt. Der 2002 verstorbene US-amerikanische Philosoph R. Nozick reagierte auf Auschwitz, indem er sagte, durch den Judäozid habe die Menschheit ihren Anspruch auf Fortbestand verloren, die Deutschen hätten den Ruf der menschlichen Gemeinschaft in kosmischem Maßstab ruiniert. Das heißt: Weil die internationale Völkergemeinschaft nicht eingeschritten war, um die Ermordung von Millionen Juden zu verhindern, sei der Ruf aller Menschen, der Menschheit insgesamt, vor anderen denkbaren moralfähigen Wesen, dahin.

Karl Jaspers und Hans Jonas verweisen in ihren Werken auf Überlebende deutscher Konzentrationslager, die äußerten, in eine Welt, in der diese möglich waren, dürfe man keine Kinder bringen. Keiner von beiden gab in Ansehung von Auschwitz die Empfehlung aus, auf Nachkommen zu verzichten. Ganz im Gegenteil wurde es Jonas’ vordringliches Anliegen, das unbedingte Seinsollen von Menschen zu begründen.

Benatar erinnert nicht an die Massenmorde in Kambodscha und Ruanda oder die Lager Hitlers und Stalins, um zum moralischen Gebot der Nachkommenlosigkeit zu gelangen. Er gewinnt seinen Anti-Natalismus aus vergleichsweise harmlosen Quellen. Zum einen aus dem, was man eine ethische Existenz-Asymmetrie nennen könnte (analysiert im zentralen 2. Kapitel seines Buches), zum anderen aus der von ihm verteidigten Behauptung, unser aller Leben sei viel schlechter als es uns scheine (wofür Benatar in Kapitel 3 argumentiert).

Benatars Moraltheorie, die dazu auffordert, auf Nachkommen zu verzichten, mag derart exotisch scheinen, dass eine – von ihm selbst nicht unternommene – Einordnung seines Hauptarguments geboten scheint. Insbesondere im englischsprachigen Raum ist die von Benatar eingehend reflektierte ethische Existenz-Asymmetrie seit Jahrzehnten Gegenstand philosophischer Debatten. In prononciertester Form wurde sie vor drei Jahrzehnten von Hermann Vetter formuliert. Ausführungen des Philosophen Jan Narveson zu Ende denkend, behauptet Vetter, wir seien sehr wohl verpflichtet, kein Kind zu haben, wenn wir voraussehen können, dass es ein elendes Dasein haben wird. Wohingegen wir selbst dann nicht verpflichtet seien, ein Kind zu zeugen, wenn gewiss wäre, dass das Kind ein sehr glückliches Leben haben würde. Da wir niemals mit Sicherheit ausschließen können, überlegt Vetter, ob der Betreffende schwer leiden wird, wenn wir einen neuen Menschen zeugen, sei es in jedem Falle besser, keine Nachkommen zu haben.

Der Kerngehalt der ethischen Existenz-Asymmetrie besteht also zunächst darin, dass wir verpflichtet sind, keinen Menschen zu zeugen, wenn gewiss ist, dass er leiden würde, dass wir hingegen nicht einmal dann verpflichtet wären, einen neuen Menschen zu zeugen, wenn gewiss wäre, dass ihm eine überaus glückliche Existenz beschieden sein würde.

Andere hierzulande eher unbekannte Philosophen haben diese ethische Existenz-Asymmetrie in interessanten Varianten ergründet. So analysiert Trudy Govier (1983) die Asymmetrie, indem sie erforscht, wann wir generationelle Entscheidungen revidieren: Ist ein Paar entschlossen, kein Kind zu haben, weil es annimmt, dem Kind würde kein glückliches Dasein beschieden sein, so ist das Paar nicht genötigt, seinen Entschluss zu revidieren und ein Kind zu zeugen, wenn es plötzlich Mittel oder Informationen erhält, die mit sich führen, dass das Kind ein glückliches Leben haben würde. Will ein Paar hingegen ein Kind hervorbringen, weil es davon ausgeht, das Kind werde zumindest ein annehmbares Leben haben, so ist die Information, das Kind würde unter keinen Umständen ein annehmbares Leben haben, ein hinreichender Grund, kein Kind hervorzubringen. Mit anderen Worten: Eine bevorstehende elende Existenz ist ein Grund, keinen zusätzlichen Menschen hervorzubringen und den Entschluss, ein Kind zu haben, zu revidieren. Eine bevorstehende glückliche Existenz hingegen ist kein entsprechend gewichtiger Grund, einen zusätzlichen Menschen hervorzubringen und den Entschluss zu revidieren, kein Kind zu haben.

Jeff McMahan (1986) entwickelt ein Argument, welches er das „Beschwerde-Argument“ nennt. Dieses Argument basiert auf dem Umstand, dass jemand existieren wird, der sich über sein schlechtes Leben beklagen kann, wenn Eltern ein Kind zeugen. Zeugen diese Eltern hingegen kein Kind, so existiert niemand, der sich beklagen könnte, nicht hervorgebracht worden zu sein.

Die bislang radikalsten Schlüsse aus der ethischen Existenz-Asymmetrie zog wie angedeutet Vetter, indem er sagte, wir könnten niemals ausschließen, dass einem von uns gezeugten Menschen ein elendes Leben beschieden sein wird. Weshalb es besser sei, keine Kinder zu haben. Benatar geht über Vetter hinaus. Laut Benatar hat jeder Mensch ein derart schlechtes Leben, dass wir verpflichtet sind, keine Menschen hervorzubringen. Ihm zufolge neigen wir – von entsprechenden evolutionär verankerten biologischen und psychischen Mechanismen bewegt – dazu, die Qualität unseres Daseins maßlos zu überschätzen. Zögen wir jedoch nur den Umstand in Betracht, dass unser aller Leben von unerfüllten oder unerfüllbaren Wünschen beherrscht ist und wir alle sterben müssen, so könnten wir einsehen, auf welch eklatante Weise unsere Lebensqualität unter dem gefühlten Wert liegt. Ein psychologisches Testverfahren zur Ermittlung des Lebenswertes der eigenen Biografie lautet: Vor die Wahl gestellt – würdest Du alles noch einmal von vorn erleben und wiedergeboren werden wollen? Eines solchen Testverfahrens zur Untermauerung seiner Überzeugungen bedient sich Benatar freilich nicht. Seine stets lehrreiche Reflektiertheit in Fragen der Selbstidentität mag sie nicht zugelassen haben.

Zu seiner eigenen Version der ethischen Existenz-Asymmetrie gelangt Benatar, indem er Leid und Glück zunächst unter dem Gesichtspunkt ihres Gegebenseins betrachtet, um sie dann unter dem Gesichtspunkt des Nichtgegebenseins zu betrachten. Von einer Symmetrie von Leid und Glück könne nur dann die Rede sein, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt ihres Gegebenseins betrachtet. Hier gelte:

(1) Das Gegebensein von Leid ist schlecht. /p>

(2) Das Gegebensein von Glück ist gut.

Anders stehen die Dinge laut Benatar, wenn wir Leid und Glück unter dem Gesichtspunkt ihrer Abwesenheit betrachten. Hier gelte:

(3) Das Nichtgegebensein von Leid ist gut (und zwar auch dann gut, wenn niemand da ist, für den dies gut ist).

(4) Das Nichtgegebensein von Glück ist nicht schlecht (außer es ist jemand da, der dieses Glücks beraubt wird).

Leid, so können wir Benatar hier resümieren, wiegt ethisch schwerer als Glück. Denn fehlendes Leid sei als Positivum zu verbuchen, während fehlendes Glück nicht als Negativum zu veranschlagen sei. Mit Fug und Recht darf man (3) in Frage stellen, wonach ein Zustand auch dann gut wäre, wenn niemand existierte, der sich dieses Zustands erfreuen könnte. Fehlendes Leid macht die Welt laut Benatar zu einer guten Welt. Fehlendes Glück hingegen mache die Welt nicht zu einer schlechten. Allerdings fragt es sich, wie man eine Welt, in der es weder Leid noch Glück gibt, moralisch bewerten soll und ob ethische Kategorien auf eine solche Welt überhaupt Anwendung finden können. Soll eine Welt mit ethischen Kategorien beurteilt werden, so muss es in ihr zumindest empfindende Wesen (Tiere), wenn nicht gar handlungsfähige Subjekte (Personen) geben. Eine Welt, in der weder Personen vorkommen, die Böses oder Gutes tun oder erfahren könnten, noch Tiere, die Glück oder Leid erführen, ist nicht gut, sondern (anders als Benatar meint) ethisch gesehen neutral.

Eine für weite Teile neuerer angelsächsischer Philosophie typische Tugend besteht darin, sich das Philosophieren so schwer wie nur irgend möglich zu machen. Auch Benatar befleißigt sich dieser Tugend. Er konfrontiert sich selbst mit den stärksten Gegenargumenten, die ihm zu Gebote stehen:

1. Soll jemand durch einen Vorgang einen Schaden erfahren, so muss der Betreffende als Konsequenz dieses Vorgangs schlechter dastehen als zuvor.

2. Die Schlechter-als-zuvor-Beziehung ist eine Beziehung zwischen zwei Zuständen.

3. Soll Person P in einem bestimmten Zustand Alpha (wie dem der Existenz) schlechter dastehen als in einem anderen Zustand (Zustand Beta), mit dem Zustand Alpha verglichen wird, so muss Zustand Beta einer solcher Zustand sein, in dem Person P weniger schlecht (oder besser) dasteht.

4. Doch ist Nichtexistenz kein Kandidat für Zustand Beta, da Nichtexistenz kein Zustand ist, in dem sich jemand befinden könnte. Demnach kann Existenz nicht mit Nichtexistenz verglichen werden.

5. Folglich kann der Existenzbeginn von jemandem nicht schlechter sein als niemals zu existieren.

6. Infolgedessen kann der Existenzbeginn kein Schaden sein (vgl. Benatar, S. 20).

Diesem Argument begegnet Benatar mit einer Position, der zufolge jemandem sehr wohl geschadet werden könne, obwohl niemand da ist, der in einen Zustand gerät, der schlechter wäre, als ein vorheriger Zustand. Eine solche Position muss Benatar zu begründen suchen, da Nichtexistenz kein Zustand lebender Wesen ist, von dem aus sie in den schlechteren Zustand der Existenz übergehen könnten. Benatar verneint,

dass jemandem nur dann durch einen Vorgang geschadet werden kann, wenn der Betreffende durch diesen Vorgang schlechter gestellt wird. Jemandem werde bereits dann durch einen Vorgang Schaden zugefügt,wenn dieser Vorgang für die betreffende Person schlecht ist und die Alternative nicht schlecht gewesen wäre. Bei dieser Sicht der Dinge sei der Existenzbeginn ein Schaden. (Vgl. Benatar, S. 21)

Was Benatar zu übersehen scheint: Die Alternative, an die er appelliert, mag „nicht schlecht“ sein; aber es ist niemand da, für den sie „nicht schlecht“ wäre. Benatar vergleicht Daseinslosigkeit mit Dasein. Vielleicht wären Benatars diesbezügliche Ausführungen nachvollziehbarer, hätte er formuliert: Es ist schlecht, leidende Menschen hervorzubringen; alle Menschen leiden; Leid ist durch Glück nicht kompensierbar; also ist es stets geboten, keine weiteren Menschen hervorzubringen. Doch so argumentiert Benatar nicht. Er zieht es vor, von der „Schadenszufügung durch Hervorbringung“ aus zu argumentieren.

Entsprechend missverständlich ist der Untertitel des Buches: „The Harm of Coming into Existence“. Unterstellt er doch, wir seien bereits da, bevor wir in Existenz treten. Der Untertitel insinuiert, uns werde dadurch geschadet, dass wir zu existieren beginnen und man hätte uns besser im Status der Nichtexistenz belassen. Freilich kann Benatar ein solches Missverständnis überzeugend ausräumen: Er führt aus, dass uns der Schaden nicht in dem Moment zugefügt wird, in dem wir zu existieren beginnen, sondern der Schaden entstehe erst dadurch, wenn auch unweigerlich, dass jedes Leben mehr Leid als Glück mit sich bringe. Wobei Benatar festlegt, dass Leid von einer bestimmten Intensität an durch kein Glück mehr kompensiert werden könne.

Es ist besser, keine Nachkommen zu haben, damit die Menschheit ausstirbt. – Von diesem Ergebnis her gesehen, könnte man Benatars Buch als eine Antwort der Philosophie auf Auschwitz und andere gewesene und zu befürchtende künftige Massenvernichtungen von Menschen durch Menschen betrachten, für die der Name Auschwitz als historisches Faktum und als Symbol einsteht (für den Versuch einer Antwort siehe ferner Akerma 2000). Dem steht entgegen, dass Benatar Auschwitz nicht bedenkt. Wir stehen vor einer merkwürdigen Konstellation. Adorno, der im Schatten von Auschwitz philosophierte, revidierte sein ursprüngliches Diktum, nach Auschwitz ließen sich keine Gedichte mehr schreiben, und formulierte: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse...“ „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“ (Adorno, S. 355 und S. 358) Was Adorno nicht bedenkt oder zumindest nicht ausspricht: Die Unwiederholbarkeit von Auschwitz ist nur zu gewährleisten, wenn das Nachdenken über Auschwitz nicht zum Handeln, sondern zu einem Unterlassen, nämlich zu nataler Enthaltsamkeit, führt. Während Adorno im Schatten von Auschwitz und in Ansehung unausdenkbaren Leidens denkt, ohne dass er zum Antinatalismus gelangte, hält Benatar bereits jeden durchschnittlichen Lebenslauf für so schlecht, dass er das Gebot formuliert, keine Menschen mehr hervorzubringen.

In dem Maße, in dem Benatars philosophischer Schluss und sein moralisches Gebot der natalen Enthaltsamkeit nachvollziehbar sind, offenbart sich eine Schwäche im Denken Adornos: Adorno dachte nicht radikal, nicht unvoreingenommen genug. Gemessen an Benatar scheint Adorno geradewegs ein von historischer Überlieferung und Intuitionen geleiteter bürgerlicher Geist. Freilich darf spekuliert werden: Wäre sie denn niedergeschrieben worden, hätte das Gebot der Nachkommenlosigkeit im Zentrum der Ethik Adornos stehen können. Plausibel klingt dies nicht.

Benatars Buch ist ein eminent philosophisches Werk. Jedenfalls dann, wenn die Aufgabe der Philosophie nicht darin besteht, unsere Intuitionen (das, was wir eigentlich immer schon wussten und für richtig hielten, weil es Teil unserer Erziehung und Umwelt ist) zu systematisieren, sondern zu hinterfragen, ob unsere Intuitionen gerechtfertigt werden können. Auf diese Weise eminent philosophisch ist Benatar auch in Kapitel 4 („Kinder haben: Die Anti-Geburts-Position“), dort, wo er einen Philosophen wie Kant gegen den Strich liest. So wird nach Benatar dem Geiste eines berühmten Theorems Kants – dem zufolge man einen Menschen niemals bloß als Mittel ansehen dürfe, sondern immer auch als Zweck anzusehen habe – immer dann eklatant widersprochen, wenn ein neuer Mensch gezeugt wird. Denn man könne einen Menschen nicht um seiner selbst willen hervorbringen. Man könne dies deshalb nicht tun, weil niemand da ist, dem man das vermeintliche Gut der Existenz zukommen lassen könnte (vgl. Benatar, S. 129f).

Auf gewohnte Denkbahnen begibt sich Benatar erst im 5. Kapitel („Abtreibung: Die Pro-Todes-Position“). Nachdem er sich bemüht hat zu zeigen, es wäre besser gewesen, hätte die eigene Existenz niemals begonnen, behandelt er hier die zugehörige Frage, wann unsere Existenz denn eigentlich beginnt. Seine Antwort ist zum einen traditionell und zum anderen unplausibel: „Jeder von uns war einst eine Zygote“, sagt Benatar. Als man eine Zygote war, so führt er weiter aus, sei die eigene Existenz jedoch in moralischer Hinsicht noch nicht relevant gewesen. Benatar unterscheidet unsere Existenz also nach verschiedenen Hinsichten. Dem kann man entgegenhalten, dass dem Faktum der Existenz ein Entweder-Oder eignet. Entweder ich existiere, oder ich existiere nicht. Entweder ich werde getötet und höre irreversibel auf zu existieren oder nicht. Mit dem Bewusstsein des Fötus beginnt für Benatar eine moralisch relevante Existenz. Er verortet den Zeitpunkt unplausibel spät: in die 28. bis 30. Woche. Demnach hätte ich bereits als Zygote getötet werden können, aber erst im Alter von 28-30 Wochen wäre meine Tötung moralisch relevant gewesen.

Benatars Auffassung, jeder von uns sei einst eine Zygote gewesen, entspricht die Überzeugung, jeder von uns sei mit seinem Organismus identisch, sei essentiell der eigene funktionierende Organismus. Plausibler, aber von Benatar nicht reflektiert, scheint hier die Auffassung, wonach jeder von uns das vom eigenen Gehirn realisierte Bewusstsein ist. Denn den eigenen Organismus kann man, zumindest im Gedankenexperiment, gegen einen anderen Organismus tauschen. Das vom eigenen Gehirn unterstützte Bewusstsein hingegen kann man nicht gegen das von einem anderen Gehirn hervorgebrachte Bewusstsein tauschen, ohne dass man für immer aufhören würde zu existieren: Einen Körpertausch können wir theoretisch überstehen, einen Bewusstseinstausch nicht einmal in der Theorie (vgl. Akerma 2006).

Fernab von allen begangenen Denkpfaden liegt der Schluss, den Benatar am Ende des 5. Kapitels zieht. Er kombiniert das Ergebnis der ersten Kapitel („Dadurch, dass wir zu existieren beginnen, wird uns Schaden zugefügt“) mit dem hauptsächlichen Ergebnis des 5. Kapitels („In moralisch relevanter Hinsicht beginnen wir erst um die 29. Schwangerschaftswoche zu existieren“) und folgert: In den ersten Schwangerschaftsmonaten sind es nicht die Schwangerschaftsabbrüche, die einer Rechtfertigung bedürfen, sondern vielmehr die nicht abgebrochenen Schwangerschaften. Nicht unser Tun, vielmehr unser Unterlassen sei hier unverantwortlich. „Denn ein solcher Fehler führt dazu, dass jemand den Schaden des Existenzbeginns erleiden wird“ (Benatar, S. 161).

Im sechsten und letzten Kapitel „Bevölkerung und Aussterben“ macht Benatar sich Gedanken unter anderem über den richtigen Weg, der einzuschlagen wäre, damit unser Verschwinden von der Erde möglichst leidlos erfolgt. Und er scheut nicht davor zurück, das „Schicksal der letzten Leute“ (Benatar, S. 191) zu bedenken. Am Ende seines Buches kann Benatar das allmähliche Verschwinden der Menschen von der Erde als ein optimistisches Szenario plausibel machen: Der Zustand der Welt ist jetzt schlecht, aber er wird besser, je weniger leidende Menschen es gibt. War bislang nur vom Menschen die Rede, soll abschließend nicht unerwähnt bleiben, dass der Vegetarier Benatar sein ganzes Werk hindurch auch die leidende Kreatur im Blick hat: „Auch wenn das Ende der Menschheit das Leiden erheblich vermindern würde, verschwände doch nicht jegliches Leid. Die verbleibenden fühlenden Lebewesen würden weiterhin leiden...“ (Benatar, S. 224) Doch solange wir noch da sind, sollten wir damit aufhören, Tiere, denen nichts als ein elendes Leben bevorstünde, zum Zwecke ihres Verspeistwerdens und anderweitiger Vernutzung zu züchten.

In Fortführung eines Diktums Tolstois ist zu mutmaßen, ob nicht eine vegetarisch gewordene Menschheit, die darauf verzichtete, Milliarden fühlender Tiere hervorgehen zu lassen, um sie zu schlachten, die Vorbedingung für die Umsetzung der Benatarischen Moralphilosophie wäre. Seine Ethik ist vollendbar.

[Übersetzungen aus dem Englischen vom Rezensenten]

Literatur:

Adorno, Theodor W.
-Negative Dialektik, Ff/M 1966
Akerma, Karim
-Lebensende und Lebensbeginn. Philosophische Implikationen und mentalistische Begründung des Hirn-Todeskriteriums, Hamburg 2006
-Verebben der Menschheit? Neganthropie und Anthropodizee, Freiburg 2000
-The End and the Permanence of Mankind in Karl Jaspers’s Philosophy, in: Jahrbuch der Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 1999, S. 83-103
Govier, Trudy
What should we do about future people? In: Jan Narveson (Hg.): Moral Issues, Oxford University Press 1983, S. 399-413
McMahan, Jeff
Nuclear Deterrence and Future Generations , in: Avner, Cohen/Steven, Lee (Hg.): Nuclear Weapons and the Future of Humanity, Totowa-New Jersey 1986, S. 319-340
Milton, John
Das verlorene Paradies. Werke. Englisch-Deutsch, Zweitausendeins, Ff/M 2008
Narveson, Jan
Utilitarianism and New Generations , in: Mind 76 (1967), S. 62-72
Nozick, Robert
The Examined Life. Philosophical Meditations, New York 1989
Tolstoy, Leo
The Immorality of Carnivorism , in: Walters, Kerry S./Portmess, Lisa (Hg.): Ethical Vegetarianism. From Pythagoras to Peter Singer, State University of New York Press 1999, S. 97-105
Vetter, Hermann
-The Production of Children as a Problem of Utilitarian Ethics, in: Inquiry 12/1969, s. 445-447
-Utilitarianism and New Generations, in: Mind 80 (1971), S. 301-302