Ein schönes historisches Bild feiert im Verlauf der Finanzkrise Wiederauferstehung: das Bild vom „ehrbaren Kaufmann“, der seine Geschäfte energisch mit den Prinzipien christlicher und „alter teutscher“ Moral und Anständigkeit verbindet und sich darin durch keinerlei Versuchung in Form von lockenden Spekulationsgewinnen irre machen läßt. „Wir brauchen den ehrbaren Kaufmann, um so schnell wie möglich aus dem Desaster herauszukommen“ – so tönt es jetzt von Angela Merkel bis Peer Steinbrück, und der Beifall, den sie finden, ist allgemein.
Geprägt hat den Begriff – laut Philippe Dollinger, dem Verfasser des grundlegenden Werkes Die Hanse – vor langer Zeit der Lübecker Bürgermeister und geniale Hansekaufmann Hinrich Castorp (1420 bis 1488), als er auf einem der damaligen „Hansetage“ die angereisten Granden der mächtigen mittelalterlichen Handelsvereinigung gewissermaßen moralisch aufrüsten wollte. Wir brauchen uns weder vor Königen noch vor Bischöfen zu verstecken, mahnte Castorp, unser Gewerbe ist gottgewollt, und es ist von Gott geregelt und gesegnet wie die Arbeiten des Landmanns und des Handwerkers in den Städten.
Unter Ehrbarkeit verstand Castorp (und verstanden alle Späteren, die seine Rede aufnahmen und bekräftigten) die unbedingte Einhaltung des biblischen Dekalogs beim Handelsgeschäft: „Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis reden, du sollst das Hab und Gut deines Nächsten achten und respektieren“. Das war keine Selbstverständlichkeit, im Gegenteil, die Händler umwehte seit Urzeiten der Geruch des Falschredens, des Betrügens und der Mißachtung des Eigentums anderer. Die Bibel weiß: „Ein Kaufmann kann sich nur schwer hüten vor Unrecht und Sünde“ (Jesus Sirach 26,28). Und Buddha lehrte zur selben Zeit: „Kein Lotus ohne Stempel, kein Kaufmann ohne Betrug“. Das Mißtrauen war von Anfang an da, und es nahm im Laufe der Zeiten eher noch zu.
Händler, Kaufleute waren „anwesend und dazwischen“ beim Tausch von Lebensgütern, und es fiel ihren Mitmenscnen, ob Gelehrten oder Tölpeln, seit jeher schwer, sie als notwendige Funktionäre des Lebens ernst zu nehmen. Sie schufen nichts, sie transportierten nichts (das taten die Seeleute und Karawanentreiber), sie „vermittelten“ nur, sie schätzten den Wert der Tauschgüter ein, sie waren, bei Lichte betrachtet, keine Funktionäre, sondern selber Funktion. Ihr einziges „Arbeitsgerät“, das Geld, spiegelte das genau ab. Auch das Geld war bloße Funktion, kein Wert an sich, sondern lediglich ein Zeichen, ein Symbol für Werte. Und dieses Symbol verwandelte unter der Hand ein konkretes Lebensgut während des Tausches in eine bloße Zahl, in eine Summe, eine Quantität. Das löste von Anfang an schwerste Irritationen aus.
Aristoteles, der erste wissenschaftliche Ökonom der Weltgeschichte, hat die ungeheure Bedeutung dieses Verwandlungsprozesses bereits im vierten Jahrhundert v. Chr. voll durchschaut und daraus spezifische Konsequenzen gezogen. Das Geschäft der Händler, sah er, ist prinzipiell zweideutig, es ist einerseits „Beschaffungskunst“, andererseits „Bereicherungskunst“, sogenannte „Chrematistik“. Letztere tauscht nicht mehr bieder eine für den Haushalt, den „Oikos“, benötigte Sache gegen eine andere, sondern macht den Tausch zum Eigenzweck, um einen in Geld abbildbaren Gewinn daraus zu ziehen, welcher nicht in den Sachen und nicht in den Bedürfnissen selbst liegt.
Für Aristoteles war das eine schlimme Störung nicht nur der ökonomischen Harmonie, sondern auch des menschlichen Grundwerts der Gerechtigkeit. Der Beruf des Händlers, des Kaufmanns, spaltete sich für ihn auf in einen ehrbaren, moralisch rechtfertigbaren Teil, eben die Beschaffungskunst, und in einen moralisch nicht mehr rechtfertigbaren, die Chrematistik, in seiner Sicht eine Art höheres Gaunertum. Ihr abschreckendes Symbol war König Midas, der bekanntlich alles, was er anfaßte, in Gold verwandelte – und eben dadurch letztlich verhungern mußte. Als glänzendes Gegenbeispiel schildert Aristoteles Thales von Milet, einen der sprichwörtlichen „sieben Weisen“ der Antike, der mit Hilfe der Astronomie die Höhe der jeweiligen Olivenernte habe voraussagen können. Er hätte auf Grund dieses Exklusivwissens überlegen spekulieren und sich dadurch außerordentlich bereichern können, ließ es aber sein, weil er um den Wert der Gerechtigkeit wußte und sich nie freiwillig in die Niederungen absoluter Tugendferne hineinbegeben hätte.
Logisch folgte aus der Ablehnung der Chrematistik die Ablehnung des Zinsnehmens. „Das Geld“, schrieb Aristoteles in seiner Politeia, „ist um des Tausches willen erfunden worden. Durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst, und das ist eindeutig wider die Natur und wider die Gerechtigkeit“. Dieser Satz gewann im Abendland für Jahrtausende kultischen Rang und absolute Gültigkeit. Sämtliche Könige und Bischöfe verurteilten das Zinsnehmen, zumal ja auch die Bibel ausdrücklich ein Zinsverbot fordert (Lukas 6/35, Jesus spricht: „Tut wohl und leihet, daß ihr nichts davon hoffet!“); da sie aber, um zu Geld für ihre Bauten und Feldzüge zu kommen, sich auf Geschäfte mit Geldleuten einlassen mußten, welche Zins durchaus forderten und auch erhielten, wurden diese Geldleute, meistens Juden, wenigstens kulturell stigmatisiert und aus der „Gesellschaft der guten Leute“ ausgeschlossen.
Erst zur Zeit der großen italienischen Handelsstädte und der norddeutschen Hanse im hohen Mittelalter änderte sich das allmählich. Thomas von Aquin, der damals absolut führende (Sozial-)Philosoph, gab das Tempo vor. Zwar kannte er selbstverständlich das Jesuswort, wußte dessen Verbot aber variantenreich zu relativieren. Ein Darlehensnehmer, schreibt er, könne doch ein Geschenk an den Gläubiger zahlen, dafür, daß dieser ihm aus der Not geholfen habe. Und dann die entscheidende Stelle: „Ein Zinsnehmer nimmt beim Verleihen von Geld ja nicht nur ein bestimmtes Risiko auf sich, was das Wiederkriegen zum vollen Wert und zum verabredeten Termin betrifft, sondern auch einen Verlust an eigenen Lebensmöglichkeiten, und das muß gerechterweise honoriert werden. Und wer sein Geld als Gesellschafter in ein Unternehmen einbringt, der darf auch einen bestimmten Anteil am Gewinn fordern, auch wenn er sich nicht selbst direkt an der Operation beteiligt hat“ (Summa Theologiae II/II, 36).
Wir haben hier das wohl erste abendländische Dokument dessen, was man im engeren Sinne Kapitalismus nennt. Der Kapitalist, der Kapitaleinsetzer, rückt moralisch gleichberechtigt neben den Arbeiter. Das Kapital darf sich – Aristoteles und Jesus hin oder her – „durch sich selbst“ vermehren, der antike und auch frühkirchliche, biblische Bann, der bisher über diese Weise des Geldverdienens verhängt war, ist gebrochen. Thomas war sich der sensationellen Neuartigkeit seines Urteils durchaus bewußt; davon zeugt, daß er gleich einen ganzen Katalog von Kautelen aufstellte, die das Kapital ehrbar halten und so die These von der moralischen Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit für die Zeitgenossen annehmbar machen sollten.
Kapitalgewinne sind unaufhebbar sozialpflichtig, schreibt Thomas, sie verpflichten zu Hilfe und Unterstützung der Armen wie der gesamten Gemeinschaft. Ordensleute, Klöster und Kirchen, aber auch weltliche Herrschaften sollen sich grundsätzlich nicht an Geldgeschäften und Gewinnspekulationen beteiligen. Ein Odeur von Mißbilligung bleibt also, aber die Büchse der Pandora, wenn man so will, ist geöffnet, und sie war nicht wieder zuzukriegen, es sei denn unter Hinnahme schwerster Verluste an Fortschritt und technischer Innovationskraft. Einer der Hauptfehler des Kommunismus war ja zweifellos, daß er den Faktor Kapital vollständig aus seinen Plänen herauszuhalten versuchte – mit verheerenden, letztendlich tödlichen Folgen für das ganze System.
Es geht – auch in der gegenwärtigen Finanzkrise – nicht um die Alternative „Kapitalismus oder Kommunismus, beziehungsweise Staatswirtschaft“, sondern einzig darum, den Kapitalismus ehrbar zu halten. Thomas von Aquin war es vorrangig um die Einforderung von Sozialpflichtigkeit zu tun; beim Hanseaten Hinrich Castorp trat die Ermahnung hinzu, sich nicht erst nach Abschluß der Geschäfte sozial zu geben und vom Gewinn zu spenden, sondern bereits während der Geschäfte in jeder Hinsicht anständig zu bleiben, die entscheidenden Operationen transparent und überschaubar zu gestalten und eventuelle Risiken nie auf Kosten anderer, immer nur auf eigene Kosten einzugehen. Eben in solchem Verhalten offenbare sich der ehrbare Kaufmann.
Nicht verkehrt ist es, darauf hinzuweisen, daß dieses einst von der Hanse entworfene Ideal vom ehrbaren Kaufmann die ganze deutsche Wirtschaftsgeschichte durchaus geprägt hat; nicht zuletzt dadurch unterscheidet sie sich positiv von der angelsächsischen. Deutsche Kaufleute waren – nach einer berühmten Unterscheidung von Carl Schmitt (in seinem Buch „Land und Meer“) – „Landtreter“, im Unterschied zu den angelsächsischen „Seeschäumern“. Während die Landtreter, wenn sie über ihre Heimatregion hinausgriffen, ständig unmittelbar mit anderen Kulturen konfrontiert wurden, mit denen sie sich messen und arrangieren mußten, pflügten die Seeschäumer zunächst einmal weite, schier unendliche Meere, auf denen gar nichts war, „leerer Raum“. Und das hatte Folgen. Die neuen Völker, bei denen sie schließlich anlandeten, gehörten in der Sicht der Ankömmlinge selber zum leeren Raum, zur „offenen Grenze“, waren leicht unterwerfbar oder gar schlicht ignorierbar. Sie waren weder ernsthafte Verhandlungspartner noch ebenbürtige Rivalen, die in harter, offener Auseinandersetzung besiegt, respektive bekehrt werden mußten, sondern bloße Manövriermasse im Kalkül der „Kolonisatoren“. Gut möglich, daß sich diese originäre Seeschäumer-Mentalität bis ins moderne angelsächsische Geschäftsgebahren fortgesetzt hat und auch noch die jüngsten Operationen von Wall Street mit oberfaulen Krediten und irren „Derivaten“ und „Zertifikaten“ prägt.
Die Welt in all ihren Differenzierungen und Variabilitäten ist in der Sicht dieser Leute zur bloßen Manövriermasse für Seeschäumer geworden, zum leeren Raum im Kalkül von Händlern, die zu lange nur Meer, im aktuellen Fall also: nur Geldscheine und nichts als Geldscheine, gesehen haben und die nun alle konkreten Formen des Lebens ebenfalls für nichts als Geld halten. So etwas tut keinem gut, siehe König Midas. Für die Landtreter ihrerseits waren die Geschäftsfelder über die Zeiten hinweg identisch mit alter Kulturlandschaft, welche Respekt erheischte und auf die es Rücksucht zu nehmen galt. Die Geschäfte litten unter derlei Rücksichtnahme nicht. Die Effizienz deutscher Kaufleute war, sofern man ihnen nicht von außen interessengeleitete Fesseln anlegte, stets mindestens so groß wie die der angelsächsischen, und zwar ohne daß sie sich je in hausgemachte Exzesse von Manchestertum und Hyperspekulation verrannten. Die Entdeckungen und Innovationen der deutschen Realwirtschaft bewegten die Welt, und verliehen ihr Esprit, ihre großen Unternehmerpersönlichkeiten, Borsig, Siemens et tutti quanti, stehen, was Sozialpflichtigkeit und Vermeidung irrealer Risiken betrifft, untadelig da.
Die Eintrübungen, die letzthin zutage traten, sind allerneuesten Datums. Seit etwa zwanzig Jahren war ein von vielen Seiten betriebener ideologischer Angriff auf das deutsche Wirtschaftsmodell zu beobachten, das als „rheinischer Kapitalismus“, „Deutschland AG“ oder auch „schief gewickelte Soziale Marktwirtschaft“ maliziös belächelt oder frontal attackiert wurde, unter Dauerhinweis auf das angeblich unendlich überlegene angelsächsische Wall-Street-Modell. Führende deutsche Wirtschaftsmanager wie Mathias Döpfner (Axel Springer AG) erklärten sich in „Spiegel“-Interviews und anderswo als „glühende Anhänger des amerikanischen Kapitalismus“ und riefen die deutschen „Hinterwäldler“ zur Nachahmung auf. Sämtliche großen Zeitungen legten ihrem traditionellen Wirtschaftsteil extra einen „Finanzwirtschaftsteil“ bei und gaben zu verstehen, daß einzig dort die „eigentlichen“, nämlich satte Gewinne versprechenden Geschäfte beleuchtet und (begeistert) kommentiert würden.
Kein Wunder also, daß mit als erste die ehemals biederen deutschen Landesbanken wie verrückt neuartige (also: betrügerische) angelsächsische „Finanzprodukte“ zu kaufen begannen und die rotgrüne Schröder-Fischer-Regierung in Berlin auch noch die letzten Kontroll-Instanzen für Banken- und Börsenaufsicht außer Gefecht setzte. Ein regelrechter „neo-liberaler“ Rausch setzte ein und befiel vor allem Bankmanager, Wirtschaftsnobelpreisträger und andere „Experten“. Jetzt, da die Katastrophe da ist, will niemand etwas gewußt haben – und sie haben es wohl auch tatsächlich nicht gewußt. Das System, das „erfolgreichste Modell“ (Döpfner), schuf sich „Experten“ nach seinem eigenen Maß. Sie haben buchstäblich keine Ahnung von dem, womit sie spekulieren. Alles, was sie machen, ist pure Luftballon-Aufblaserei, darauf abgestellt, Augenblickseffekte zu erzielen und mitzunehmen, was nur mitzunehmen ist, bevor die Blase platzt.
Ob die jetzt geplatzte Blase die letzte in der modernen Wirtschaftsgeschichte gewesen ist? Skeptiker bezweifeln das, weisen auf die dem Kapitalismus angeblich innewohnende „schöpferische Zerstörung“ hin und raten zur Hinnahme des „Unausweichlichen“. Andererseits sind sich im Grunde alle darüber einig, daß Krisen von der Dimension der gegenwärtigen eine derartige globale Zerstörungswucht entfalten, daß danach kein Stein mehr auf dem anderen steht und faktisch keine Erholung, geschweige denn Erholung auf höherem Niveau, mehr möglich ist. Wie sprach der bekannte Ökonom Joseph E. Stiglitz in Hinblick auf die jüngsten Ereignisse? „Noch ein solcher Tsunami, und die Weltwirtschaft ist Vergangenheit“. Die momentane Krise muß einfach die letzte ihrer Art gewesen sein, weil es bei Wiederholung nur noch allgemeinen Untergang gäbe.
Prinzipiell krisenverhindernde Lehren und Programme sind gefragt. Aber manchmal erweist sich, daß die wirksamsten „neuen“ Lehren und Programme in Wirklichkeit die bewährten alten sind, auf die man sich „nur“ zu besinnen braucht, um dem Ungeheuer erfolgreich in den Rachen greifen zu können. Das hanseatische Ideal vom ehrbaren Kaufmann enthält ein solches alt-neues Programm. Worauf es jetzt ankommt, ist (übrigens nicht nur in der Wirtschaft), den eigenen bewährten Traditionen zu vertrauen, sie bedachtsam und kaltblütig anzuwenden und sich darin von niemandem irre machen oder gar gewaltsam daran hindern zu lassen. Man kann so auch ein Beispiel setzen, daß in anderen Weltregionen zum Wohle aller bedacht werden mag.