(Rezension zu: Peter Barnes, Kapitalismus 3.0. Ein Leitfaden zur Wiederaneignung der Gemeinschaftsgüter, a.d. Amerik. v. Veit Friemert, hrsg. v. d. Heinrich-Böll-Stiftung, Hamburg: VSA Verlag 2008)
„Can’t get there from here“ ist ein Song der amerikanischen Rockband R.E.M., der, in bewährter künstlerischer Manier, die momenthafte Empfindung objektiver Abhängigkeit und des psychischen Drucks in der kapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft zu einem bloß subjektiven Phantasma verklärt, um ihr danach durch Veränderung des Zustands des empfindenden Subjekts begegnen zu können.1
Im Gegensatz dazu zeigt Peter Barnes im vorliegenden Buch, warum diese Art des alltäglichen Eskapismus zwar nach wie vor funktioniert, sie aber irgendwann an objektive Grenzen stossen wird, weshalb den objektiven Gründen dieser Empfindung auch objektiv begegnet werden muss.
Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist, dass es nicht von einem Theoretiker, sondern einem Mann der Praxis verfasst wurde. Barnes hat selber lange Jahre als Unternehmer gearbeitet, er kennt die Mechanismen des Marktes, kennt nicht nur die Theorie, sondern auch die praktische Seite von Reformbestrebungen. Hierzulande wäre Barnes wohl ein intellektueller Vordenker der Grünen, was sich zu dem Umstand fügt, dass sein Buch in einem ‚linken‘ Verlag von der ‚grünen‘ Heinrich-Böll-Stiftung herausgegeben wurde. (In Amerika befindet sich eine grüne Partei erst noch im Aufbau und hat noch keine große politische Ausstrahlung entfalten können, was zeigt, dass die USA auf diesem Feld nicht 20 Jahre voraus, sondern 30 Jahre zurück liegen.)
Bemerkenswert ist auch die Radikalität, mit der Barnes die gegenwärtigen Missstände analysiert; schonungslos zeigt er die Schwachstellen unseres Wirtschaftssystems nicht nur auf, sondern analysiert hellsichtig und unter Einbeziehung konkreter historischer Daten den Prozess, der uns in die gegenwärtige Lage manövriert hat. Dabei speist sich seine Vision einer besseren Gesellschaft aus einer ganz einfachen Idee, die wie ein roter Faden das gesamte Buch durchzieht: die Schaffung von Gemeinschaftsgütern (commons).
Gemeinschaftsgüter sind, so Barnes, all jene Güter, die der Nutzung aller vorbehalten bleiben müssen, wobei unter alle – hier schließt er sich der Meinung des schottischen Konservativen Edmund Burke an – auch die nachfolgenden Generationen verstanden werden müssen. Gemeinschaftsgüter sind entweder natürlich vorhandene Güter (Boden, Wasser etc.), für deren Erhaltung die Menschheit Verantwortung trägt, oder solche, die aus der gemeinsamen Arbeit von Generationen erschaffen wurden, d.h. also öffentliche Güter wie Straßen, institutionelle Strukturen, Sozialversicherung usw. Des Weiteren gibt es den Bereich der Kultur, der wegen seiner potentiellen Unendlichkeit ein Gemeinschaftsgut par excellence darstellt, weil er durch Nutzung aller nicht gemindert wird.
Zunächst einmal geht es darum, sich bewusst zu machen, dass diese Güter existieren. Im Falle der natürlichen Ressourcen ist es bisher so, dass Privatunternehmen diese kostenfrei nutzen können bzw. ihre negativen Effekte auf diese abwälzen können. Da die natürlichen Güter aber nicht unbegrenzt sind, muss ihre Nutzung eingeschränkt werden, um den in einer nicht allzufernen Zukunft bevorstehenden Kollaps der Erde zu vermeiden.2 Im Falle der Luft werden z.B. gegen Gebühr Emissionslizenzen vergeben, und die daraus erwachsenden Einnahmen können dann für das Gemeinwohl verwendet werden. Barnes zufolge würde dieses Vorgehen auf breiter Front dazu führen, dass auf längere Sicht neben dem immer mehr dominierenden Privatsektor3 ein Gemeinschaftssektor entsteht, der die ökologischen und sozialen Verwerfungen im Kapitalismus nicht mit einem Schlag, aber im selben Atemzug zu beseitigen oder doch zumindest zu mildern in der Lage wäre.
Dazu müsste jedoch – geschichtlich gesehen – jener Prozess gestoppt werden, der bei Marx „ursprüngliche Akkumulation“ heißt: Hinter der enigmatischen Formel verbirgt sich die Frage, wie die kapitalistischen Unternehmer ursprünglich in den Besitz der Produktionsmittel gelangten. Barnes Verdienst ist es hier, mit Unklarheiten und Mystifizierungen weitgehend aufzuräumen. Der Prozess der Inbesitznahme der Gemeinschaftsgüter hatte zwar, beginnend im Mittelalter, seinen Höhepunkt im 18. und 19. Jahrhundert, als (bezogen auf Amerika) immer mehr Grund und Boden an private Eigentümer verliehen wurde; im Prinzip aber handelt es sich laut Barnes um einen kontinuierlichen Vorgang, wie er am Beispiel der Rundfunkfrequenzen vorführt: Indem der Staat diese kostenlos an interessierte Unternehmen vergibt, die bereits in diesem Feld tätig sind, wird für einen kurzen Moment der ständige Aderlass an Gemeineigentum sichtbar, dass quasi geräuschlos in private Hände übergeht.4 Diesem unkontrollierten Weiterwuchern des Privatsektors soll Einhalt geboten werden durch Schaffung eines Gemeinschaftssektors: Wenn der Staat am Anfang jedes Eigentums stand und fortwährend steht, indem er Konzessionen an private Unternehmer verteilt, so muss er dasselbe auch für gemeinwohlorientierte Institutionen tun können, die sogenannten trusts.
Trusts sind treuhänderisch verwaltete Institutionen, die zwischen Staat und Markt angesiedelt sind und von unabhängigen Personen geleitet werden, die besonderen Prinzipien verpflichtet sind. (Damit ähneln sie, so Barnes, den Institutionen der Rechtsprechung.) Trusts sind im Grunde gigantische Umverteilungsmaschinen. Sie erheben Gebühren für das von ihnen verwaltete Gemeinschaftsgut und setzen das Geld zum Schutz dieses Gutes sowie zum Wohle der Allgemeinheit ein. Letzteres geht für Barnes sehr weit, vom Startkapital für Kinder bis zur jährlichen Pro-Kopf-Dividende für jeden Bürger, die geeignet ist, die sozialen Ungleichheiten auszugleichen.
Dass diese Ideen nicht vollends aus der Luft gegriffen sind, zeigen bereits bestehende Institutionen, die genau nach diesen Prinzipien organisiert sind. Das Paradebeispiel ist der „Alaska permanent fund“, der aus Gebühren für die Erdölförderung finanziert wird und jedem Einwohner ein jährliches Zusatzeinkommen garantiert; dieses Modell möchte Barnes auf die gesamten USA ausgeweitet wissen. Jeder Einwohner erhält dadurch einen gleichgroßen lebenslangen Anteil an Gemeineigentum, wodurch einerseits Armut gemindert, andererseits eine direkte Umverteilung von oben nach unten vermieden wird.5
Trotz der scheinbaren Einfachheit trägt Barnes Ansatz außerordentlich weit: So begreift er z.B. die immer aggressivere und sich stetig ausweitende Werbung als „Verschmutzung“ „unserer eigenen Gedanken und Gefühle“ (157, 156) – in der Barnesschen Terminologie: als unerlaubten Ausgriff privaten (Profit-)Interesses auf unseren Seelenhaushalt. Analog zu physischer Umweltverschmutzung wären Limits festzulegen, in welchem Umfang dieser Zugriff gestattet werden darf. Wieder käme hier das Prinzip zum Einsatz, die inhärente Steigerungslogik des Kapitalismus zu brechen und daraus noch einen Nutzen für alle zu konstruieren – mittels eines Trusts, der Gebühren für den Zugang zu unseren mentalen Ressourcen erhebt.
Im „Kapitalismus 3.0“, wie ihn Barnes in Anlehnung an Softwarekennzeichnungen nennt, stünde also ein durch das Eigentumsrecht gut geschützter Sektor von Gemeinschaftsgütern dem Privatsektor gegenüber, der mit den selben Regeln nach wie vor besteht. Alle gemeinsamen und öffentlichen Güter stehen unter treuhänderischer Verwaltung, deren oberste Maxime die Erhaltung dieser Güter für zukünftige Generationen ist.
Bleibt nur die Eingangsfrage: Wie von hier nach dort gelangen?
Damit kommen wir zugleich zu den Schwächen des Buches: Natürlich macht sich Barnes darüber Gedanken, wie seine Vision zu verwirklichen wäre. (Der dritte und letzte Teil des Buches lautet „Die Realisierung“ und umfaßt knapp 35 Seiten.) Seine Ideen sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern bestehen bereits – im Kleinen – in der Wirklichkeit. Trotzdem müsste der Maßstab der bisherigen Initiativen, Fonds und Kooperationen vergrößert werden, was einer Änderung ums Ganze gleichkäme. Wie soll das aber gehen, zumal angesichts der von Barnes selbst analysierten Beharrungskräfte des Bestehenden? So analysiert er bspw. schonungslos die Verfilzung von Politik und Ökonomie durch Tradition und Lobbyismus. Jedoch: „Ein oder zweimal pro Jahrhundert eröffnet sich für eine kurze Dauer die Möglichkeit der Machtübernahme durch nichtunternehmerische Kräfte.“ (191, vgl. 76) Was anders kann hier gemeint sein als Krisenzeiten, in denen die politische Ausrichtung ins Wanken gerät?
Allem Anschein nach durchleben wir gerade eine solche Phase. Der globalisierte Kapitalismus erlebt seine erste große, allumfassende Krise: der Westen taumelt, die Schwellenländer werden zurückgeworfen, die Ärmeren und Armen trifft die Misere ungebremst. Allerorten wird über Mittel diskutiert, das System Kapitalismus 2.0 ‚wieder zum Laufen zu bringen‘, durch Konjunkturprogramme, staatliche Finanzspritzen oder Bürgschaften, vielleicht sogar Steuersenkungen. Nirgends allerdings lassen sich Stimmen vernehmen, die eine so grundlegende Reform wie die von Barnes ins Auge gefasste anstreben. Yes we can?
Abgesehen von dem von ihm selbst analysierten Problem, wie seine Ideen politisch wirksam werden könnten, enthält Barnes Buch weitere Schwachpunkte.
Zunächst fällt da die Beschränkung des Blicks auf; zwar verwendet Barnes bisweilen Beispiele aus anderen Ländern, seine Argumentation basiert jedoch auf der amerikanischen Situation. Im Gegensatz zum genuinen linken Universalismus setzt er sogar darauf, die Nation zu stärken (vgl. 146, 136). Angesichts der sicherlich berechtigten Klage über die vielen Amerikaner ohne Krankenversicherung, die „nur eine Lohnzahlung oder eine Krankheit von der Katastrophe entfernt“ leben (57), muss Barnes sich fragen lassen, wie es dagegen mit dem Schicksal der Milliarden Benachteiligten in aller Welt aussieht.
Eine weitere, die vielleicht entscheidende, Schwäche ist das weitgehende Verschweigen der Transaktionskosten für den Übergang von Kapitalismus 2.0 zu Version 3.0. Hier wird Barnes m.E. auch zum Opfer seiner eigenen Metapher: Im Gegensatz nämlich zum Computerprogramm, bei dem ein „Update“ meist nur eine problemlose Sache von Minuten ist, haben wir es im Falle unseres Wirtschaftssystems mit Existenzen zu tun, und das heißt: mit Motivationen, Gegenmotivationen und dem gerüttelt Maß an Irrationalität, das sich in aller bisherigen Geschichte als unberechenbarer Faktor erwiesen hat. Die Geschichte des Menschen, darüber belehrt uns alles Vergangene, lässt sich nicht planvoll gestalten – und wird es doch versucht, dann nur um den Preis unerwünschter (meist schädlicher) Nebenfolgen. Sie hat damit denkbar wenig Ähnlichkeit mit maschinellen Algorithmen, deren Umstellung zumeist weit weniger Probleme bereitet. Indem Barnes diese Friktionen verschweigt, nähert sich sein Modell einer Utopie, für die wiederum gilt: „Can’t get there from here.“
Barnes verschweigt insbesondere die Frage, wer ‚die Zeche zahlt‘. Erhebt man nur die Natur und die gesellschaftliche Infrastruktur und alles angesammelte Wissen in den Rang ökonomisch zählbarer Werte, entsteht scheinbar aus dem Nichts neuer Reichtum. Die Wahrheit liegt natürlich woanders, nämlich darin, dass wir alle, am stärksten aber die großen Unternehmen (als primäre Nutzer), für die neuen Güter aufkommen müssen. Es folgt daraus also die Notwendigkeit einer schwierigen Übergangsphase hohen wirtschaftlichen Drucks verbunden mit einer schleichenden Enteignung der großen Unternehmen. Statt revolutionärer „Expropriation der Expropriateure“ also algorithmisierte kontinuierliche Umverteilung, könnte man sagen. Einmal in einem günstigen Augenblick an die Macht kommen, das Notwendige beschließen (‚installieren‘) und dann zusehen, wie sich Natur und Gesellschaft von selbst heilen. Yes we can?
1 Die ersten Zeilen lauten: „When the world is a monster / bad to swallow you whole / kick the clay that holds your teeth in / throw you trolls out the door.“
2 Barnes Ansatz berührt sich mit ähnlich gerichteten Ideen, wie sie bspw. die französischen Philosophen Michel Serres und Bruno Latour vorgelegt haben. Gemeinsam ist allen dreien der Gedanke, dass ihn unseren bisherigen gesellschaftlichen Einrichtungen die Natur keinen nennenswerten Stellenwert hat. Serres will deshalb einen Naturvertrag (Frankfurt a.M. 1994) analog zum Hobbeschen Gesellschaftsvertrag konstruieren, durch den der stummen Natur Recht eingeräumt werden, wie sie bisher nur Bürger eines Staates innehaben. Noch stärker mit Barnes konvergiert der Ansatz Bruno Latours, der in seinem Parlament der Dinge nicht nur natürliche Ressourcen, sondern auch die Gestaltung des öffentlichen Raumes unter direkte parlamentarische Kontrolle stellen will; ein Verfahren, dass freilich praxisferner erscheint als das des praxiserprobten Amerikaners.
3 Unter Privatsektor versteht Barnes vor allem jene großen Unternehmen, die als „börsenotierte Kapitalgesellschaften“ immer mehr Macht und Einfluss gewinnen und so den öffentlichen Sektor zunehmend unterhöhlen; einerseits durch direkten Einfluss auf die Politik, etwa durch das Heer der Lobbyisten, andererseits durch ihre Kontrolle über private Rundfunk- und Fernsehanstalten.
4 Die problematischen Punkte der Debatte um die „ursprüngliche Akkumulation“ können hier nicht benannt werden; fest steht, dass Barnes gegen Lenin mit Rosa Luxemburg übereinstimmt, die gegen dessen Annahme einer besonderen historischen Epoche eine Kontinuität der Aneignung angenommen hatte.
5 Barnes nutzt hier die Rawlssche Unterscheidung zwischen Redistribution (die Reichen geben den Armen Geld ab) und Prädistribution (alle erwerben per Geburt Anteile an Gemeineigentum); vgl. S. 137.