Der Altkanzler Helmut Schmidt wird 90

Stefan Groß (Jena)

In Krisenzeiten wünscht man sich Krisenmanager. Helmut Schmidt, der am 23. Dezember seinen 90. Geburtstag feiert, war und ist dies in aller erster Linie gewesen – einer, der standhält, der sich gegen den Mainstram und die Political Correctnes durchsetzte, auch und oft gegen den Willen der eigenen Partei. Daß ihm dieser Rigorismus, sein oftmals zelebrierter Alleingang, obwohl sich Schmidt selbst als Teamplayer versteht, auch Feindseligkeiten bescherte, ist letztendlich nur zwingend für einen charismatischen Politiker, der nicht den Lobbyisten wohlgefällig das Wort redet, sondern gerade im Lobbyismus, den er auf Schärfste kritisiert, den zu bekämpfenden Gegner Nummer Eins sieht.

Krisen, die der Altkanzler während seiner Regentschaft als „leitender Angestellter“, wie er sich gern bezeichnete, in unruhigen Gewässern durchfahren mußte, gab es viele: die Sturmflut, die Ölkrise, die festgefahrene Ost-West Politik, den RAF-Terrorismus und den NATO-Doppelbeschluß. Auch heute geht Schmidt keineswegs mit dem Zeitgeist konform. So hält er mit aller Nachdrücklichkeit daran fest, daß das Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten nicht verletzt werden darf, die Verweigerung Deutschlands beim Irak-Krieg ist aus seiner Sicht daher moralisch tadellos. Deshalb wirft er der Außenpolitik der USA und ihren ständigen Invasionen weltweit, Doppelmoral vor. Einerseits kämpfen sie gegen die Achse des Bösen, gegen die Zellen des Terrorismus, andererseits arrangieren sie sich mit jenen ölfördernden Staaten, die letztendlich auch die Terrornetze finanzieren. Auch ist der Gründer der G 7 skeptisch, was die Resultate der G 8 Gipfel betrifft, die er als reine „Medienspektakel“ begreift, deren vordringliches Ziel es vielmehr sein müßte, China, Indien, die großen Erdöl-Exporteure und Entwicklungsländer mit einzubeziehen. Zu den dringenden Fragen und zu den größten Herausforderungen, die die Politik heutzutage zu bewerkstelligen habe, zählt der Altbundeskanzler die Bewältigung von Ernährungs- und Energiefragen, wenngleich er der derzeit in den Medien immer wieder schlaglichtartig zum Thema Nummer Eins erhobenen Klimapolitik, die den ökologischen Gau als Horrorszenario beschwört, eine klare Absage erteilt. Wenn Schmidt die Debatte um die globale Erwärmung als „reine Hysterie“ abtut heißt aber nicht, daß er diese Thematik zur randständigen Sache erklärt. Das Gegenteil ist der Fall, wenn er fordert, daß die Europäische Union es sich zur Pflicht machen muß, den CO 2 Ausstoß zu verringern. Ebenfalls betrachtet er die Erweiterung der Europäischen Union und die Einbeziehung der Türkei als nicht besonders geschickt. Das Ideal einer multikulturellen Gesellschaft bleibt für ihn eine „Illusion von Intellektuellen“.

Schmidt, der 1918 in ärmlichen Verhältnissen geboren wurde und der die Zeit des Nationalsozialismus als Offizier erlebte, maßgeblich am demokratischen Neuaufbau der Bundesrepublik beteiligt war, ist ein Urgestein parlamentarischer Demokratie. Wie einst Hans Georg Gadamer zum lebenden Symbol einer ganzen Philosophieepoche wurde, ist Schmidt ein medialer Lichtpunkt unter den sonst so traurigen Politikgestalten. Der Politiker ist aus anderem Karat als Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier. Er ist ein Kämpfer, der auch unliebsame Maßnahmen für die Mehrheit der Bürger in Kauf nahm, einer, der immer wieder Themen wie Verantwortung, Gewissen und Vernunft glaubwürdig und ohne Emotionalität äußerte. Von allen Bundeskanzlern war er sicherlich der philosophischste, der auf die Kraft der Vernunft, der kritischen Vernunft, vertraute, die mit dem unbedingten inneren Gewissen gleich zu gehen habe. So nimmt es nicht wunder, daß ihm der Königsberger Kosmopolit Immanuel Kant zum Leitbild politischer Verantwortung wurde, denn von ihm übernahm er nicht nur das kategoriale Gebot sittlichen Handelns, das sich die selbstgesetzgebende praktische Vernunft auferlegt, sondern auch Kants Idee eines ewigen Friedens, den dieser als zu verwirklichendes Idealbild und politische Maxime seiner politischen Philosophie voranstellte. Daß die Realisierung dieser Idee nicht gegeben, sondern aufgegeben ist, daran hält auch Schmidt mit allem Nachdruck fest. Friedenssicherung war daher eine der politischen Leitlinien seiner Amtszeit, dies nicht und zuletzt auch resultierend aus seinen Erfahrungen an der Ostfront.

Der römische Stoiker und Kaiser Marc Aurel, dessen Selbstbetrachtungen millionenfach gelesen wurden, war Schmidts Ratgeber in lebensweltlich brisanten Lebenssituationen, so im Zweiten Weltkrieg. Auch bei Aurel wird die alles bestimmende Vernunft zum absoluten Paradigma sittlicher Selbstbestimmung, sie erweist sich als das Beständigste in der Welt, denn ihr dringlichstes Gebot es ist, sich gegen die anstürmenden Leidenschaften und Gefühle zu behaupten. Gleichmut und Gelassenheit im Aufscheinen des Absurden – diese Gelassenheit zu lernen und sich zu bewahren, darin wird Schmidt Aurel folgen. Bei allen Widrigkeiten des Lebens besteht, so Schmidt die Aufgabe, daß der Mensch verantwortlich für die Erfüllung seiner Pflichten ist. Ein bloßes anything goes bleibt ihm ein Greuel. Eine reine Gesinnung, die nicht auf die Folgen der Handlung abzielt, diese nicht kritisch beleuchtet und abwägt, lehnt er wie der Philosoph Hans Jonas ab. Es verwundert daher nicht, daß Schmidt sich als moralischen Politiker begreift, der, wie er selbst bekennt, viel von Max Webers einschlägiger Schrift Politik als Beruf aus dem Jahr 1919 gelernt hat. Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß, Qualitäten, die Weber dem Idealbild des Berufspolitikers vorausgestellt hat, sind für Schmidt zu Tugenden geworden, zu Primärtugenden, die er gern um die drei Grundwerte der deutschen Sozialdemokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wie sie im Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 verankert wurden, erweitert wissen will. Lautere Gesinnung verträgt sich nicht mit dem moralischen Anspruch des verantwortlichen Politikers, dem das eigene Gewissen oberste Instanz ist. Die Generation der 68er hat er damals als reine Gesinnungsethiker kritisiert.

So heißt es bei Schmidt: „Je mehr ein Politiker sich ‚gesinnungsethisch’ von einer vorab fixierten Theorie oder Ideologie leiten läßt, je mehr er bei einer Entscheidung dem Machtinteresse seiner Partei folgt, je weniger er im Einzelfall alle erkennbaren Faktoren abwägt, desto größer ist die Gefahr von Irrtümern, von Fehlern und Fehlschlüssen. In jedem Fall trifft ihn die Verantwortung für die Folgen – und oft genug kann die Verantwortung durchaus bedrückend sein. Eine gute Absicht oder eine lautere Gesinnung allein kann ihn von seiner Verantwortung nicht entlassen. Also muß der Politiker seine Vernunft anstrengen, um sein Handeln und dessen Folgen vor seinem Gewissen verantworten zu können. Deshalb empfinde ich Max Webers Plädoyer für die Verantwortungsethik im Gegensatz zur Gesinnungsethik immer noch als gültig.“

Über sein kritisch-distanziertes Verhältnis zur Religion und Religionsgeschichte, seine kritischen Äußerungen zum Christentum hat Schmidt nie einen Hehl gemacht. „Gott gehört nicht ins Parlament“. Was ihm die Religion an sich verbrämt, ist die erlebte Geschichte und die Frage Hiobs: Wie kann Gott das zulassen? „Denn konnte der Krieg wirklich Gottes Wille sein? Und wieso hatte Gott den in meinen Augen größenwahnsinnigen ‚Führer‘ als Obrigkeit geduldet?“ Gerade vor dem Hintergrund seiner Kriegserfahrungen, des Holocausts, den Schmidt zu den grausamsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte zählt, mag er sich nicht mit der Rechtfertigungslehre anfreunden und abfinden. So begreift er es auch als eine große Errungenschaft der Demokratie, daß Kirche und Staat getrennt sind, denn einer Instrumentalisierung der Religion zur Legitimation der Macht mißtraut Schmidt aus tiefstem Herzen, was ihm zum kritischen Imperativ führt, der da lautet: „Mißtraue jedem Politiker, jedem Regierungs- oder Parteichef, der seine Religion zum Instrument seines Machtstrebens macht, und halte Abstand von allen, die eine auf das Jenseits orientierte Religion mit sehr diesseitigen politischen Interessen zu verbinden suchen.“ Um richtig zu handeln, bedarf es weder einer Religion noch einer christlich fundierten Ethik, wenngleich er auch betont, daß die moralischen Grundwerte der Demokratie ohne das Christentum undenkbar wären, sondern eben der gesetzgebenden Vernunft und dem inneren Gewissen als oberster Gerichtshof. Hier folgt er Kant, der „sein Leben lang über die Grundwerte des Gewissens nachgedacht hat, ohne daß die Religion dabei eine Rolle spielte.“ Die im Grundgesetz verbriefte Unantastbarkeit der Würde des Menschen ist als Leitbild sittlichen Handelns richtungweisend und grundlegend. Auch plädiert Schmidt immer wieder für wechselseitige Toleranz. Wer diese mißachtet, verstößt gegen die Freiheit und Würde des Andersgläubigen. Auf die moralische Kraft der Religionen – gerade im Kampf der verschiedenen Religionen und Zivilisationen, dem clash of civilizations Huntingtons – gibt er wenig, auch dies wieder aus seiner eigen erlebten Geschichte heraus. So schreibt er rückblickend auf das Jahr 1945: „Jedenfalls war 1945 der christliche Glaube bei weitem nicht so fest in der Seele des Volkes verankert, daß die Kirchen in der Lage gewesen wären, eine neue, moralisch fundierte Gesellschaftsordnung ins Leben rufen. Das hat sich bereits im Laufe der späten vierziger Jahre deutlich gezeigt und bedeutete für mich eine empfindliche Enttäuschung.“

Die Notwendigkeit der Toleranzausübung, des interreligiösen Dialoges, ist es dann, die Schmidt für das Projekt Weltethos des Tübinger Theologen Hans Küng emphatisch werden läßt. Diese Sympathie gegenüber dem Reformtheologen des Zweiten Vatikanischen Konzils veranlaßt Schmidt im Jahr 2007 dazu, die 7. Weltethosrede in Tübingen zu halten. Auch Schmidt bekennt, daß kein Zusammenleben auf unserem Globus ohne ein globales Ethos, daß kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen, daß kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen, daß kein Dialog zwischen den Religionen und Kulturen ohne Grundlagenforschung, daß kein globales Ethos ohne Bewußtseinswandel von Religiösen und Nicht-Religiösen möglich ist.

Schmidt als Gewissen der Nation zu betrachten, ist keine Übertreibung. Auch in Krisenzeiten, wie der derzeitigen Wirtschaftsrezession, die von Schmidt lange schon vorausgesagt wurde, die sich mit Notwendigkeit aus einem uferlosen „Raubtierkapitalismus“ ergeben mußte, behält Schmidt Überblick, benennt Fakten und führt keine Verschleierungstaktiken, wie die regierende Kanzlerin, die aufgrund ihres unentschlossenen Auftretens in der Rezession auch viele Wählerstimmen derzeit verliert. Schmidt war es, der einem rein am Profit sich orientierenden Kapitalismus anprangerte, der den finanziellen Kollaps der USA und die Probleme der Bundesrepublik Deutschland, des deutschen Absatzmarktes, frühzeitig diagnostizierte. „Wenn wir alle anfangen Geld zu drucken“, wie Schmidt in einem Interview betonte, ist die sich daraufhin abzeichnende Rezession eine notwendige Folgeerscheinung einer aus dem Ruder gelaufenen Finanzpolitik. So verwundert es nicht, daß er „Verkehrsregeln“ für die Wirtschaft unter dem Dach des Internationalen Währungsfonds fordert.

Für viele ehemalige DDR-Bürger war Schmidt immer eine Lichtgestalt, um dessen Gesundheitszustand 1981 gebangt wurde, als er aufgrund von Adams-Stokes-Anfällen zweimal wiederbelebt werden mußte. Um den westdeutschen Bundeskanzler hatte man hierzulande mehr Angst, als um die Gesundheitszustände jener „kurzatmigen“ Gestalten des Politbüros. Schmidt konnte selbst aus der Ferne überzeugen, im Gegensatz zum autoritären Auftreten des vergreisten SED-Politbüros. Das Charakterbild, das Schmidt über Honecker zeichnet, wenn er ihn als verschüchterten und letztendlich uneigenständigen Politiker vorstellt, der weder über die gebotene Vernunft noch über ein gebotenes Freiheits- und Demokratieverständnis verfügt habe, teilten viele DDR Bürger.

Schmidts politisches Geschick, seinen Argumenten mit Kraft Nachhaltigkeit zu verleihen, liegt nicht zuletzt daran, daß er ein glänzender Rhetoriker ist, der mit seinem breit gefächerten Allgemeinwissen nicht nur Zuschauer, sondern auch seine Leser begeistern kann. Er, der große Vorzeige-Intellektuelle, der präzise argumentiert, hat auch als älteres Semester seine Authentizität und seinen kühlen Charme nicht verloren, er ist ganz hanseatisch geblieben.

Es scheint, daß sich sein Charisma im Alter noch verstärkt. Dabei ist der erfolgsverwöhnte Ex-Kanzler und Krisenmanager keineswegs bescheiden. Schmitt bilanziert kühl, Fehler der anderen kann er nicht verzeihen – in dieser Beziehung ist er rigoros und eitel. Eigene Schwächen gesteht er ungern ein. Erst spät, wie er äußert, lernte er, daß er die Leistung der anderen Mitmenschen und Mitarbeiter in seinem Stab zu achten habe, daß ein Lob beflügeln kann. Auch räumt er ein, daß er während seiner Zeit als Bundeskanzler die großen Probleme der Gegenwart, die Globalisierung und die demographische Entwicklung, nicht ausreichend bedacht hat. Dies sei im nachhinein ein Fehler gewesen.

Nunmehr hat er als Lebensrückblick sein politisches und persönliches Vermächtnis vorgelegt. Daß Ausser Dienst die Bestsellerlisten anführt, ist keineswegs verwunderlich, denn keiner prägte den Geist der Bundesrepublik – neben Adenauer – so wie Schmidt, all seine Publikationen, die er vor und nach seiner Amtzeit veröffentlichte, wurden millionenfach gelesen. Der erste und der fünfte Kanzler werden als Vorbilder auch die Seiten kommender Geschichtsbücher ausfüllen.

Ausser Dienst ist aber mehr als eine Retrospektive, es ist gerade in Zeiten, wo eine Hiobsbotschaft die andere ablöst, wo das Jahr 2009 mit düsteren Prognosen angekündigt wird, von einem belebenden Optimismus. Schmidts Alterswerk ist keineswegs resignierend, sondern im höchsten Grade affirmativ. Was man von ihm lernen kann, und was das Buch so lesenswert macht, ist Vertrauen in die Zukunft. Krisen, so weiß der Manager Schmidt, sind Herausforderungen, ihnen Standzuhalten, Tugenden wie Loyalität, Solidarität und Zuverlässigkeit zu bewahren, ist nicht nur eine Pflicht für den Verantwortungsethiker, sondern diese gehören zur Selbstbehauptung des Politikers zwangsläufig dazu. Darin bleibt sich der Altbundeskanzler treu, der in einem Interview auf die ihm gestellte Frage, ob es das Amt des Bundeskanzlers gern ausgeübt hatte, antwortete: „Eigentlich nicht sonderlich gern, nein“, ganz dem römischen Staatsmann und Philosophen Marc Aurel verpflichtet. Auch die Goldene Regel, die sich schon bei Konfuzius findet, dessen Lehren er viel Aufmerksamkeit schenkt, verinnerlicht Schmidt wenn er schreibt: „Ich soll mich so benehmen, daß die meinem Tun unterliegenden Prinzipien jederzeit von allen anderen auch akzeptiert werden können.“ Diese Maxime wurde für Schmidt stets zum Leitbild seiner Verantwortung als Moralist.

Helmut Schmidt, Ausser Dienst, Eine Bilanz, München 2008.