Wolfram Weimer, Credo, Warum die Rückkehr der Religionen gut ist. München 2006. 79 Seiten. ISBN: 978-3-421-04244-6. Preis 9.90 Euro.

Stefan Groß

(Jena / Deutschland)

Der ehemalige Welt-Chefredakteur und derzeitige Herausgeber des Berliner politischen Magazins Cicero hat 2006 in der Deutschen Verlags-Anstalt einen bemerkenswerten philosophischen Essay geschrieben, in dem er einem Diskurs beitritt, der nicht nur in Cicero mit renommierten Autoren wie Papst Benedikt XVI., Jürgen Habermas, Robert Spaemann, Samuel P. Huntington, Peter Sloterdijk, Rüdiger Safranski, Gianni Vattimo und Richard Rorty geführt wird, sondern auch innerhalb moderner Medizin und im Rechtsdenken auf der Tagesordnung einer Vielzahl von Debatten steht. Wie sehr religiös motivierte Argumente den medizinethischen Diskurs bei Abtreibungsfragen, Sterbebe­gleitung, aktiver Sterbehilfe, Stammzellforschung, verbrauchender Embry­onenforschung, Präimplantationsdiagnostik und somatischen Klonen derzeit begleiten, offenbart in aller Deutlichkeit ein grundlegendes religiös-konservatives Interesse, dem durch Medizin und Technik heraufbeschworenem Dammbruch die Türen zu verschließen.

Weimer, studierter Wirtschaftswissenschaftler, begibt sich mit seinem Credo auf ein Terrain, das er souverän beherrscht, was nicht nur seine tiefen Einblicke in die gegenwärtige Diskussion um den Stellenwert des Religiösen in der Moderne oder Postmoderne unterstreichen. Der aktuelle Diskurs um das Phänomen der Religion zieht breite Kreise, affirmative, regressive, auch aggressive, wie Dawkins und Onfray mit ihren A-Theologien belegen. Ganz anders argumentiert Weimer, für den das neue Anbrechen des Religiösen, des Neo-Religiösen, wie er es nennt, das Zeichen einer Moderne ist, die nicht nur dem Säkularismus seine angestammten Orte entreißt, sondern auch schon einen leisen Siegeszug feiert, was nicht so sehr für das durchreflektierte Europa mit seinem durch Kant und Nietzsche geprägten kritischen Geist gelte, aber zumindest in einem Großteil der Hemisphäre, insbesondere in der islamischen Welt und in einigen Schwellenländern, volle Geltung hat. „Das 21. Jahrhundert wird ein Zeitalter der Religion. Gott kehrt zurück, und zwar mit Macht – im doppelten Sinne des Wortes. Nicht nur als philosophische Kategorie, revitalisierte Tradition, theologische Überzeugung oder spirituelle Kraft. Er kommt mitten hinein in den politischen Raum. Dieses Traktat vertritt die These, dass sich der Säkularisierungsprozeß umkehren wird. Wir gehen vom postmodernen ins neoreligiöse Zeitalter“ (S. 7). Maßgeblich, so Weimer, sei es der konservative Geist des Religiösen, der im Zeitalter des anything goes eine Wiederkehr des Religiösen geradezu motiviert. Sicherlich ist es von ihm übertrieben, zu behaupten, daß das Wiedererstarken des Religiösen gerade durch die römische Kurie, was Weimer ja glaubt, gleichwohl er auch den anti-modernen Klerikalismus nicht vergißt zu erwähnen, auf die nahe Schwelle seiner Ankunft getreten sei. Vielmehr ist es doch der sich selbst in vielem überlebt habende Pluralismus, der so viele Möglichkeiten der Selbstfindung zuläßt, daß letztendlich kaum oder nur wenige dieser Möglichkeiten realisiert werden, der zu einer wie auch immer gelagerten Selbstbestimmung nötigt, die nun – zur Überraschung – nicht im Sektenwesen, sondern im Zugehörigkeits­glauben an die fünf großen Weltreligionen kulminiert. Das diese neue religiöse Motivation aus dem Nihilismus des 20. Jahrhunderts samt seiner a-theo­logischen – entweder kommunistischen oder nationalsozialistischen – Macht­apparate erwächst und keineswegs, wie so oft hingestellt, das Resultat der Ereignisse des 11. September 2001 sei, dies unterstreicht auch Weimar und hat damit nur allzu recht. Die Attentate sind weder auf einen platten Materialismus rückführbar noch handelt es sich beim religiösen Fanatismus um ein „Phänomen zurückgebliebener Kulturen“. Nicht sozio-ökonomische Ursachen sind für das Neuerstarken des Fundamentalismus verantwortlich, sondern eben tief motivierte und zu oft auch falsch verstandene Religiosität. „Das neue Zeitalter der Religio-Politics wird nicht von den Peripherien, sondern von den Kraftzentren der Globalisierung beschleunigt. Damit wird klar, warum die Religion auch ohne den islamischen Terror als gesellschaftliche und politische Macht zurückkäme. Denn selbst die säkularisiertesten Kulturen registrieren seit einigen Jahren jenes Phänomen, das William James als ‚Wille zum Glauben’ beschrieben hat. Damit ist ein meßbares Bedürfnis nach moralischer Letztbegründung, nach ‚Wertorientierung’ gemeint“ (S. 20). Aus der Gottesferne wächst die Gottesnähe, aus dem Relativen, Unbestimmten, der Wunsch nach absoluter Unbedingtheit. Der Wunsch nach einer neuen Sinnhaftigkeit hat ja nicht nur den Zusammenbruch der führenden Machtssysteme im europäischen Osten mit veranlaßt, was auch die nur Zahlen belegen, die Weimer in vielen Statistik-Tabellen zur sozio-empirischen Untermauerung seiner Thesen im Buch plaziert. Das Neuerstarken des Religiösen, der Wunsch, es in die Politik tiefgreifender zu integrieren, hat sich bereits schon in den 80er Jahren in Amerika abgezeichnet, einem Land, das trotz mehrerer Invasionen im Irak und in Afghanistan, ein „Comeback der Religionen“ feiert. Auch in Europa befindet sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Religion im Vormarsch, was sich auch darin zeige, daß 80 Prozent religionsoffener Europäer nur 20 Prozent Atheisten gegenüberstehen.

Ein Schlagwort hat in den letzten Jahren immer wieder Aufsehen erregt, der vielzitierte Clash of Zivilisation von Samuel P. Huntington, der „Kampf der Kulturen“. Weimer sieht aber darin nicht mehr als eine lasche Befriedungsstrategie ohne impulsive Wirkkraft, einen „Fetisch der Selbst­beruhigung“, eine „rhetorische Anästhesie“, die er metaphorisch in das Bild kleidet, daß das Kind, das in die Schlangengrube gefallen ist, nun vorschlägt: „Wollen wir nicht lieber reden als beißen?“ Kurzum: Dem Dialog der Kulturen muß eine Mobilisierung der eigenen Kultur zugrunde liegen, die die nationale Identität betont, gleichsam heraufbeschwört. Es ist aber nicht nur der Kampf der Kulturen, der attackiert wird, auch der sich im Pluralismus aussprechende Relativismus sei eine rein negative Kraft.

Mit Safranski und Spaemann unterstreicht Weimer die These, daß die Rede vom Gerücht Gottes nicht den Gläubigen in die Pflicht nimmt, die Spuren Gottes zu beweisen, sondern all jene, die diesen Gedanken radikal negieren.

Daß das Religiöse weiter an Durchschlagskraft gewinnt, liegt, wie Weimer betont, in der Ambivalenz von Wissen und Glauben, am neuen Zweifel, der sich in den Naturwissenschaften selbst ausspreche, der im Umkehrschluß den Glauben impliziere. „Gerade die rationalisierte Moderne erzwingt ein ständig wachsendes Maß an Glauben“ (S. 42). Je mehr das Wissen ungeahnte Räume erobert, desto mehr wächst der wissenschaftliche Glaube, was letztendlich zur Folge hat, daß das Prinzip der Verifikation durch das Prinzip der Falsifikation ersetzt werde. „Wenn aber am Anfang und am Ende unseres Wissens Mutmaßungen, Modelle, Hypothesen stehen, die der Prüfung auszusetzen sind, dann ist die Moderne zum Credo-Prinzip zurückgekehrt“ (S. 43). Das Religiöse – dies ist keine neue These, sondern eine der Dialektik der Aufklärung immanente – kehre letztendlich durch die Hintertür wieder zurück. So sehr hier mit Pathos das Neuankommen des Religiösen vertreten wird, Weimers Essay wird hier utopisch, denn es gibt nicht viele Naturwissenschaftler vom Schlage eines Albert Einstein. Uneingeschränkt kann man dagegen der These Weimers zustimmen, daß die Mediengesellschaft eine Glaubensgemeinschaft ist, wobei hierbei allerdings der Begriff des Glaubens fragwürdig ist. Daß Glaube nicht mehr sei, als ein der Interaktion zugrunde liegendes Prinzip, mag nicht zu überzeugen. Sicherlich trägt die Medialisierung als Missionswerkzeug dazu bei, daß die Thematik von Religion und Religiosität die Fernsehzimmer erobert, aber die Medialisierung als ein „gewaltiges Verstärkeorgan der religiösen Kommunikation“ hinzustellen, bleibt fragwürdig.

Die Ausblicke zum Combeback der Religion, vom Dialog der Religionen bis hin zum „philosophischen Zusammenhang“, kulminieren in Weimers These: „Warum die Rückkehr der Religion gut ist“, die mittels eines kulturellen, politischen und ethischen Arguments plausibel gemacht werden soll. Wider den Befürchtungen, die nicht nur Ralf Dahrendorf und Jan Philipp Reemtsma formulieren, die in der beschworenen Ankunft des Religiösen eine Bedrohung der Freiheit sehen, sondern auch kritisch gegen die Philosophen Richard Rorty und Gianni Vattimo gewendet, die das Ende der Aufklärung befürchten, ist Weimer überzeugt, daß „die Wiederkehr der Religion ähnlich auf unsere Gesellschaft wirkt wie die überraschende Rückkehr eines verschollenen Vaters für die Familie“, sie sei letztendlich ein großer Gewinn (S. 51). Das kulturelle Argument, das hier zur Plausibilisierung von Weimer herangezogen wird, besser ist sicherlich der kulturelle Effekt, ist eher empirischer Natur, er schließt aus der Summe individueller Prägungen darauf, daß die Ankunft des Religiösen letztendlich die Verflachung der Kultur auflöse, sie zumindest bändige. Mehr als die These, daß die Kultur den „spirituellen Kern“ der Gesellschaft ausmache, ihn befördere, wird hier argumentativ nicht geleistet. Daß Kulturen dann in ihrer Blüte stehen, wenn sie von der machtvollen Kraft der Religion durchdrungen sind, ist uralt und klingt in einem Essay, der für die Ankunft des Religiösen wirbt, geradezu antimodern. Hier hätte man sich tiefergehende Argumente gewünscht, als nur den Ausblick, daß sich in Bayern besser Urlaub machen läßt als in Sachsen-Anhalt, wobei hier ganz übersehen wird, daß dieser mitteldeutsche Landstrich die Wiege des Protestantismus und damit der aus dem Geist des Christentums erneuerten Religion ist. Von größerer Überzeugungskraft ist da schon das zweite, das politische Argument, das nicht nur von Carl Schmitts Gedanken ausgeht, daß die Politik nur säkularisierte Religion sei, sondern gerade auch die Bedeutung des Religiösen für das Politische hervorhebt. Nicht das Ökonomische regiere und funktionalisiere die Welt, wobei an diese Aussage ein großes Fragezeichen anzufügen ist, sondern ein religiös tradiertes Wertebewußtsein sei letztendlich der ausschlaggebende Funke, der das Pendel wieder zurückschlagen läßt, der für die neue Vitalität der großen Gemeinschaft steht, die sich eben auch ihrer religiösen Werte versichert, sich diese wieder in Erinnerung holt. Der Laizismus wird auf Dauer nicht durchzuhalten sein.

Auch im Blick auf die „geordnete Dynamik“ religiöser Gesellschaften sieht Weimer die Chance der Religion genau dann, wenn sie nicht in der „Besitzstandswahrung“ verharre, sondern sich als Gaspedal betätigt, dazu motiviert, aller Kassandra-Rufe und demographischer Niedergangsprognosen zum Trotz, dem extremen Kulturpessimismus, insbesondere in Deutschland, entgegenzusteuern. Ein Land, dem die religiöse Sinnperspektive abhanden gekommen ist, hat auch kein gesteigertes Interesse an seinem zukünftigen Weiterbestehen – was sich letztendlich, so Weimer, darin zeige, daß die Geburtenzahlen stetig zurückgehen. „Max Weber hat einst im Protestantismus die Ur-Kraft für den modernen Kapitalismus erkannt. Vielleicht liegt heute eine Ursache für die Lahmhaftigkeit des erodierenden Europas gerade in seinem Nihilismus. Eine Gesellschaft, die an nichts glaubt, kann auch nicht an ihre Zukunft glauben, geschweige denn an sich selber“ (S. 61).

Aber nicht nur der Beschleunigungseffekt, sondern auch der Entschleunigungs­effekt, wie der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa eindrücklich gezeigt hat, spielen – gerade im Zeitalter der Globalisierung – für das religiöse Bewußtsein eine große Rolle. Die Entschleunigung erweist sich als „Abwehrreflex auf die Beschleunigung der Globalisierung“, was für Weimer zur Folge hat, daß das entschleunigte religiöse Bewußtsein seine Kraftressourcen aus der wiederge­fundenen kulturellen Identität beziehen kann, daß es sich aufgrund dieser der modernen Raserei verweigert. „Man darf also davon ausgehen, dass, je mehr die Globalisierung voranschreitet, das Bedürfnis steigt, der damit einhergehenden Entfremdung einen Widerpart in Form einer geistigen Heimat zu bieten“ (S. 62) – was sich nicht dem Geist der Linken, sondern einem Wertekonservatismus verdanke, der dem globalisierten Kapitalismus entgegensteuert. „Die Bewahrung der Schöpfung ist letztendlich kein emanzipatorisches linkes, sondern ein national konservatives Anliegen. In einer Sphäre beschleunigter Globalisierung, in einer Welt des Veränderungsfanatis­mus sind die Konservativen die eigentlichen Revolutionäre unserer Zeit – vor allem die religiös bewußten Konservativen.“

Daß das Religiöse auch die außer Fugen geratene Demokratie korrigieren könnte, daran glaubt Weimer, gerade dann, wenn die postsäkularisierte Gesell­schaft zwischen Naturalismus und Religion schwanke, wie Jürgen Habermas formulierte. Hierbei beruft sich Weimer auf Denker wie Paul Kirchhof und den Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde, die davon ausgehen, daß sich eine demokratische Gesellschaft nicht selbst begründen kann, sondern es dazu Wertgrundlagen bedarf. Voraussetzungen also, die sie selbst weder geschaffen noch gewährleisten könne, was aber der Religion letztendlich eine „Fundamentalfunktion“ für den Staat zukommen läßt, so daß sie schließlich der geschwächten Demokratie zur Hilfe eilen kann. Dieses verzahnte Ineinandergreifen von Religion und Politik will Weimer dabei nicht auf Deutschland reduziert wissen, sondern stellt es als Leitbild einem neuen Europa voran, das seine integrativen Kräfte nicht nur aus ökonomisch-praktischer Vernunft in Stellung bringen sollte, sondern auch und insbesondere vor dem Hintergrund der gemeinsam prägenden abendländischen Geist- und Wertetradition. Der Kraft des Religiösen, die den marxistischen Dogmatismus aufgebrochen hat, obliegt es auch, die europäische Kultur als Bollwerk gegen den fanatischen Fundamentalismus islamischen Terrors zusammenzuschmied­en und in Stellung zu bringen.

Daß das Ethische und Normative zum Wesen der Religion gehöre, ist eine Selbstverständlichkeit, die sich aus allen Weltreligionen herausfiltern läßt. Auf sie zielt das dritte, das ethische Argument, das das Scheitern der individualist­ischen Religionen von New Age oder Esoterik darin begründet sieht, daß alle diese Aussteiger-Religionen einen fragmentarischen philosophischen Hinter­grund haben und ihnen die Tragkraft sowohl des ethisch Allgemeinen als auch die gesellschaftspolitische Bindungskraft fehlt. Weimers Glaubensbe­kenntnis in die integrative und innovative Kraft, die der Religion, insbesondere dem Christentum eignet, beschwört gerade jene Werte des Neuen Testaments, wie die Nächstenliebe, das Mitleid und die Vergebung, die einzig dazu in der Lage sind, einer totalen Laissez-Faire-Haltung, einer Vernutzung des Individuums im Zeitalter des Machbarkeitswahns, der ausgeprägten Sinnenleere entgegenzu­steuern. Auf die reflektierende Kraft der Religion gilt es sich zu besinnen. An der Religion wird man künftig nicht vorbeikommen, denn sie ist die sich zur Wehr setzende Bastion gegen einen zunehmend bedrohlicher werdenden Sinn- und Wertezerfall.

Kurzum: Weimers Buch beeindruckt. Es nimmt den Leser ein Stück weit mit in die Religionsgeschichte, es eröffnet einen kritischen Blick in die Moderne, verstärkt das leise Vertrauen in die gesunde Kraft des Religiösen. Nicht zuletzt ist es ein sehr gut geschriebenes kleines Buch, das in aller Kürze die wesentlichen Probleme der Religion, ihre Grenzen, aber auch das ihr zugrunde liegende Potential nachzeichnet.