Dürfen wir die Präimplantationsdiagnostik verbieten?

Einige philosophische Anmerkungen

Stefan Groß

Kaum eine Thematik bewegt die Gemüter so heftig, wie die derzeit geführten Diskussionen um die Prä­implan­ta­tionsdiagnostik (PID). Im aktuellen Diskurs um Erlaubnis oder Verbot der PID zeichnet sich immer mehr ab, daß die Ethik, die noch vor zweihundert Jahren, bei Kant, das normativ-kritische Geschäft bestimmend prägte, nunmehr dem Wissenschaftsdiskurs hinterherläuft.

Eine, wie Kant glaubte, auf die Vernunft allein rückführbare Autonomie der Person ist, zumindest in Extrem­situationen, wie bei der PID und bei der Demenz, unmöglich. Denn: Sowohl im Fall ungeborenen Lebens als auch bei einer akuten Demenz kann von selbst­be­stimmter Autonomie keine Rede sein. Bei Kant kamen Rechts­fähigkeit und Rechtswürdigkeit nur dem reflektierenden Individuum zu, sofern es in der Lage ist, sich sein sittlich-moral­isches Gesetz selbst aufzuerlegen, so stellt sich vor diesem Hintergrund die berechtigte Frage: Wie verhält es sich bei Personen, die entweder noch kein Selbstbewußtsein haben oder nicht immer in der Lage sind, sich als Individuen selbst zu bestimmen? Es geht also gar nicht mehr um die Frage der Rechtsfähigkeit auto­nomer Subjekte, sondern um den brisanteren Fall der Rechtswürdigkeit in Grenzsituationen. Wann, und ab welchem Zeitpunkt kommt dem Mensch Rechtswürde zu? Dies ist die Frage, die sich die moderne Ethik stellen muß.

Für viele christliche Denker beginnt menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samen­zelle. Jede Manipulation am Embryo stellt bereits einen Eingriff dar, der nicht toleriert wird. Man befürchtet, daß durch die moderne Medizintechnik alle Grenzen über­schritten werden – das berühmte Dammbruchargument. Der Mensch, so der Vorwurf aus dem christlichen Lager, greift in die Schöpfung ein, indem er sich anmaßt, über Leben und Tod zu entscheiden.

Es herrscht aber nicht nur im christlichen Lager Angst vor einem medizinischen Verfahren wie der PID; auch viele Nichtreligiöse stellen eine derartige Diagnostik in Frage.

Ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt, daß der Gedanke einer „Auswahl“ nicht nur Fiktion, sondern Realität war. Im Nationalsozialismus fand diese genetische Selektion im so­genannten T 4 Euthanasieprojekt von 1939 ihren Höhepunkt. Experimente an und mit Be­hinderten standen in den Konzentrationslagern nicht nur auf der Tagesordnung, sie waren Teil eines Gesundheitsfanatismus, in dem Behinderte keinen Platz hatten. Viele Gegner sehen in der PID daher nur eine zeitlich vorgeschobene Auswahl.

Der Gedanke der Selektion und die damit verbundene Idee einer Eliteclique sind aber keineswegs „Erfindungen“ des Nationalsozialismus. Bereits Platon und Thomas von Aquin rechtfertigen in gewissen Fällen eine Auslese, die nicht natürlich ist. In Platons Staat finden sich Passagen, wo eine aktive Euthanasie nicht mit ethischen Standards kollidiert. Geistig behinderte Kinder, so argumentiert Platon, sind entweder durch „niedrige“ Volks­schichten zu erziehen oder ganz aus dem sozialen Verbund auszuschließen. Wer nicht dazu in der Lage ist, am Nous teilzuhaben, dem also das intellektuelle Leben, das Leben an sich, versagt ist, dessen Menschsein siedelt auf einer niederen Stufe. In einer Staatsordnung, die nur auf den Elitetyp, den starken Menschen, wie später Nietzsche hervorhebt, abzielt, hat das „minderwertige“ Lebewesen eben keinen Platz.

Eine Abstufung innerhalb der Menschwerdung kennen aber auch Aristoteles und der schon genannte Thomas von Aquin. Für sie beginnt menschliches Leben erst dann, wenn die Seele in den Leib kommt. Der Akt der Beseelung, der bei Jungen um den vierzigsten und bei Mädchen um den neunzigsten Tag angesetzt wird, ist aus­schlaggebend für den Status mensch­lichen Seins. Vor diesem Zeitpunkt ist eine Selektion, hier eine Abtreibung, aus ethischer Sicht unbedenklich.

Der folgende Aufsatz, der für eine eingeschränkte Zulassung der PID wirbt, gliedert sich wie folgt. Im ersten Kapitel ist der Frage nachzugehen, was unter einer PID zu verstehen ist (1.). Daran anschließend sollen die Argumente der Befürworter und der Gegner dieses diag­nost­isch-medizinischen Verfahrens zur Sprache kommen (2.). Ein drittes Kapitel geht der Frage nach, wie sich Philosophen zu dieser Thematik positionieren (3.). Im ab­schließenden Absatz wird versucht, Argumente zu finden, die eine PID – unter gewissen Rahmenbedingungen – rechtfertigen (4.).

1. Was versteht man unter einer PID?

Laut Embryonenschutzgesetz von 1990 ist die PID in Deutschland bislang verboten, wenn­gleich England, die Niederlande und Belgien diese erlauben. In Deutschland wird die Thematik über ein Verbot oder über eine Erlaubnis seit mehreren Jahren diskutiert. Die Stimmen jedoch, dieses Verbot aufzuheben, um behinderten Paaren die Chance zu geben, ein gesundes Kind zu bekommen, werden lauter.i

Voraussetzung für die genetische Untersuchung am Embryo ist die sogenannte In-vitro-Fertilisation, die künst­liche Befruchtung, die in Deutschland nicht unter Strafe gestellt wird. Seit über zwanzig Jahren wird dieses Ver­fahren erfolgreich praktiziert. Für Ehepaare mit Fer­tilitätsproblemen ist die künstlich im Reagenzglas befruchtete Ei­zelle die einzige Möglichkeit, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Von den im Reagenzglas befruchteten Eizellen dürfen – laut Embryonenschutzgesetz – nur drei Embryonen in die Gebärmutter implantiert werden. Das Ver­­fahren erweist sich als äußert kompliziert und stellt für das Paar, insbesondere für die Frau, eine hohe physische und physische Belastung dar, da man die Implantation mehrere Male wiederholen muß. Die Chance durch eine In-Vitro-Fertilisation ein Kind zu bekommen, liegt statistisch gesehen bei 25 Prozent.

Bei der PID hingegen handelt es sich um ein neuartiges Verfahren, das zugleich für eine neue Qualität in der Gen­diagnostik steht. Die PID wird nach dem 3. beziehungsweise 4. Tag im so ge­nannten Achtzellstadium vorgenommen. Jede einzelne Zelle ist zu diesem Zeitpunkt totipotent. Aus jeder einzelnen Zelle kann sich also ein kompletter Organismus entwickeln. Bei diesem Verfahren werden dem Embryo zwei Zellen entnommen, die auf mögliche genet­ische Schäden, Erbkrankheiten oder schwerste Behinderungen untersucht werden. Bei der Zellentnahme werden die zwei zur genetischen Untersuchung entnommenen Zellkörper zer­stört. Aus medizin­ischer Sicht ist die Entnahme unkompliziert, da sich die übrigen Zell­einheiten ungehindert weiterentwickeln können. Die entnommenen Zellen werden in einer Zellkultur kultiviert. Ist das Resultat positiv, ist eine schwere Behinderung nachweisbar, wird der ganze Embryo vernichtet und nicht in die Gebärmutter implantiert.ii

2. Pro- und Kontradiskussionen

Wie bereits hervorgehoben wurde, sehen die Befürworter der PID in dieser Methode den Vorteil darin, kranke Zellen in einem frühen Stadium auszusondern. Die Gegner dieses Ver­fahrens haben aber davor Angst, daß hier eine Selektion zu einem frühen Zeitpunkt vorge­nommen wird. Dennoch, so ließe sich dagegen festhalten: Wer wünscht sich kein gesundes Kind, wenn die Möglichkeit einer „Schadensbegrenzung“ besteht?

Immer wieder wird, insbesondere von Behindertenverbänden, hervorgehoben,iii daß die Zu­lassung dieses Ver­fahrens zu einer Ausgrenzung von Behinderten führe, denn hier sei ein ver­schobenes Welt- und Idealbild zu­grunde gelegt, durch das Behinderte immer wieder auf ihre Schäden, als Menschen zweiter Klasse, reduziert werden. Tatsächlich fühlen sich viele Be­hinderte durch die Art und Weise der Diskussion in ihrer Menschen­würde verletzt, die Gefahr, daß sich dadurch die ohnehin schon große Schere zu den „Gesunden“ weiterhin öffnet, ist ein Argument, das überzeugt. Doch auch hier ließe sich dagegenhalten, daß es den Befürwortern der PID nur um eine Zulassung eines diagnostischen Verfahrens geht, der Status lebender Behinderter wird überhaupt nicht in Frage gestellt.

Immer wieder wird von den Gegnern der PID, als Unterstützung ihrer Argumentation, die These von der Heilig­keit des Lebens ins Spiel gebracht. Das Leben, so heißt es, ist unantast­bar und keiner hat das Recht, über Existenz oder Nichtexistenz zu entscheiden. Aber auch hier läßt sich allerdings die berechtigte Frage stellen: Ist das Argument von der Heiligkeit des Lebens tragbar, wenn es sich um schwerste Behinderungen handelt? Kann man diese einem werdenden Menschen zumuten, wird da die Heiligkeit nicht zum Scheinargument? Darf man, nur weil man an tradiert-christlichen Wertvorstellungen festhält, eine Schwerstbehinderung in Kauf nehmen?

Kurzum: Die Befürworter der PID wollen einen gesunden Menschen um den Preis, daß Embryonen vernichtet werden. Die PID-Gegner wollen keinen Dammbruch und halten an der Heiligkeit und Unantastbarkeit der Würde des Zellhaufens fest. Dabei übersehen sie, daß nicht jedes Familienteil in der Lage ist, sein ganzen Leben lang Verantwortung für den Be­hinderten zu übernehmen, von den Leiden der Schwerstbehinderten einmal ganz abgesehen.

Sicherlich vermag auch ein Schwerstbehinderter eine „glückliche Existenz“ haben, doch das er sich für dieses „schwere Glück“ selbst entschieden hätte, bleibt ja äußerst fraglich.

Nach aktuellen Statistiken haben bislang weltweit nur wenige weibliche Personen von der PID Gebrauch gemacht. Es handelt sich bei dem Verfahren also noch um keine gängige Methode.

Ganz anders verhält es sich mit der Pränatalen Diagnostik (PND).iv Seit langem erweist sich die PND als praxis­tauglich und wird täglich von Millionen Müttern praktiziert. Durch Frucht­wasseruntersuchen, durch Ultraschall u.a. ist die Pränatale Diagnostik auf ein hohes Niveau gelangt. Bedenken aus ethischer Sicht stehen diesem Ver­fahren nicht im Weg. Die Zielsicher­heit der Untersuchungsergebnisse und die – bei festgestellten Erkrankungen – Möglichkeit, bereits im Mutterleib medizinische Maßnahmen zur Behandlung einzuleiten, stehen ebenfalls auf der Tagesordnung.

Viele Gegner der PID plädieren daher für die PND. Hintergrund ihrer Argumentation ist, daß während der Schwangerschaft, selbst wenn eine Behinderung festgestellt wird, es zu einer un­mittelbaren Mutter-Kind-Beziehung kommen könnte, die darauf hinausläuft, daß sich die Mutter mit dem Krankheitsbild identifiziert, die Behinderung also in Kauf nimmt und das Kind zur Welt bringt. Dieses unmittelbare Verhältnis sei mit der Diagnose im Reagenzglas nicht vergleichbar, da sich hier überhaupt keine Beziehung aufbauen ließe.

Auch wird von den Gegnern immer wieder ins Feld geführt, daß eine PID eine PND, als Nachsorge- bzw. Be­gleituntersuchung, nach sich ziehe, denn selbst wenn keine genetischen Schäden im Reagenzglas festgestellt werden können, so besteht immer noch die Möglichkeit einer Schädigung während der Schwangerschaft. Ver­kürzt gesagt: Die PID ist keine Garantie für ein gesundes Kind.

Des Weiteren wird moniert, daß die Frau zur Embryonenerzeugung künstlich hormonell stimuliert werden muß, was eine seelische Belastung mit zur Folge habe. Da zu dem Ver­fahr­en überzählige Embryonen benötigt werden, um die Untersuchungen an diesen vorzunehmen, sehen viele Gegner die Gefahr, daß überzählige Embryonen, die nicht implantiert werden ent­weder eingefroren oder einfach weggeworfen werden. Die Züchtung von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken ist aber weiterhin verboten.

Immer wieder wird auch darauf hingewiesen, daß eine Untersuchung an nicht totipotenten Zellen ethisch vertret­barer ist. Im Gesetz zum Schutz von Embryonen heißt es in Paragraph 8: „Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige men­schliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo ent­nommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraus­setzungen […] zu einem Individuum zu entwickeln vermag.“

Von den sogenannten totipotenten, den Alleskönnern, unterscheiden sich die pluripotenen und die omnipotenten Zellen. Pluripotente Zellen sind spezifisch-ausgeprägterer Natur als toti­po­tente. Aus ihnen kann sich kein komplett neuer Organismus bilden, sondern nur bestimmte Organe. Aus omnipotenten Zellen schließlich vermag sich nur ein bestimmtes Organ zu bilden.

Die Gegner der PID möchten die Untersuchung daher auf einen späteren Zeitpunkt verlagern, auf die Zeit, wo die Zellen nicht mehr totipotent, sondern pluripotent sind, da durch eine genetische Untersuchung der Blasto­zyste zumindest nicht der Embryo, dem „die Fähigkeit zur Ausbildung eines vollständigen Individuums“v zu­kommt, zerstört wird. Dabei wird die Biop­sie nicht mehr am embryonalen Material, sondern am Throphoplast­material, der späteren Pla­zenta vorgenommen. So sehr aber für diese spätere Untersuchung geworben wird, das Ver­fahren ist noch keineswegs ausgereift.

Immer wieder diskutiert wird eine frühere Methode, die sogenannte Polkörperdiagnostik. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, wobei die Eizelle von injizierten Spermien durch­leuchtet wird, ohne daß dabei Zellen vernichtet werden.

M. Ludwig und K. Dietrich schreiben dazu:

Zwar wäre die Entnahme von Zellmaterial in Form der Polkörperbiopsie der Oozyte ethisch weniger problematisch, da es sich hier um einen Gameten und nicht um ein neues genetisches Individuum handelt, die Beschränkung auf das mütterliche Genom und die Gefahr eines crossing over, d.h. der Austausch von Genmaterial zwischen Eizelle und Polkörper, würde dazu führen, daß der Untersuchende in der irrtümlichen Anlage befangen sein könnte, die Eizelle enthielte ein betroffenes Gen nicht – da es sich ja im Polkörper nachweisen ließ – obwohl tatsächlich ein Genaustausch stattgefunden hat und nun das betroffene Gen sowohl in der Eizelle als auch im Polkörper zu finden ist“.vi

Kurzum: Innerhalb des medizinischen Diskurses wird weiterhin nach Alternativmethoden ge­sucht, um die Untersuchung an totipotenten Zellen zu vermeiden. Dabei spielen auch ethische Argumente eine beträchtliche Rolle, denn, wann, so gilt es zu klären, beginnt menschliches Leben?

3. Ethische Aspekte

Auf die Frage, wann menschliches Leben beginnt, wann es zu schützen sei, antworten Philo­sophen ganz unterschiedlich. Zwei Positionen seien hier stellvertretend benannt: Ent­weder man argumentiert wie Spaemann,vii Hösle und Honnefelder oder man schließt sich an die Positionen von Singer, Nida-Rümelin und Birnbacher an. Während Spaemann, Hösle und Honnefelder eine medizinische Technik wie die PID verurteilen, weil sie eben nicht mit der philosophischen Tradition des Abendlandes vereinbar sei und sie darin die Gefahr eines Damm­bruchs, einer radikalen Grenzüberschreitung sehen, bezieht Singer auf der anderen Seite eine weitaus extremere Position.

Peter Singer distanziert sich nicht nur von der christlichen Tradition abendländischer Pflicht- und Wertvor­stell­ungen, er plädiert für eine Ethik, die mit den traditionellen Menschenbild (der Mensch als Ebenbild Gottes, die Heiligkeit der Schöpfung, die Unantastbarkeit der Würde) radikal bricht. Singer plädiert nicht nur für die aktive Sterbehilfe, er argumentiert vor allem – aus der Sicht der Tierethik –, daß das Selbstbewußtsein einen Menschen erst zur Person mache. Hochentwickelte Tiere haben nicht nur ein ausgeprägteres Schmerzempfinden, das den menschlichen Schmerzen gleichgestellt ist, sie haben eine Art von Selbstbewußtsein – zumindest höhere Primaten –, das ausgeprägter als bei einem Embryo in dem frühen Stadium seiner Entwicklung ist.

Singer fordert daher nicht nur eine neue Form von Tierhaltung, kritisiert Massentierhaltung und plädiert für eine schmerzlose Tötung, sondern glaubt, daß Abtreibung bis zum 7. Monat kein ethisches Problem darstelle, weil der Fötus bis zu diesem Zeitpunkt noch kein Selbst­be­wußtsein habe. Er geht dabei von einem präferenz­utili­tar­istischen Denkansatz aus, in dessen Mittelpunkt die Forderung des größtmöglichen Glücks für eine größt­mög­liche Zahl an Personen steht.viii Die Präferenzen der vernunftbegabten Lebewesen sind gewichtiger als die von nicht vernunftbegabten Wesen. Ohne Gehirn kein Mensch.

Auch der ehemalige Kulturstaatssekretär Nida-Rümelin hielt daran fest, daß eine Abtreibung dann erlaubt sei, wenn der Mensch kein Selbstbewußtsein habe. Der Zeitraum selektiver Ein­griffe, so erklärte Nida-Rümelin, erstrecke sich nicht nur auf die Zeit des pränatalen Lebens, sondern könnte bis ins zweite Jahr nach der Geburt ausgedehnt werden. Diese These löste eine Welle von Protesten aus.

Ganz anders als Peter Singer und Nida-Rümenlin argumentiert Honnefelder. In seinem Auf­satz „Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryos“ stellt er sich die Frage: „Ist sein [dem menschlichen Embryo in vitro, Herv. S.G.] moralischer Status dem des Embryos in utero vergleichbar, und wie ist dieser Status überhaupt zu bestimmen?“ix Aus­geh­end vom Gedanken, daß der Mensch einen Wert, ein Gut an sich dar­stellt und „es zum Menschen gehört, ein Lebewesen zu sein, das seiner Natur nach das Vermögen besitzt, selbst­gesetzte Zwecke zu verfolgen, können wir den Menschen mit Kants Sprachgebrauch auch Person nennen und ihm im Hinblick auf den unbedingten Wert, der ihm als Zweck an sich selbst zukommt, eine Würde zuschreiben, die ihn der Abwägung gegen andere Güter entzieht und die deshalb als unverletzlich gelten muß.“

Honnefelder fragt in diesem Zusammenhang immer wieder nach dem moralischen Status menschlichen Lebens. Dieser, so hält er fest, kommt nicht nur dem geborenen Menschen zu, sondern bereits dem ungeborenen Lebe­wesen, das sich zu einem Mensch entwickelt. Von den Kategorien der „Identität“, „Kontinuität“ und „Potentiali­tät“ ausgehend, sucht er nach einer Begründung seines Arguments: So schreibt er:

Es ist also die reale und aktive Potenz eines bereits existierenden Lebewesens, die die Identität und Kontinuität mit dem später geborenen Menschen begründet. Damit wird deutlich, daß Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies, Identität, Kontinuität und Potentialität Aspekte sind, die in wechselseitig sich bedingender Weise und deshalb voneinander nicht trennbar die embryonale Entwicklung eines Lebewesens kennzeichnen. In dieser spezifischen Verbindung sind sie die Grundlage für das Argument, den Beginn des Menschseins auf den Beginn dieser Entwicklung zurückzuführen.“x

Honnefelder weist sowohl die Position einer „Theorie von Rechten“ als auch den „Präferenzutilitarismus“ zurück. Der Status des Embryos, ihn zu schützen, ist weder von seiner Schmerzempfindlichkeit noch von utili­taristischen Erwägungen, wie sie Singer einklagt, abhängig.

Wie Jürgen Habermas geht er davon aus, den „Achtungsanspruch“ des Lebens „um die For­derung zu erweitern, den ungeborenen Menschen ‚in Antizipation seiner Bestimmung wie eine zweite Person zu behandeln, die sich, wenn sie geboren würde, zu dieser Behandlung verhalten würde‘.“xi

Honnefelder hält fest:

Geht man vom Begriff ‚Lebewesen‘ aus und versteht darunter eine selbständige, aus sich heraus lebende, sich selbst gemäß einem eigenen individuellen Genom organisierende und zur Ganzheit eines Exemplars der Art entwickelnde und als solche sich replizierende Einheit, dann beginnt ein neues Lebewesen von der Art des Menschen nach abgeschlossener Befruchtung, also dann, wenn mit den ersten Zellteilungen die selbstgesteuerte und gemäß dem individuellen Genom sich vollziehende Entwicklung eines Lebewesens einsetzt.“xii

Den moralischen Status embryonalen Lebens läßt Honnefelder nicht für das sogenannte Vor­kernstadium, d.h. vor der Verbindung von Ei- und Samenzelle zu, sondern gesteht nur der be­fruchteten Eizelle eine reale Poten­tialität zu, denn:

[…] es ist nicht die reale Potentialität der beiden noch getrennten haploiden Chromosomensätze zu einem neuen Lebewesen, sondern die reale Potentialität der befruchteten Eizelle als einem neuen Lebewesen, die gemäß dem genannten Ansatz als Kriterium für den Beginn des Lebens dieses Lebewesens zu betrachten ist. Von daher scheint es im Hinblick auf die zu treffende Abgrenzung als gerechtfertigt, die abgeschlossene Befruchtung und die damit einsetzende selbstgesteuerte Entwicklung als den Beginn des Lebens eines eigenen – genetisch und numerisch individuellen – Lebewesens zu betrachten.“xiii

4. Ein Votum für die PID

In Anbetracht der vielen Diskussionen, die durch die Möglichkeit einer PID-Diagnostik aus­gelöst werden, ist es schwierig, sich eineindeutig zu positionieren. Viele Argumente der PID-Gegner scheinen auf den ersten Blick überzeugend. Dennoch zeichnet sich im aktuellen Dis­kurs eine Scheinmoral ab. Es ist nicht nur aus logischer Sicht unerklärlich, warum man die PID verbietet, wenn man die PND zuläßt. Wenn die Abtreibung bis zu einem gewissen Zeit­punkt erlaubt ist (Fristenregelung und bei der Gefährdung der Mutter noch bis zu einem späteren Zeitpunkt), warum verwehrt man sich gegen das diagnostische Verfahren der PID? Die Argumentation, daß eine Mutter abtreibt, weil sich durch PND feststellen ließ, daß der Fötus nicht gesund auf die Welt kommen wird, und eine Abtreibung daher der einzige Aus­weg sei, um der Mutter ein lebenswerteres Leben zu ermöglichen, siedelt auf einer schiefen Ebene. Selbst Spätabtreibungen werden nicht unter Strafe gestellt, wenn eine dauerhafte Situation der Mutter vorliegt, die sie physisch und psychisch allzu sehr belastet. Ein Abbruch der Schwanger­schaft wird dann sogar angeraten.

Aufgrund des flächendeckenden Angebots einer PND in Deutschland, den präzisen Möglich­keiten der Diag­nostik, kommt es zu immer mehr Schwangerschaftsabbrüchen, wenn ein genetischer Defekt erkannt wird. Wenn man der PID also vorwirft, ein rein selektierendes Verfahren zu sein, dann übertrifft sie die PND an Quantität bei weitem.

Kurzum: Die Gegner der PID lassen eine Tötung nach PND-Diagnose zu, sehen aber im Ver­fahren der PID eine Selektion. Meines Erachtens ist aber jede Abtreibung ethisch verwerf­licher als eine Untersuchung im Reagenz­glas. Wenn man wie die PID-Gegner das Verfahren aus ethischen Gründen für bedenklich erklärt, weil die Schutzwürdigkeit des Embryos verletzt wird, ist die Zulassung oder Gewährung einer späten Abtreibung eine Farce.

Spätabtreibung ist wie der CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe schreibt, „nichts anderes als Früheuthanasie“. Diese unterscheide sich von der Kindstötung nur dadurch, daß sie im Mutterleib stattfindet. „Ein geborenes Kind zu töten“, so Hüppe weiter, „ist strafbar“. Spätabbrüche dagegen nicht. Sie „werden dazu noch von den Krankenkassen finanziert“.

Auch der Jenaer Professor Knoepffler betont: „Während auch mit Berufung auf die Men­schenwürde eines menschlichen Keims im 8-16 Zellstadium die Präimplantationsdiagnostik mit einer möglichen anschließenden Nicht-Implantation in unserem Land de facto verboten ist, darf ein Mensch mit menschlichem Antlitz und schlagendem Herz im Mutterleib wegen eines genau gleichen pränataldiagnostischen Befunds getötet werden.“xiv

Man sollte, so meine ich, in der PID ein Verfahren erblicken, das einer PND vorauszugehen habe. Im Blick sind dabei diejenigen Eltern, die selbst behindert sind, und die den be­recht­igt­en Wunsch haben, ein gesundes Kind zur Welt bringen zu dürfen. Ein Beschluß der Bundes­ärztekammer aus dem Jahr 2000 fordert bereits eine Zulassung der PID in gewissen Fällen. Bei diesen, wo genetische Schäden des Embryos auf vererbte Krankheits­bilder der Eltern zu­rückgehen, wäre eine PID ein höchst sinnvolles Verfahren. Sie zu verbieten, um zu einem späteren Zeitpunkt abzutreiben, ist pervers. Spätere Schwangerschaftsabbrüche könnten durch dieses Verfahren vermieden werden. Die Entscheidung, ob der Embryo in vitro weiter kulti­viert oder verworfen werden soll, ist meines Erachtens eine, die ebenfalls, wie beim späteren Schwangerschaftsabbruch, bewußt gefällt werden muß.

Die Art und Weise, wie über die PID in Deutschland diskutiert wird, beklagt auch der prak­tische Philosoph Kodalle, wenn er schreibt:

Die Selektivität der Wahrnehmung ethischer Relevanz lässt sich an vielen Beispielen ablesen. Jeder Bürger weiss, dass durch massenhaft verbreitete Techniken die ‚Einnistung‘ befruchteter Eizellen verhindert, also das Absterben dieser Embryonen billigend in Kauf genommen wird.“xv

Um ethische Kohärenz zu erzielen, müßte man, wie Kodalle hervorhebt, jede Form von Selektivität, seien dies Spiralen, Nidationshemmer u.a. ablehnen. In diesem Zusammenhang distanziert er sich von uneinheitlichen Argumentationsmodellen. Entweder plädiert man für die PID und nimmt dabei auch die Probleme, die sich aus diesem Verfahren ergeben in Kauf oder man muß – unter scheinheiligen Argumenten – die Abtreibungspraxis ändern. Statt ethische Inkonsequenz zu erzielen, fordert Kodalle eine „Gesamtschau“. So bemerkt er:

Ich plädiere [...] für ein Ethos, das in sich stimmig ist in seinen Wertorientierungen. Wer also im öffentlichen Diskurs gegen die Forschung mit ES und gegen PID mit Entschiedenheit auftritt, der sollte ebenso entschieden den Gesetzgeber auffordern, den Verbrauch von importierten embryonalen Stammzellen für Forschungszwecke strikt und mit gewichtiger Strafandrohung zu unterbinden.“xvi

Weiter heißt es:

Jede Art, sich eine ethische Doppelstrategie zu leisten, ist verwerfliches Parasitentum. Und das gilt erst recht für die weitere Konsequenz: Sollten im Ausland in der Forschung an Embryonen Medikamente von revolu­tion­är­er Heilkraft gewonnen werden, müsste deren Ver­schreibung in Deutschland aus ethischen Gründen untersagt werden. Auch ein Kranken­tourismus ins Ausland wäre unter die Androhung empfindlicher Strafen zu stellen. Alles andere wäre ethisch dubios – eben: parasitär und damit verachtenswert. Dabei spielt es keine Rolle, daß grundsätzlich ein Unterschied besteht zwischen der moralisch verwerflichen Her­vorbringung eines ‚Gutes‘ einerseits und der legalen Nutzung dieses Gutes andererseits. Falls diese Phantasie eines parasitären Ethos nicht ganz abwegig sein sollte, fände ich mich lieber auf der Seite der böse Handelnden (sofern diese in ihren Motivationen nicht primär vom Profitinteresse getrieben sind)“.xvii

So sehr ich diesem Verfahren der Frühdiagnostik zustimme, so sehr gilt es zu bedenken, daß dieses nicht allen Paaren ermöglicht werden kann, sondern tatsächlich nur auf diejenigen be­schränkt werden soll, wo eine genetische Schädigung nicht ausgeschlossen werden kann. Anders als der Philosoph Birnbacher, der an einer genetischen Selektion nichts Verwerfliches findet und mehr Vorteile als Gefahren in diesem Verfahren sieht, scheint mir eine gewisse Vorsicht geboten. Für Birnbacher resultiert die persönliche Entscheidung auf ein gesundes Kind aus der „heute bereits bestehenden Freiheit, über Zahl und zeitliche Verteilung der eigenen Kinder zu entscheiden [...]“.xviii

Selbstverständlich ist die reproduktive Freiheit kein absoluter Wert. Aber solange die Risiken und Nachteile der Selektion keine wirklich dramatischen Dimensionen annehmen, halte ich die reproduktive Freiheit axio­logisch für den wichtigeren Wert.“xix Einige Seiten zuvor heißt es: „Insofern die Qualitätskontrolle eine Er­weiterung der reproduktiven Freiheit darstellt, gibt es keinen Grund, weshalb wir damit nicht fortfahren sollten.“xx

Sollte die radikale Freiheit aber dazu führen, daß der Wunsch nach dem perfekten Kind, dem so­genannten Designerbaby überwiegt, dann ist ausdrücklich vor dieser Diagnostik zu warnen. Hierbei geht es ja keineswegs mehr um eine Vorbeugungsmaßnahme, sondern um ein Wert­ideal, das sich mit der Würde des Menschen nicht vereinbaren läßt. Daß diese Grenze nicht überschritten wird, dafür plädiere ich mit aller Nachhaltigkeit.


i Knoepffler, N., Das Prinzip der Menschenwürde vor dem Hintergrund der aktuellen medizinischen Debatten, in: Ärzteblatt Thüringen, 16. Jahrgang, Dezember 2005, S. 569-572.

ii Vgl. zur Thematik: Hofmann, H., Die versprochene Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 1993, S. 353ff. Vgl. Luhmann, N., Grundrechte als Institution, 41999. Vgl. Lorenz, D., Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Isensee, J, Kirchhof, P. (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, Heidelberg 22001. Vgl. Ethik in der Medizin, Bd. 11, Supplement 1, 1999, Von der prädikativen zur präventiven Medizin – Ethische Aspekte der Präimplanationsdiagnostik, hg. v. M. Düwell, D. Mieth, und B. Roll, Heidelberg/Berlin 1999. Vgl. Nida-Rümelin, J., „Keine Verletzung der Menschenwürde“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 4. Januar 2001, S. 3. Vgl. Schmoll, H., Wann wird der Mensch ein Mensch?, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), vom 31. Mai 2001, S. 10. Vgl. Höffe, O., Honnefelder, L., Isensee, J., Kirchhof, P., Gentechnik und Menschenwürde, An den Grenzen von Ethik und Recht, Köln 2002. Siehe auch: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 50, 11. Dezember 1998. Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 9, 3. März 2000.

iii Vgl. Neuer-Miebach, T., Welche Art von Prävention erkaufen wir uns mit der Zulässigkeit von Präimplantationsdiagnostik, in: Ethik in der Medizin (1999), S. 125-131. Vgl. ebenfalls: Ethische Herausforderungen durch die Verheißung der Gentechnik, aus: Behindertenpädagogik, 40. Jg., Heft 1/2001, S. 6-22.

iv Vgl. zur Thematik: Braun, A., Spätabbrüche nach Pränataldiagnostik, Der Wunsch nach dem perfekten Kind, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 103, Heft 40, 6. Oktober 2006, S. 2612ff.

v Vgl. Laufs, A., Die deutsche Rechtslage: Zur Präimplantationsdiagnostik, in: Ethik in der Medizin (1999), S. 55.

vi Ludwig, M; Diedrich. K., Die Sicht der Präimplantationsdiagnostik aus der Perspektive der Reproduktionsmedizin, in: A.a.O., S. 41.

vii Vgl. Spaemann, R., Die schlechte Lehre vom guten Zweck, (FAZ), Samstag, 23. Oktober 1999, Nummer 247.

viii Vgl. Kodalle, K.-M., Philosophie und Bioethik, Das Problem der Forschung an/mit Embryonalen Stammzellen, in: Zukunftsfragen der Gesellschaft, Vorträge des 2. Symposions vom 22. Februar 2002 (Stammzellforschung), hg. v. E. Lütjen-Drecoll, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 2002, S. 35-49, hier: S. 39.

ix Honnefelder, L., Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryos, in: Gentechnik und Menschenwürde, An den Grenzen von Ethik und Recht, hg. v. O. Höffe, L. Honnefelder, J. Isensee, P. Kirchhof, Köln 2002, S. 80. Vgl. ders., „Der Mensch droht zu stolpern“, in: Der Spiegel, 27.09.1999, Nr. 39, Seite 317-318.

x Honnefelder (2002), S. 91.

xi A.a.O., S. 93. Vgl. Habermas, J., Die Zukunft der menschlichen Natur, Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/Main 2001, S. 120.

xii Honnefelder (2002), S. 96.

xiii A.a.O., S. 97.

xiv Knopffler (2005), S. 570f.

xv Kodalle (2002), S. 41.

xvi A.a.O., S. 46.

xvii A.a.O., S. 46f.

xviii Birnbacher, D., Selektion von Nachkommen, Ethische Aspekte, in: Die Zukunft des Wissens, hg. v. J. Mittelstraß, Berlin 2000, S. 457-471, hier: S. 471.

xix Birnbacher, D., ‚Quality control‘ in reproduction – what can it mean, what should it mean? In: Genetics in human reproduction, Aldershot 1999, hg. v. E. Hildt und S. Graumann, S. 119-126, hier: S. 123.

xx A.a.O., S. 120.