Elmar Holenstein unternimmt mit seinem Atlas der Philosophie, für den er von der Kritik bislang durchweg gelobt wird, zweierlei: Offiziell – dies ist ein tatsächliches Desiderat–, hat er die Absicht, ‚Philosophie‘ nicht mehr aus der einer vom Geschichtsdenken dominierten Sichtweise zu zeigen, d.h. als Entwicklung im Fahrtwind technisch-zivilisatorischer Progression, sondern in ihrer topographischen Anordnung. Inoffiziell geht es dem Phänomenologen, der professionell wie biographisch mit der asiatischen Philosophie verbunden ist, um deren Gleich- oder auch Höherstellung gegenüber der europäischen. So sind die meisten der im ersten Teil des gestalterisch hochwertigen Buches behandelten Philosophen diejenigen, die Jahrtausende vor dem ‚okzidentalen‘ Philosophieren bestimmend waren und für viele deren Leser tatsächlich nicht zu ‚verorten‘, geschweige denn bekannt sind.
Der Arbeitsaufwand, welcher im vorliegenden Atlas steckt – nicht zu reden vom professionellen Erfahrungsschatz seines Autors –, und die erstmalig vollständige Umsetzung der Idee macht das Werk unvergleichlich. Besonders bemerkenswert ist dabei der erste der Kartenteile, der Modelle von Anfänglichkeit (der Menschheit überhaupt) nebeneinander stellt: ‚Out of Africa‘-Modelle, Hegels Weltgeisterzählung, Jaspers Hypothese der Achsenzeit werden hier graphisch umgesetzt. Die zweite Kartengruppe verzeichnet sodann kulturelle bzw. kulturtechnische Bedingungen (Schriftlichkeit, Regierungsform etc.) des Philosophierens. Erst im dritten Kartenteil wird die Philosophie selbst in vier ‚Geschichten‘ nachgezeichnet, zuzüglich einer Zukunftsspekulation. Die Geschichten stehen im Zeichen jeweils einer der vier Himmelsrichtung. Dabei oszilliert Holenstein (im Rückbezug vor allem auf den ersten Teil) zwischen regionaler Verteilung oder interregionaler Beeinflussung bzw. transregionalen Wanderungsbewegungen von Philosophien und den Modellen von geographischer Abhängigkeit des Denkens, welche diese Philosophien selbst artikulieren.
Mit diesem Punkt wird der großartige Versuch jedoch zum Gefangenen seiner Idee: Physische und ‚mentale‘ Geographie sind für Holenstein nicht wirklich verschieden. In diesen Dingen, so drastisch muss man es leider sagen, ist der gern belächelte Philosophie-Atlas im Deutschen Taschenbuch Verlag schon weiter gewesen (ohne dies vielleicht beabsichtigt zu haben). Philosophien – oder allgemeiner: Theorien (nicht ethnozentrisch gesprochen auch: ‚Lehren‘) – lassen sich nicht in die Ebene einer Karte der physisch-politischen Geographie projizieren, Adressen von Philosophen (die nochmals in einem alphabetischen Verzeichnis den zweiten und umfangreichsten Hauptteil des Nachschlagewerkes ausmachen) hingegen schon.
Die Herausforderung hätte vielmehr darin bestanden, (vor allem im Falle der ‚westlichen‘ Philosophie) eine Begriffskarte anzufertigen, d.h., die Entstehung, den Transport, die Wiederaufnahmen und Umschichtung von ‚Ideen‘ (im weitesten Sinne) zu kartieren. – Mit anderen Worten: Statt einer Topographie von Denkern nach dem Vorbild der physischen Geographie, hätte er eine Topologie des Denkens anfertigen müssen. (Der unterhaltsame Atlas der Erlebniswelten im Verlag Eichborn wagt sich im Rückgriff auf die Tradition der Gefühlskartographie in der Frauenliteratur des 17. Jahrhunderts in seinen guten Momenten in eben diese Richtung.) Dies ist zugegeben ein schwieriges Unterfangen, aber die Philosophie ist ein anspruchsvolles Fach. – Also: Was wird aus ‚Platon‘ oder ‚Aristoteles‘ (als Name für ein Denken, nicht eine Person), wenn der eine als christliche Meistererzählung in Zentraleuropa fortgeschrieben wird, der andere als ‚Wissenschaft‘ über den Nahen Osten wieder eintritt nach Europa? Wie sieht die Welt aus (als Figur des Denkens) für einen Husserl, der die Erde nachkopernikanisch rezentralisieren möchte? Die anzufertigenden ‚Karten‘ wären nicht nur in ihren jeweiligen historischen Grenzen zu modifizieren (wie Holenstein dies macht), sondern in ihren Proportionen selbst. (Ähnlich einer Peters-Projektion, welche die Flächenverzerrung der Mercatorkarte rückgängig macht und den Blick auf die ‚wirklichen‘ globalen Proportionen freigibt.)
Ein einziges mal nur betritt Holenstein diesen Pfad, und dann eben, um seinem impliziten Anliegen Vorschub zu leisten: Die erste und letzte Karte zeigen eine pazifikozentrische Karte der Erde, die nicht nur aus drucktechnischen Gründen hochkant gestellt ist, sondern eine andere Sicht auf die Welt, ‚wie wir sie kennen‘, geben soll: Von ‚unten nach oben‘ breitet sich auf ihr die Menschheit aus – eine afrikanische Kolonialisierung der Erdoberfläche. Am Ende stellt Holenstein in geopolitischer Manier philosophische Kräftefelder dar, die sich um Nordamerika herum gruppieren. Diesem Bild der Gegenwart folgt das Bild der Zukunft und die ‚Rückkehr nach Afrika‘: Die erste Karte ist wieder zu sehen und in ihr träumt Holenstein vom neuen Nabel der Philosophie im 22. Jahrhundert, in der Religionen die Erde befriedeten, in ihr heilige Zonen eingerichtet und endlich Asien wieder zu seinem Recht auf die philosophische Vorherrschaft gekommen sein könnte. Hätte Holenstein die vorgeschobene geographische Sachlichkeit schon früher über Bord geworfen, und allen Philosophien – auch den europäischen – diesen Zug der Freiheit zukommen lassen, ihm wäre wirklich Großes gelungen.
Das Buch ist ein feines Geschenk für Studierende der Philosophie. Der primäre Erkenntniswert dürfte in dem Teil des Nachschlagewerkes liegen, der politisch korrekte Varianten europäischer Außenbezeichnungen für philosophische Strömungen verzeichnet.