The retina of the mind’s eye”

Philosophie als Film am Beispiel fon David Cronenbergs Videodromei

Stefan Höltgen

In seiner einhundertjährigen Geschichte haben der Film und seine Autoren stets versucht, den Nimbus der bloßen Unterhaltungsware abzulegen. Eines der nachhaltigsten Ergebnisse dieser Bemühung war, dass nach dem zweiten Weltkrieg zwischen Unterhaltungs- und Kunstfilm unterschieden wurde. Die Theorien der „Neuen Wellen“ haben aber nicht „ausgegrenzt“, sondern den vormals als Unterhaltung per se diskreditierte Genrefilm ebenfalls vom Verdacht befreit, anspruchslos zu sein: Die Western John Fords oder die Thriller Alfred Hitchcocks sind zwei Beispiele von hoch­gradig reflektierendem Autoren-Genre-Kino. Hinter der Differenzierung von ernstem und Unterhaltungsfilm scheint ein besonderes Ansinnen zu stecken: Der Autorenfilm soll nicht allein gefallen, sondern Intention oder doch wenigstens Bedeutung transportieren, die dem Zuschauer dann auch jenseits der Kinomauern „nützt“.

Heute sind wir es gewohnt, dass Film nicht nur wissenschaftlich analysiert wird, sondern sogar innerhalb wissenschaftlicher Debatten als Beleg für kulturelle Phänomene herangezogen wird.ii Doch einige Filme scheinen sich gegen den analytischen Zugang zu sträuben. Auf merkwürdige Weise inszenieren sie dasjenige Modell, dass man als Analyseinstrument bei ihnen anzusetzen versucht. Eines der jüngsten Beispiele hierfür ist die Matrix-Trilogie (USA 1999-2003) der Wachowski-Brüder. Solche Filme vertreten explizit wissenschaftliche Positionen und illustrieren sie. Im Folgenden möchte ich einen früheren Vertreter dieser Gattung, die ich „Film-Theorie“ nennen möchte, vorstellen: David Cronenbergs Videodrome aus dem Jahre 1982. An ihm werde ich eine genuin philosophische „Art“ (im Sinne von Topic und Argumentation) nachweisen.

Gerade in der Rückschau auf diesen über zwanzig Jahre alten Film wird es uns ermöglicht, seine philosophischen Hypothesen auf ihre Stichhaltigkeit und Relevanz für den zeitgenössischen Diskurs zu prüfen. Eine solche Prüfung ist jedoch voraussetzungsreich. Zunächst müsste geklärt werden, ob und wie ein Spielfilm jenseits seiner ästhetischen Perspektive überhaupt als Argumentationskomplex verstanden werden kann. Dann müssen die Thesen und Argumente des Spielfilms aus seinen Darstell­ungen exzerpiert und schließlich mit bestehenden philosophischen Dis­kursen enggeführt werden. Diesen Versuch möchte ich im Folgenden unternehmen.

1. Die Kamera als Theorie-Maschineiii

In seinem 1948 erschienen Aufsatz „Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter“, unternimmt der französische Filmkritiker und Regisseur Alexandre Astruc den Versuch, den Spielfilm aus den Klauen der „reinen Kunst“, dem „l’image pour l’image“iv zu befreien. Anstelle dessen fordert er sowohl Zuschauer als auch Autoren auf, im Film künftig eine neue schöpferische Textsorte zu sehen. Astruc ruft „die Epoche der Kamera als Federhalter“ aus und meint damit, „daß der Film sich nach und nach aus der Tyrannei des Visuellen befreien wird, des Bildes um des Bildes willen [...] zu einem Mittel der Schrift zu werden, das ebenso aus­drucksfähig und ebenso subtil ist wie das der geschriebenen Sprache.“v

Dieser neuen Schreibweise dürfe kein Gebiet verschlossen sein: „Die ab­strakteste Meditation, eine Ansicht über die menschlichen Leistungen, die Psychologie, die Metaphysik, das Denken, die Leidenschaften gehören in ihr Fach.“vi Der Film sei einfach die zeitgemäße Form des Ausdrucks, ja, „heute würde Descartes sich bereits mit einer 16-mm-Kamera und Film in sein Zimmer einschließen und den ‚Discours de la méthode’ als Film schreiben.“vii Und Astruc ist sich sicher, „daß der Gedanke sich direkt auf den Filmstreifen niederschreibt, ohne den Umweg über die plumpen Bildassoziationen zu nehmen.“viii

Kurzum: „Der heutige Film“, so schreibt Astruc bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg, „ist imstande, über jede Ordnung der Realität Rechenschaft abzulegen.“ix Dies führe dazu, dass „bei einem solchen Film die Unter­scheidung zwischen Autor und Regisseur keinen Sinn mehr [macht]. Die Regie ist kein Mittel mehr, eine Szene zu illustrieren oder darzubieten, sondern eine wirkliche Schrift. Der Autor schreibt mit seiner Kamera wie ein Schriftsteller mit einem Federhalter.“x

Die Forderung hinter einem so verstandenen Autorenbegriff richtet sich auch an das Spannungsfeld aus Objektivismus (Intentionalismus) versus Subjektivismus (Interpretationsbeliebigkeit): Der Filmautor, der seine Theorien mit der Kamera schreibt, will nicht mehr „interpretiert“, sondern „verstanden“ werden. Die positive Wahrheit, die sein Text im Zuschauer evoziert, ist mithin eng an die Intention des Autors geknüpft und wäre darüber hinaus mit anderen Aussagen des Autors zu vernetzen.

Entscheidend und problematisch scheint hier, dass sich der Filmtext vom „Texttext“ vor allem durch seine Bilder unterscheidet. Sie sind durch ihr Konnotat immer schon einer größeren Assoziativität des Rezipienten unterworfen. Der bedeutsame Inhalt, den sie transportieren können, kann viel stärker als beim Lesetext in unterschiedlichen Rezipientenbewusst­seinen variieren. Ein Film müsste also, um eindeutige Argumentationen führen zu können, entweder auf extrem stark „lexikalisierte“ Bildinhalte zurückgreifen oder sich in der Wahl seines Sujets auf die „Theorie der Be­deutungsvielfalt von Bildern“ konzentrieren. Und dennoch bliebe das Lesen der „Film-Theorie“ auch wieder „nur“ eine Interpretationsleistung des Lesers.

Der von mir zu untersuchende Film Videodrome nutzt für die Argumenta­tion seiner „Theorie“ beide Varianten: Rückgriff auf stark tradierte Genre­muster einerseits und die Thematisierung des Problems medialer Wahr­nehmung andererseits. Videodrome ist nämlich zunächst – wie bereits an­gedeutet – ein Genrefilm: Er bildet ein Hybrid aus Science Fiction, Horror­film und Verschwörungsthriller. Alle drei Genres verfügen über ein film­historisch festes Repertoire an Plotstrukturen, Bildtraditionen und Inszen­ierungstechniken. Dies ermöglicht dem Publikum einen gewissen Wieder­erkennungswert aber auch ein feineres Gespür für Darstellungs­nuancen, Stilbrüche oder Intertextualitäten. Genres erleichtern dem Zuschauer bereits während der Rezeption eine reflektierende Haltung einzunehmen.

2. Videodrome als Film

2.1 Die Erzählung

Videodrome beschreibt die Geschichte des Fernsehproduzenten Max Renn. Zusammen mit zwei Gesellschaftern leitet er den Kabelfernseh-Sender Civic-TV. Civic-TV hat sich der Ausstrahlung von Softpornografie ver­schrieben und sucht seine Marktlücke in der Erwachsenenunterhaltung. Eines Tages wird Max Renn von seinem Techniker Harlan der Mitschnitt einer Satellitenübertragung vorgeführt: Das Band zeigt eine sadoma­sochistische Szene, in der eine Frau von maskierten Männern gefoltert wird. Der Titel der Show lautet „Videodrome“. Sofort interessiert sich Renn für dieses Format und setzt seinen Techniker darauf an, die Übertragung zu entschlüsseln und den Sender zu lokalisieren. Auch Masha, einer Freundin und Pornofilmproduzentin, gibt Max Renn den Auftrag, mehr über die Show herauszufinden und im Gegenzug dafür ihre Filme auf seinem Kanal auszustrahlen.

In einer Fernsehinterview-Show lernt Renn die Radiomoderatorin Nicki Brand kennen. Zwischen beiden entsteht eine Liebesbeziehung. Als Nicki Max zu Hause besucht, entdeckt sie ein Band mit einer Videodrome-Auf­zeichnung und zeigt reges Interesse am sadistischen Inhalt der Show – sie outet sich Max gegenüber als Masochistin und gibt ihm zu verstehen, dass sie bei Videodrome mitspielen möchte. Max rät ihr davon ab.

Von Masha erfährt er am folgenden Tag, dass die Videodrome-Show weit gefährlicher sei, als er glaube. Es handele sich um Snuff-TV, bei dem die Opfer der Show wirklich zu Tode kommen. Max glaubt Masha nicht und erhält von ihr den Namen Brian O’Blivion als Ansprechpartner. O’Blivion ist Max bereits bei der Fernsehinterview-Show „begegnet“ (O’Blivion war nicht selbst anwesend sondern nur eine TV-Übertragung von ihm). Max Renn sucht O’Blivion auf, stößt in einer „Cathode-Ray-Mission“ (einer Art Obdachlosen-Küche, die den Hilfsbedürftigen nicht Essen und Trinken, sondern Fernsehen zur sozialen Reintegration anbietet) lediglich auf O’Blivions Tochter Bianca. Dieser erwähnt er gegenüber Videodrome und bemerkt, wie die Frau unsicher wird. Sie gibt vor, ihm nicht weiterhelfen zu können.

Währenddessen gehen mit Max Veränderungen vor sich: Je häufiger er sich die Videodrome-Aufzeichnungen anschaut, desto intensiver halluzi­niert er. Und als eine Mitarbeiterin im kurz nach seinem Besuch in der Cathode-Ray-Mission ein Videotape von Bianca O’Blivion bringt, glaubt er, die Kassette bewege sich. Das auf ihr enthaltene Programm zeigt zunächst Brian O’Blivion, der einen Vortrag hält und Max danach direkt anzureden scheint. Nach der Show beginnt Max Renn besonders intensiv zu halluzi­nieren. Er kehrt mit der Kassette zu Bianca O’Blivion zurück und er­fährt von ihr, dass ihr Vater seit Monaten tot ist, gestorben an den Videodrome-Signalen, die jedem Fernsehbild untergemischt werden können und ein Gehirntumor auslösen, welcher die Halluzinationen verur­sacht. Sie gibt Max einige weitere Kassetten mit, die ihn über Video­drome aufklären sollen.

Kurze Zeit darauf meldet sich ein gewisser Barry Convex telefonisch bei Max Renn, um ihn ebenfalls über Videodrome aufzuklären. Max und Convex treffen sich und Convex bietet an, Max bei seinem Videodrome-Problem zu helfen. Er zeichnet eine Halluzination Max’ auf und gibt vor, sie auszuwerten. Max erwacht aus dieser Halluzination und findet die tote Masha neben sich im Bett. Er ruft seinen Freund Harlan zu sich, der jedoch keine Leiche finden kann. Max hat wieder halluziniert. Als sich Harlan und Max kurz darauf im Civic-TV-Sender treffen, ist auch Convex dort und Max erfährt, dass Videodrome eine politische Verschwörung ist, mit der Harlan, Convex und andere die TV-Zuschauer vollständig zu kontrollieren trachten. Das Signal sei noch nicht ausgestrahlt worden; Max habe man bespielte Videokassetten gezeigt, um ihn zu ködern. Nun ginge es darum, Max’ Sender für eine erste Ausstrahlung zu übernehmen. Convex nutzt die Halluzinationen Max’, um diesen dazu zu hypnotisieren, seine Firmenteilhaber zu ermorden und Civic-TV an Convex zu übergeben. Max führt den Mordauftrag aus.

Anschließend wird er von Convex zu Bianca O’Blivion geschickt, die als Gegnerin von Videodrome angesehen wird. Auch sie soll getötet werden. Als Max in der Cathode-Ray-Mission eintrifft, ist Bianca jedoch vorbereitet und schafft es, die Hypnose bei Max aufzuheben und ihn nun ihrerseits zu hypnotisieren, um Convex und Harlan aus dem Weg zu räumen. Auch diesen Auftrag führt Max aus. Schließlich versteckt er sich nach den Morden im Bauch eines abgewrackten Containerschiffes und findet dort ein Fernsehgerät vor, in dem Nicki Brand zu sehen ist. Sie überredet Max schließlich dazu sich selbst zu erschießen.

2.2 Genre: sex, murder, violence

Videodrome ist ein Hybrid, das wenigstens drei Genres zugerechnet werden kann: Dem Science Fiction, Horrorfilm und Veschwörungs-Thriller. Die Zuschreibung zu den jeweiligen Genres erfolgt narrativ (standardi­sierte Erzählstrukturen), ikonografisch (standardisierte Bildinhalte und Darstellungsweisen) und nicht zuletzt technisch (standardisierte Verfahren der Inszenierung). Cronenbergs Film nutzt die Klischees auf besondere Weise. Er verhilft seinem Film damit zu einer Tradition, einer kinemato­grafischen Kohärenz, die es auch den Zuschauern ermöglicht, Ähnlich­keiten und Unterschiede zu den tradierten Erzählmustern der einzelnen Genres festzustellen. Wir werden sehen, dass gerade in den Unterschieden Zugänge zu wissenschaftlichen Diskurspraktiken des Films möglich sind.

Das dominierende Genre in Videodrome ist der Horrorfilm. Indem Video­drome sich seiner Ästhetiken bedient, kann er ein bestimmtes Phänomene problematisieren, das (zumindest damals) nur in diesem Genre zu finden waren: der Darstellung expliziter, physischer Gewalt. Wir werden sehen, dass gerade das Inszenieren von Gewalt im Zusammenhang im der Selbstreflexion Videodromes als Film (bzw. als Medium) einen der zentralen philosophischen Kurs verfolgt. Mithin lässt sich behaupten, dass die Gewaltdarstellung in Videodrome tatsächlich dem landläufigen Vorwurf der „Selbstzweckhaftigkeit“ (derentwegen der Film in Deutschland übrigens indiziert wurde) widerspricht: Videodrome problematisiert und reflektiert die Gewaltdarstellung. Dies verbirgt er jedoch unter seiner durchaus nicht leicht zu durchdringenden Erzählstruktur, weshalb ich dieser Zunächst mein Augenmerk widmen möchte.

2.3 Plot versus Darstellung: The signal caused the vision

Bei der ersten Sichtung wirkt die Erzählung des Films Videodrome sehr kryptisch. Reale Szenen verschmelzen mehr und mehr mit Max’ Halluzi­nationen. Ist Anfangs noch durch Verfahren von Traum-Inszenierung und Ortswechsel die Zäsur zwischen Halluzination und Wirklichkeit zu erkennen, so diffundieren die halluzinierten Ereignisse im Verlauf des Films immer mehr in das Alltagsleben Max’. Für den Zuschauer bietet sich ein zusehends irreales Geschehen, weil der Film aus der Subjektive seines Protagonisten erzählt ist, diesen aber mitinszeniert: Max ist das erzählende Subjekt aber gleichzeitig das erzählte Objekt vor der Kamera, wir sehen ihn durch seine Augen und erleben seine Halluzinationen. „Das Erzählprinzip“, schreibt Manfred Riepe, „ist denkbar einfach. In einem Interview spricht Cronenberg davon, dass Videodrome ein ‚first-person-film’ sei. [...] Es geht bei dieser Erzählweise darum, dass alles radikal aus der subjektiven Sicht des Hauptdarstellers Max Renn gezeigt wird, der in jeder Szene präsent ist.“xi

Dieses Verfahren, das Cronenberg später auch in seinen Filmen Dead Zone, Naked Lunch, eXistenZ und Spiderxii zur Anwendung bringt, hat Methode: Durch die Gleichsetzung des Zuschauers mit dem Protagonisten und Erzähler der Filme wird die auktoriale Perspektive und der dramatur­gisch gestaltete Plot aufgegeben und dem Zuschauer einen „Interpreta­tionshorizont“ eröffnet, der sich nicht allein durch die „Sichtung“ erschließt, sondern beständig zur Reflektion auffordert. Diese Subjekti­vierung verführt den Betrachter während der Rezeption zu der Frage, was hinter der Erzählung des Films zu stecken scheint, welche Idee, der Autor (mit-)inszeniert hat: Der Zuschauer gibt die versunkene, passive Haltung des Filmsehens auf und wird zum Leser. Auf welche Weise Videodrome seine Lektüre forciert, will ich an drei Aspekten – quais Kurzschlüssen zwischen Film und Zuschauer-Gehirn – zeigen:

2.2.1 Erster Kurzschluss: Videodrome/Videodrome schauen

Zahlreiche Szenen in Videodrome beginnen mit einem Schwarzbild, in das sich ein Film „einschaltet“ (dieses Einschalten ist auch durch ein typisches Geräusch auf der Tonspur markiert): Als Max von den Japanern den orientalischen Erotikfilm vorgeführt bekommt, als Max zum ersten Mal die Videodrome-Show von Harlan gezeigt bekommt, als Max sich das erste Video von Brian O’Blivion anschaut, als Max den Helm zur Halluzinations­aufzeichnung einschaltet.

Dieses Prinzip der optischen Verschachtelung rahmt den gesamten Film Videodrome: Er beginnt nach den Titeln mit dem Einschalten der Weck-Videokassette und endet, als sich Max auf dem Containerschiff seinen eigenen Selbstmord anschaut. Doch auch schon vor der ersten und nach der letzten Handlungsszene wird dieses Verfahren benutzt: Die Titel von Videodrome beginnen mit einem schlecht justierten Videobild des Schrift­zuges und der Film endet abrupt im Schwarz als Max sich erschießt. Hier wird der Zuschauer des Filmes durch die technische Assoziation des „Ein- bzw. Ausschaltens“ in den Film mit der Perspektive Max Renns kurzge­schlossen.

Die Tatsache, dass David Cronenbergs Spielfilm genauso wie die in ihm behandelte Snuff-Show „Videodrome“ heißt, stützen diese Lesart einmal mehr. Max, der Videodrome schaut, wird als (arche)typischer Zuschauer entworfen – als jener Zuschauer, der Videodrome schaut.

2.2.2 Zweiter Kurzschluss: authentisierende Erzählverfahren

Videodrome operiert auf mehreren Ebene mit Authentizitäts-Ästhetiken und authentisiert seine Erzählung auf mehrere Weisen: Zum einen wird im Film selbst ein intensiver Diskurs über Falschheit und Echtheit medialer Information geführt (worauf ich später näher eingehen werde), welcher sich in der Darstellung des Films verdoppelt: Nicht nur Max fragt sich, ob die Videodrome-Show authentisch ist – also ob die Bilder etwas zeigen, dass tatsächlich so stattgefunden hat; auch der Zuschauer von Videodrome fragt sich angesichts der undifferenzierbaren Halluzinations­szenen des Films, was denn nun eigentlich diegetisch so stattgefunden hat und was nicht. Er sucht beständig nach Referenzpunkten.

Zum anderen codiert Cronenberg die Fragen medialer Authentizität mit dem Mittel der so genannten „medialen Demedialiserung“xiii: Indem dem Zuschauer das Technische des Films und des Filmens im wahrsten Sinne des Wortes „vor Augen“ gehalten wird, versucht sich der Film auf einer ontologisch höheren Rezeptionsebene zu positionieren. Dieses Mittel der Authentisierung ist aus dem Dokumentarfilm hinreichend bekannt, wird aber in Videodrome auf subtile Weise verdoppelt: Ständig sehen wir TV-Bilder mit Interferenz-Streifen und schlechte Videokopien, wenn Max sich etwas im Fernsehen anschaut: Die Schlechtheit der Aufnahme führt uns und Max deren „Gemachtheit“ vor Augen und ist gleichzeitig Garant dafür, dass es sich bei der Videodrome-Show „wirklich“ um Snuff handelt, denn das Schlechte bürgt für das Subversive solcher Aufnahmen. So ist es kein Wunder, dass Max bis zum Ende nicht ahnt, dass es eben keine Satelliten-Übertragung aus Pittsburgh gewesen ist, die Harlan ihm vorgeführt hat.

Sowohl für Max als auch für den Zuschauer erhöhen die Authenti­sierungsverfahren die Verwirrung über das, was tatsächlich vor sich geht. Besonders offenkundig wird dies auch auf der Ton-Ebene, die die Differenz zwischen medial-abwesend und räumlich-anwesend zu brechen in der Lage ist.

2.2.3. Dritter Kurzschluss: Der Diskurs über die Medien

Vor allem Professor Brian O’Blivion thematisiert das Verhältnis von Medien und Wirklichkeit mehrfach. Zum einen hat der gerade gezeigte Ausschnitt dieses Thema angeschnitten, zum anderen hatte O’Blivion bereits in der Fernsehtalkshow auf die Bedeutung von Medien für die Konstruktion von Wirklichkeit hingewiesen. Brian O’Blivion vertritt in Videodrome Thesen der postmodernen Medientheorie von Marshall McLuhan, mehr aber noch von Jean Baudrillardxiv Medien werden also nicht nur implizit sondern auch explizit zum Thema. Und die Tatsache, dass das, was O’Blivion beschreibt, nämlich, „Television is reality and reality is less than television“, seine ästhetische Ausformulierung in den Bildern sowohl von Videodrome als auch von Videodrome findet, drängt die Interpretation des Films als filmische Theorie geradezu auf.

3. Videodromes philosophische Argumentationsstruktur

Neben dem genuin medientheoretischen Diskurs über Authentizität und Simulation offeriert Videodrome innerhalb der Charakterisierung seiner Figuren noch ein weiteres Thema, dass philosophiegeschichtlich inter­essant ist – nämlich das der Wirkung von Kunst. Dabei kann sowohl für diese als auch für die anderen philosophischen Ideen, die der Film präsen­tiert, angenommen werden, dass Cronenberg über akademisches Wissen auf den angeschnittenen Gebieten verfügt und es filmisch codiert. Die Prä­sentation seiner Film-Theorie bewegt sich jedoch vor allem in den basics, von denen ausgehend er eigene Hypothesen vorschlägt.

3.1. it really turns me on

Die zwei widerstreitenden Theorien über die Wirkung von Kunst auf den Rezipienten stammen bereits aus der Antike: Während Platon in der Politeia (Drittes Buch, 386 ff.) über die schädliche Wirkung der Dichtkunst auf die Moral von „Knaben und Männern“ insistiert und zur „Löschung“ solcher demoralisierender Verse aufruft, argumentiert Aristoteles in der Poetik, dass derlei Verse der Tragödien eine Reinigung des Lesers von solchen Erregungszuständen bewirken. Die Medienwirkungsforschung hat für diese beiden Konzepte die Begriffe „Imitations-„ und „Inhibitions- bzw. Katharsis-Hypothese“ geprägt. Sie stehen an den beiden Enden einer Skala, die die Wirkung von Kunst auf den Rezipienten beschreibt. Zwar sind beide klassischen Konzepte von der Wirkungsforschung mittlerweile als nicht haltbar aufgegeben worden, doch spielen sie im öffentlichen Diskurs immer noch eine nicht unwichtige Rolle.

Darüber hinaus markieren sie auch die Frage vom Verhältnis der Medien zur Wirklichkeit, wie Videodrome veranschaulicht. Wir treffen im Film auf verschiedene Figuren, die jeweils recht genau abgrenzbare Positionen zu diesem Thema vertreten:

  1. Rena King: Sie fragt Max Renn nicht ohne einen vorwurfsvollen Tenor über die Moral seines Senders: „don’t you think such shows contribute to a social climate of violence and sexual malaise?“ Sie vertritt mit dieser Frage zumindest eine skeptische Pro-Haltung der Imitationshypothese.

  2. Masha vertritt eine ganz ähnliche Befürchtung wie Rena King: Als Max ihr von Videodrome erzählt und prognostiziert, dass dieses Format die Fernsehunterhaltung revolutionieren wird, ist sie bestürzt: „Than God help us.“

  3. Nicki Brand ist der Beleg für die Befürchtung Renas und Mashas. Zunächst äußert Sie sich über Max’ Wirkungshypothese dahingehend, dass sie die soziale Wirklichkeit als überstimuliert empfindet und es nicht gutheißt, dass das Fernsehen diesen Zustand noch weiter forciert. Als sie allerdings bei Max zu Hause zum ersten Mal die Videodrome-Show zu sehen bekommt, gibt sie nicht nur zu, „that turns me on“xv, sondern wird darüber hinaus angeregt, bei der Show mitwirken zu wollen. Sie sieht sich als die perfekte Darstellerin, wovon Max Renn ihr abraten will – nicht nur aus Sorge um Nicki, sondern wohl auch, weil seine eigene Wirkungshypothese dadurch widerlegt würde.

  4. Insgesamt verficht Max Renn nämlich als einziger Protagonist die Inhibitions- und Katharsis-Hypothese, wie sich nicht nur aus seiner Antwort auf Masha, „Better on TV than on the streets“, sondern auch aus seinen Ausführungen gegenüber Rena King ersehen lässt: „I care enough to give my views a harmless outlet for their fantasies and their frustrations. As far as I’m concerned, that’s a socially positive act.“ Mit dieser Meinung steht er nicht nur allein da, sondern er widerlegt sie sogar, wenn er Bianca O’Blivion später mit einer Waffe gegenübersteht und auf ihre Frage, ob er sie töten wolle, antwortet: „No, I run Civic-TV. I don’t kill people.“ Zum Ende des Films muss Renn diese Position endgültig aufgeben: Er sieht im Containerschiff einen Film, der ihm zeigt, wie er sich umzubringen hat und ahmt diese Tat originalgetreu nach.

  5. Harlan hält Max Renn in der Peripetie des Films einen flammenden Vortrag darüber, dass ganz Amerika abstumpft wegen solcher Fernsehinhalte, wie sie Civic-TV präsentiert. Er will das Videodrome-Signal dazu nutzen, Amerika wieder „stark“ zu machen. Harlan steht damit nicht nur für die radikale Auslegung der Imitationshypothese, sondern sogar für die rechtsradikale Mediendemagogie, die im Medium ein Werkzeug der Verführung sieht (es aber gleichzeitig als solches nutzen will).xvi

  6. Barry Convex wird zwar nicht auf die selbe Weise als fanatisch charakterisiert wie Harlan, erhofft sich jedoch auch einen Nutzen aus dem Videodrome-Signal. Er reflektiert die Position des Be­trachters, der aus sadistisch-skopophiler Freude die Folterungen von Videodrome schaut und weiß, dass das Signal unter solche Bilder gelegt am ehesten auf die breite Masse wirkt, weil das Obszöne und Spektakuläre solcher Shows ein großer Attraktor ist.

Alle diese Positionen stehen wie angedeutet neben der medien-ethischen auch für eine medien-ontologische Fragestellung: Welchen Einfluss haben Medien auf die Wirklichkeit und wie ist diese Wirklichkeit beschaffen.

3.2 the television screen is the retina of the mind’s eye

Auch bezüglich dieser Debatte formuliert Videodrome seine Thesen recht eindeutig. Einerseits findet sich in der Problematisierung von Authentizi­tätsstrategien ein Ansatz wieder, der auf den dissimulativen Charakter der Medien Bezug nimmt. Die oben zitierten Verfahren der Bildauthentisierung stellen Versuche dar, dass „Gemachte“ und das „Fiktive“ zu kaschieren.

Durch Brian O’Blivion wird diese Medien-Ontologie von Cronenberg aber auch sehr plakativ in die Narration des Films eingebaut. Erinnern wir uns an seinen Video-Vortrag für Max Renn: „The television screen is the retina of the mind's eye. Therefore, the television screen is part of the physical structure of the brain. Therefore, whatever appears in the television screen emerges as raw experience for those who watch it. Therefore, television is reality, and reality is less than television.“

Diese Ausführung steht dem, was Jean Baudrillard 1978 in seiner Schrift „Agonie des Realen“ ausgeführt hat, sehr nahe: Auch Baudrillard konstatiert die Wirklichkeit als medien-simuliert. Erfahrung könne Baudrillard zufolge nicht mehr ohne mediale Vermittlung gemacht werden. Was wir zu wissen glauben, entstammt den Medien. Und mehr noch: Wenn Brian O’Blivion sagt „television is reality, and reality is less than television“, erinnert dieser Satz an Baudrillard, der vier Jahre zuvor schrieb: „Auflösung des Fernsehens im Leben, Auflösung des Lebens im Fernsehen.“xvii Die Diffusion des Mediums in die Wirklichkeit als allgegen­wärtige „Befürchtung“ ist eines der Hauptthemen des Films und wird von diesem auf allen ästhetischen Ebenen durchdekliniert.

Baudrillards medienbasierte Theorie der Simulation entsteht 1978, also vier Jahre vor Videodrome. Einen ersten Ansatz zu einer „Ordnung der Simulacra“ liefert er jedoch bereits 1976 in Der symbolische Tausch und der Tod. Dort erweitert er die Benjaminsche Reproduktionstheorie, indem er nach den für die Medien wichtigen historischen Umbrüchen der Renaissance (Imitation) und des Industrialismus (Produktion) ein Zeitalter der Simulation markiert, in dem der Code und damit die Semiokratie herrschen.

Im 1978 publizierten Essay Die Agonie des Realen konkretisiert er diese Gedanken. Die Gesellschaft der Simulationsmoderne sei vollständig von den Medien beeinflusst und abhängig. Die Konsequenz seiner Sichtweise auf dieses Verhältnis kulminiert in der Feststellung, dass soziale Ereignisse nur noch durch Medien initiiert und von diesen gespiegelt werden. Das Ergebnis sei eine von Medien produzierte Hyperrealität, in der zwischen authentischen und simulierten Ereignissen nicht mehr unterschieden werden könne – ja, auf Grund der Referenzlosigkeit medialer Zeichen eine derartige Zuschreibung sogar völlig sinnlos sei. Das Kausalitätsprinzip sei damit aufgehoben und somit die Historie an ihr Ende gelangt.xviii

Max Renn bzw. der Zuschauer von Videodrome bekommt diesen Ansatz plastisch vor Augen geführt: Das Videodrome-Signal (bzw. der Video­drome-Film) konstruieren Bildwirklichkeiten, die zwar offensichtlich irreal aber dennoch so opak sind, dass ihr Wahrheitswert nicht hinterfragt werden kann. Genau wie Max Renn sind die Rezipienten von Cronenbergs Film in der Indifferenz der Ebenen von „wirklicher Wirklichkeit“ und „medieninduzierter Wirklichkeit“ gefangen.

Und um das Konzept fassbar zu machen, greift Cronenberg schließlich zu einem Prinzip, dass Manfred Riepe die „wörtlich genommene Metapher“ nennt: „Der psychoanalytische Grundgedanke (nach Lacan) ist der, dass die Fähigkeit der Metaphernbildung (Witz, Fehlleistung, Ironie, Humor – alle Formen von Polysemie) etwas für das Subjekt absolut grundlegendes ist. Eine wörtlich genommene Metapher wäre nach Freud die Identität von Wortvorstellung und Sachvorstellung. Eine wörtlich genommene Metapher ist so etwas wie eine (im Hegelschen Sinn) ‚Aufhebung’ der Metapher. Witzig ist das nur für den, der nicht psychotisch ist.“xix Max Renn ist aber psychotischxx und wir sind es daher mit ihm und sehen die Metaphern ebenfalls. Cronenberg setzt die wörtliche genommene Metapher auch in Videodrome intensiv ein und überträgt Begriffe in Bilder und Worte auf mehreren Ebenenxxi:

  1. auf der narratologischen Ebene: Das Videodrome-Signal ist zwar unsichtbar, steht aber für den Einfluss der Medien auf das menschliche Bewusstsein. Es löst eine Krankheit, einen Gehirntumor aus.

  2. auf der dramaturgischen Ebene: Um die intensive sexuelle Bezieh­ung zwischen Max und Nicki zu kennzeichnen, lässt er Max in den Fernsehschirm kriechen, als sie ihn mit „Come to Nicki“ ruft. Diesem Ruf folgt Max zum Ende des Films noch einmal, allerdings mit mehr Erfolg: Die mediale Membran, die er in der ersten Szene noch nicht zu durchdringen im Stande ist, überwindet er in der zweiten ... bei seinem Eingang ins Archiv der Information bzw. ins Universum der Medien.

  3. auf der medientheoretischen Ebene bebildert Cronenberg schließlich sogar die McLuhansche „Organ-Metapher“: In Understanding media bezeichnet McLuhan Medien als Ausweitung des menschlichen Körpersxxii, weil wir mit ihrer Hilfe mangelhafte organische Funktionen kompensieren: Wir können mit dem Radio „weiter hören“, mit dem Fernsehen – wie der Name schon sagt – „weiter sehen“ usw. Medien stellen mithin Kompensationstechnologien dar. Cronenberg greift diese Überlegung auf, als er Max Renn durch Barry Convex und Harlan zu einem Mordinstrument macht: Er lässt ihn mit der Pistolexxiii organisch verwachsen. (in einer späteren Szene findet sich diese Idee noch etwas plakativer, wenn Max Renn den ebenfalls wörtlich-metaphorischen „Videopiraten“ Harlan zu einer sprichwörtlichen „Handgranate“ verhilft).

„The video word made flash“, ist eine der von Max Renn geäußerten Metaphern, die der Film in Bilder umsetzt. An ihr zeigt besonders deutlich, wie sich Medialität und Wirklichkeit überlappen und dabei der Körper ins Spiel kommt.

3.3. Videodrome is Death – Long live the new flesh

Das Sinnieren über den Körper, seine biologischen Implikationen und (in den früheren Filmen) biopolitische Bedeutung zieht sich als Leitmotiv durch David Cronenbergs gesamtes Oevre. Themen wie Sexualität, Schmerz, Tod, Krankheit, Genetik, Krebs oder Prothetik bestimmen die Sujets seiner Filme. In Videodrome formuliert Cronenberg erstmals ein Programm, das diese Themen zusammenfasst: „Das neue Fleisch“. Dieses neue Fleisch ist für Cronenberg Dreh- und Angelpunkt seiner „Film-Theorie“, weil sich aus ihm alle weiteren Themen ableiten.

Zunächst ist das „neue Fleisch“ wiederum wörtlich zu nehmen, einerseits als die Medien, die zu Fleisch werden (pulsierende, schließlich sogar fleischliche Videokassetten, ein Fernseher mit Adern und einem Bildschirm als Mund), andererseits als der Tumor, der im Kopf des Videodrome-Rezipienten wächst, bei diesem Halluzinationen auslöst und ihn schließlich tötet. Doch mit diesem Prozess wird in Videodrome zu keiner Zeit Angst und Schmerz konnotiert. O’Blivion interpretiert den Tumor als „new organ“, das sich durch die Halluzinationen (und nicht durch das Videodrome-Signal) gebildet hat und ihn in eine neue Phase der menschlichen Existenz und Erkenntnisfähigkeit überführt: O’Blivion akzeptiert sein Schicksal nicht nur, sondern macht seinen Frieden damit, wie Bianca O’Blivion Max mitteilt: „He died peacefully on an operating table.“ Offensichtlich hat er den Tod als Übergang in ein anderes Stadium akzeptiert.

Auch Max Renn findet sich mit seinem Schicksal ab und betrachtet die Veränderungen, die mit seinem Bewusstsein und (und für ihn: auch mit seinem Körper) vor sich gehen als Metamorphose: Zuerst akzeptiert er, dass er von Convex und Harlan als „videotape recorder“, also als anthropomorphes Medium missbraucht wird, dann schlägt er sich auf die Gegenseite und verfolgt Bianca O’Blivions Programm des „video word made flesh“ – also des mediengewordenen Menschen, um zum Ende des Films den letzten Schritt hin zum „neuen Fleisch“ zu gehen.

Über die bereits angesprochenen McLuhan’sche Interpretation solcher Szenen als Organ-Metaphern formuliert Videodrome ziemlich deutlich, wie er sich dieses „neue Fleisch“ vorstellt: Es ist die Reduktion des Körpers auf seinen reinen Informationswert. Zunächst begegnet Max Renn dem mediumgewordenen Brian O’Blivion (er spricht bei Rena King selbst von einer zweiten, alternativen Existenz). Seine Tochter pflegt die Auf­zeichnungen, die O’Blivion von sich angefertigt hat und bezeichnet die Videokassettensammlung tatsächlich als „my father“. Zum Ende hin begegnet Max Nicki als Videoaufzeichnung im Container-Schiff, die ihm sagt: „I’ve learned that death is not the end.“ Auch sie ist nach ihrem Tod durch Videodrome ins Medien-Archiv übergegangen aus dem heraus sie mit Max konversiert. Damit auch er in die „nächste Phase“, nämlich die des neuen Fleisches, in die des Mediums eingehen kann, muss er seinen organischen Körper überwinden: „to become the new flesh, you first have to kill the old flesh. But don’t be afraid to let your body die.“

Der Streit zwischen den beiden verfeindeten Untergrund-Gruppierungen hat sozial-ethische Dimensionen: Während die Seite von Convex die Schwäche der Gesellschaft in einem „zu viel“ an Medien sieht und dies durch das Videodrome-Signal zu bekämpfen trachtet, optiert die Seite von Bianca O’Blivion für das Gegenteil: Sie sieht das gesellschaftliche Drama darin, dass die Gesellschaft längst von den Medien abhängig ist und nun unter der ungleichen Verteilung von medialer Information leidet, wie sie Max Renn bei seinem ersten Besuch in der Cathode-Ray-Mission erklärt.xxiv

Max Renn gerät zwischen diese Fronten, weil er in Besitz des Senders ist und des pornografischen Trägersignals für die Videodrome-Fraktion bzw. des Mediums als sozialer Stabilisator für die „new flesh“-Fraktion. Um die Cronenberg’sche McLuhan-Interpretation zu vervollständigen, muss er die Mediengrenze durchbrechen und selbst zum Medium werden: „Das Medium ist die Botschaft“ und „Der Inhalt eines Mediums ist ein anderes Medium“xxv bekommen damit einen weiteren Sinn. Diese beiden Kernthesen der McLuhan’schen Medientheorie werden in Videodrome augenzwinkernd zu Bildern.

4. Cronenberg als Film-Wissenschaftler

Die Diskussion des Inhaltes von Videodrome konnte zeigen, dass der Film jenseits seines „Schauwertes“ durchaus ernstzunehmende theoretische Fragestellungen forciert. Cronenbergs Filmografie ließe sich in Hinblick auf einige der theoretischen Hauptmotive aus Videodrome interpretieren. In seinen frühen Filmen (1969: Stereo bis 1979: The Brood) untersucht er die menschliche Sexualität und ihre biologischen und biopolitischen Aspekte. In seiner zweiten Phanse (1980: Scanners bis 1986: The Fly) sind es vornehmlich die Medien und das „neue Fleisch“. In der dritten Phase (1988: Dead Ringers bis 1993: M. Butterfly) sind es Fragen der Identität und in seinen jüngsten Filmen (1996: Crash bis 2002: Spider) verschiedene Fragestellungen über Virtualität, Sexualität und Wahnsinn.

Die typische Handschrift Cronenbergs ist dabei filmästhetischer Natur – sie ist aber auch das Kohärenzkriterium für die theoretischen Fragestellungen, die er zu verfolgen scheint. Dieser Tatsache zollen die meisten der bisher über ihn und seine Filme erschienen Publikationen, wenn sie sich vor allem auf Motiv-Geschichten konzentrieren.

Letzthin zeigt sich, dass Cronenberg die (philosophischen) Fragen seiner Zeit (bzw. der Zeiten, in denen seine Filme erschienen) sensibel aufgreift und filmische Argumente dazu beisteuert.

Literatur

Astruc, Alexandre (1948): Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter. In: Christa Blümlinger und Constantin Wulff (Hgg.) Schreiben Bilder Sprechen. Wien: Sonderzahl 1992, S. 199 - 204

Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978

Berg, Jan (2001): Techniken der medialen Authentifizierung Jahrhunderte vor der Erfindung des ‚Dokumentarischen’. In: Ursula von Keitz & Kay Hoffmann (Hgg.) Die Einübung des dokumentarischen Blicks. Marburg: Schüren 2001, S. 51-70

Deleuze, Gilles & Guattari, Felix. Anti-Oedipus. Frankfurt: Suhrkapm 1977

Flanagan, Paul (2003): Videodrome, TV and Reality.

http://mysite.freeserve.com/contamination/reality1.htm (2003)

Frank, Arthur W. (1992): Twin Nightmares of the Medial Simulacrum: Jean Baudrillard and David Cronenberg. In: William Sterns & William Chaloupka (Hgg.) Jean Baudrillard: The disappearance of the art and politics. London: Macmillan 1992, S. 82-97

Höltgen, Stefan (2001a): Spiegelbilder – Strategien der ästhetischen Verdopplung in den Filmen von David Lynch. Hamburg: Kovac 2001

Höltgen, Stefan (2001b): Die Kamera als Theoriemaschine. Eine mögliche Erwiderung auf David Lynch-Rezensionen.

http://www.cinefoyer.de/theorie.html

McLuhan, Marshall (1968). Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien: Econ 1968, S. 13-28

Morsch, Thomas (1997): Der Körper des Zuschauers. Elemente einer somatischen Theorie des Kinos. In: Medienwissenschaft 3/1997 (Marburg). S. 271-289

Palm, Miachael (1992): See you in Pittsburgh. Das neue Fleisch in Videodrome. In: Palm, Michael & Robnik, Drehli (Hrsgg.) Und das Wort ist Fleisch geworden. Texte über Filme von David Cronenberg. Wien: PVS 1992

Riepe, Manfred (2002a): Film und Metapher. Einige Anmerkungen zu den Filmen David Cronenbergs. In: F.LM – Texte zum Film. Köln 2002 (Nr. 2), S. 32-44

Rodley, Chris (1997): Cronenberg on Cronenberg. London/Boston: faber 1997

Weintraub, Jennifer (2001): Viewing Videodrome. A study in the use of theory.

http://www.personal.si.umich.edu/~jsweint/howard/vdimage/videodrome.html (2000)

Wiemke, Markus (2001): „Where does reality stopp ... and the game begin?“ Postmoderne Medien-Realität? Eine soziologissche Untersuch­ung medialer Diskurse und Simulationen am Beispiel des Filmes eXistenZ (1998) von David Cronenberg.

http://www.gradnet.de/pomo2.archives/pomo99.papers/Wiemker99.htm (2001)

Williams, Linda (1999): Film Bodies: Genre, Genre and Excess. In: Barry Keith Grant (Hg.) Film Genre Reader II. Austin: Univ. of Texas ress 1999, S. 140-158

Wyatt, J. R. (2000): „The Cathode Ray Mission“: Cronenberg, Videodrome and the Post-Modern Condition.

http://www.uni.edu/english/webfiles/ccwc/awards99/wyatt.html (2000)


i Im Folgenden werde ich Filmtitel in Kapitälchen setzen. Dies verfolgt nicht nur den Zweck der leichteren Erkennbarkeit, sondern ermöglicht auch eine Unterscheidung von Cronenbergs Film(titel) zu dessen erzähltem Inhalt, in dem es nämlich um eine Show geht, die ebenfalls Videodrome heißt (und die zur Unterscheidung von mir normal ge­setzt wird.) Insgesamt hat „Videodrome“ vier Bedeutungen: Der Filmtitel, der Titel der Snuff-Show, der Name des onkognen Signals und der Name der Untergrundbewegung.

ii Gerade diese „Wissenschaftlichkeit“ – besonders wenn die Filme die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit ins (Kamera)Auge fassen, hat bei einigen Autoren schon für einen gewissen Überdruss gesorgt. So schreibt Michael Palm über den hier zu behandelnden Film Videodrome 1992: „Cronenbergs Filme, insbesondere Videodrome, genießen seit kurzem in ‚aktuellen Diskursen’ der Kommunikations- und Medientheorie eine gewisse Aufmerksamkeit. Für Debatten über Virtual Reality, Cyberspace und Simulation ist Videodrome offenbar ein gefundenes Fressen.“ Palm (1992), S. 158. Filme wie Videodrome rufen dazu auf, ihre Ästhetik als Aisthetik (Böhme/Welsch) aufzufassen, was eine nicht unerhebliche Erweiterung lieb gewordener Analysekriterien nach sich zieht. Im Folgenden argumentiere ich für eine umgekehrte Perspektive, aus der heraus nicht die Theoriedebatten den Film, sondern dieser die Theoriedebatte affiziert, erst recht, weil sie diesen einiges hinzuzufügen haben.

iii Diesen Ansatz habe ich bereits zu den Arbeiten des Regisseurs David Lynch diskutiert. Vgl. Höltgen (2001a) und Höltgen (2001b), S. 126-128.

iv Astruc (1948), S. 200

v Astruc (1948), S. 200.

vi Astruc (1948), S. 200.

vii Astruc (1948), S. 200.

viii Astruc (1948), S. 201.

ix Astruc (1948), S. 203.

x Astruc (1948), S. 203.

xi Riepe (2002a), S. 44.

xii Alle fünf Filme handeln von Protagonisten mit psychotischen Störungen (bzw. lassen sich, wie im Fall von Dead Zone, als solche interpretieren). Durch die bildliche Überlagerung von Realität und Halluzination inszeniert Cronenberg Psychosen, begnügt sich aber nicht, den pathologischen Aspekt auszustellen, sondern sieht die Psychose als eine Möglichkeit, über Wahrnehmung zu reflektieren.

xiii Vgl. Berg (2001), S. 61.

xiv Zur Baudrillard-Lektüre in bei Cronenberg vgl.: Flanagan (2003), Frank (1992), Wiemker (2001), Weintraub (2000), Wyatt (2000)

xv In der auf verschiedene Weise ausformulierten Behauptung, dass Medien somatisch wirken, vertritt Cronenberg eine These, die Linda Williams in ihrer Pornografie-Theorie aufgestellt hat. Interessanterweise bedient Videodrome zwei der drei von Williams als „Körperfilme“ apostrophierten Genres: Den Horror- und den Pornofilm. Vgl. Williams (1999) und Morsch (1997).

xvi Werkimmanent betrachtet muss das Übergewicht der Vertreter der Imitations­hypothese in Videodrome ein recht „reaktionäres“ Licht auf die Position Cronenbergs zum Thema Medienwirkung werfen. Da ich den Videodrome-Text jedoch nicht als „ästhetisch wertende Aussage über Werte“ lese, sondern als wissenschaftlichen Argumentationszusammenhang, erlaubt mir dies, das Für und Wider der Wirkungshypothesen als Referat einer „landläufigen Meinung über Medienwirkung“ aufzufassen und dies mit einer Interview-Aussage Cronenbergs zu belegen: „Censors tend to do what only psychotics do: they confuse reality with illusion. People worry about the effect on children of two thousand ects of murder on TV every half hour. You have to point out that they have seen a representation of murder. They have not seen murder. It’s the real stumbling-block. Charles Manson found a message in a Beatles song that told him what he must do and why he must kill. Suppressing everything one might think of a spotentialyy dangerous, explosive oder provocative would not prevent a true psychotic from finding something that will trigger his own particular psychosis. For those of us who are normal, and who understand the difference between reality and fantasy, play, illusion – as most children readily do – there is enough distance and balance. It’s innate.“ Zit. n. Rodley (1997), S. 105ff.

xvii Baudrillard (1978), S. 49.

xviii Vgl. Baudrillard (1978), S. 49.

xix Manfred Riepe in einer privaten Notiz an mich vom 03.12.2003.

xx Grade bei paranoid-halluzinatorischen Schizophrenen passt sich die „Theorie“ den jeweiligen Daten aus der Wirklichkeit an. Der Schizophrene leidet unter Verfolgungs­wahn (Max schaut sich im Fortgang der Handlung immer häufiger nach Verfolgern um) und Halluzinationen (bei Max durch das Videodrome-Signal produziert). Er wird von Cronenberg jedoch nicht als pathologischer Fall inszeniert, sondern als „moderner Medien-Konsument“.

xxi Cronenberg sieht im „Wörtlichnehmen“ von Metaphern ein zentrales theoretisches Pro­gramm seiner Filme: „Es gibt bei mir ein zwanghaftes Interesse für Metaphern [...] Begriffe sind unsichtbar ... Ich muß die Begriffe, das Wort zu Fleisch machen.“ David Cronenberg zit. n. Riepe (2002), S. 32f.

xxii Vgl. McLuhan (1968), S. 13.

xxiii Palm bemerkt hierzu: „Aus der ‚hand gun’ wird eine ‚gun hand’“ und kommentiert diese Szene mit: Dies „beschreibt eher Maxens gegenwärtige Situation, als daß es einen veranlassen könnte, (vorläufig) gesicherte Erkenntnisse der ‚Wahrheit über Videodrome’ zu gewinnen. [...] In ihrer Intensität genügen sie [solche Szenen, S. H.] sich selbst und verunsichern den zu Beginn noch etablierten kohärenten Text.“ Palm (1992), S. 160. An diesem Deutungsversuch zeigt sich recht deutlich, dass ein klassisch-hermeneutischer Zugang zu Videodrome allenfalls das Schillernde des Films wissenschaftlich zu ver­doppeln im Stande ist, weil es an der Stelle abbricht, wo aus dem Artefakt ein Konzept wird.

xxiv Später scheinen die Positionen der Vertreter beider Parteien zu changieren: In seinem zweiten Videovortrag glaubt O’Blivion die Visionen hätten den Tumor verursacht; In seinem dritten Videovortrag vertritt er dann die Meinung, der Tumor habe die Visionen zur Folge. Auch die Position Nicki Brands ist keineswegs eindeutig: Der Film legt nahe, dass sie die Position einer „Doppelagentin“ bekleidet. Ihre Emotional-Rescue-Show macht sie für den Radiosender „C-RAM“, dessen Name eine Abkürzung der ebenfalls alt­ruistisch orientierten „Cathode-Ray-Mission“ von Brian und Bianca O’Blivion sein könnte. Nachdem sie nach Pittsburgh zu Videodrome gegangen ist, scheint zunächst zur Video­drome-Fraktion zu gehören (wir erinnern uns: Sie erdrosselt O’Blivion und ruft Max zu sich, d. h. zur Videodrome-Fraktion). Zum Ende des Films begegnet sie Max als Ver­treterin des „neuen Fleisches“ und ihn abermals zu sich (also auf diese Seite). Max und dem Zuschauer bleibt ihre Rolle stets mysteriös und ambivalent, was sich bei Max auch darin äußert, dass er in seinen Visionen die für ihn wichtigen Frauen (Masha, Nicki und seine Sekretärin) „vertauscht“. Dies belegt einmal mehr die psychotische Struktur der Erzählung, denn mit den „Rollen“ changieren hier auch die paranoiden Verschwörungs­hypothesen je nachdem, welche Daten die Wirklichkeit gerade liefert.

xxv Vgl. McLuhan (1968), S. 13