Braten der Lüfte oder Unsere gefiederten Freunde
(zum Film „Nomaden der Lüfte“ von Jacques Perrin 2002)

Dr. Matthias John

„Wir sind die Autoren und die Adressaten der Geschichten, die wir uns von der Natur darüber erzählen lassen und die uns lehren sollen, wie wir zu leben haben.“ Anne Harrington:

Der Reiher auf dem Eise steht.
Ahnt er, wohin die Reise geht?

O Mensch, der du vom Reiher lernst,
bedenke: Was der Reiher lehrt,
ist nicht mal einen Dreier wert.

Robert Gernhardt Reiher an der Bahnstrecke Augsburg– Ulm

Ich habe mir freiwillig einen Tierfilm angesehen. Das hätte ich nicht von mir gedacht. Zwei Fragen erheben sich wie aufgescheuchte Perlhühner: war es wirklich ein Tierfilm? Und hat es sich denn gelohnt?

Natürlich war es ein Tierfilm. Aber keiner im engeren Sinne. Eher ein metaphorisches Theater, ein ästhetisches Feuerwerk und eine Sentimentalität ohne allzu starken populärwissenschaftlichen Anstrich, wenn man das Populärwissenschaftliche als typisch für den Tierfilm im engeren Sinne ansehen will. Dann gibt es ja auch noch diese Filme über eine explizite Beziehung Mensch-Tier, Herr und Hund, Lohengrin und Schwan usw. – auch das war dieser Film nur am Rande, auch wenn er manches über solche Beziehungen einfließen läßt. Es ist mehr als ein Tierfilm, es ist ein Naturfilm, der wie jeder Naturfilm die Errungenschaften der Technik und das alte Genre der Tierfabel miteinander verbindet, ohne daß man es zunächst bemerkt: man soll glauben gemacht werden, man hätte nur Natur gesehen.

Andererseits also doch fast kein Tierfilm (für die Gebildeten unter den Verächtern der Tierfilme sei es gesagt), eher eine fabelhafte Metapher für das medial vermittelte Verhältnis von Natur und Mensch mit vielen kleinen pantomimisch-anthropomorphen Einlagen und tierphysiognomischen Aufheiterungen, ein Kunstprodukt in Gestalt eines Melodrams, das scheinbar hauptsächlich von den Vögeln handelt, von ihren Wanderungen und den Gegenden, die sie immer sehr malerisch durchfliegen. Wie ein Werbefilm, der für sich selbst wirbt. Oder sagen wir: das Produkt ist die aufbereitete, nachgestellte, bereinigte Natur. Durch moderne Technik noch natürlicher.

Doch der Film handelt natürlich eigentlich von den Menschen, die in ihm nicht zu sehen sind: von denen, die ihn gemacht haben, von denen, die solche Bilder konsumieren wollen (also von den Erwartungen der Zuschauer) und von denen, die am Rande wie Komparsen in der Vogelwelt auch noch herumstehen und Kraniche füttern. Der Film macht keine Ornithologen aus uns allen sondern Träumer, die gleichwohl an den Darwinismus glauben und daran, daß die Vögel nur unterwegs seien, um Nahrung zu suchen. Fast könnte der Film uns glauben machen, auch die Menschen seien nur darum unterwegs. Dabei sind die Filmemacher unterwegs, um uns Märchen zu erzählen, Fabeln vorzuspielen und eine Natur zu inszenieren, die alle unsere Erwartungen übertrifft, indem sie sie erfüllt und übererfüllt.

Einmal öffnet ein dressierter Papagei ein Käfigtürchen und fliegt davon, nachdem zuvor eingesperrte Haus-Gänse beim Überflug der Wildgänse laut zu schnattern angefangen hatten. Viele der Vögel sind abgerichtet. Nur ein dressierter Vogel kann so schön Freiheitsmetaphern simulieren.

Was für eine Natur wird uns präsentiert? Eine fast menschenleere (wenn es nicht gerade einige dieser seltenen ausdrückliche Menschen- und Menschenwerk-Begegnungsszenen gibt). Spuren der Gischt der Begleitboote, Hubschraubergeräusche, alles das wurde beseitigt. Studiorein singen die Schwäne. Am aufregendsten ist die wie auf dem seinerzeit inkriminierten Benneton-Plakat verreckende schwarze Ente mit den roten Augen. Allein bleibt sie zurück im schwarzen Schlamm der giftigen Industriekloaken. Wie wir aus einem Interview mit dem Filmemacher erfahren, handelt es sich dabei um gefärbten Haferschleim und die Ente wurde nach der Versumpfungsinszenierung wieder gereinigt. Daß keine Tiere zu Schaden kamen bei den Dreharbeiten kann dann allerdings doch nicht behauptet werden. Kurz nachdem von einem Überflug über Nordamerika die Rede war, werden zahlreiche Flugenten vor unseren Augen abgeknallt, wir sehen dann auch die Jäger und die Jagdhunde. Was wir nicht sehen, sind die Hühnerställe, aus denen die Eier kommen, die die Jäger (und die Filmemacher?) zum Frühstück gegessen haben.

Viele Vogelarten hat der Herr geschaffen, einige hat der Mensch übrig gelassen und nur wenige sind auserwählt, um in diesem Film mitzuspielen. Es sind nicht allein Zugvogelqualitäten, die dabei eine Rolle spielen, auch eine gewisse Trainierbarkeit, Beobachtbarkeit und mimetische Tauglichkeit sind wichtig. So sehen wir gegen Ende zwei schwarzbefrackte, sich irgendwie fast umärmelnde Pinguine bei der Betrachtung des Meeres sehnsuchtsvoll am Ufer stehen und sind gerührt. Pinguine gehören gewiß nicht zu den Zugvögeln im engeren Sinne, jedenfalls nicht zu den D-Zügen der Lüfte, obgleich sie schwimmend, wie wir erfahren, erhebliche Strecken zurücklegen. Schließlich sing noch Nick Cave ein trauriges Lied und was bleibt, ist die Rührung.

Die Möwen sehen alle aus,
als ob sie Emma hießen.
Sie tragen einen weißen Flaus
und sind mit Schrot zu schießen.
...
O Mensch, nie wirst du nebenbei
der Möwe Flug erreichen.
Wofern du Emma heißest, sei
zufrieden ihr zu gleichen.

(J. Ringelnatz)

Viele Vögel, insbesondere Enten, wirken unelegant, wenn man sie beim Fliegen aus zu großer Nähe beobachtet. Wie an Fäden aufgehängte Wickelbraten rudern sie dahin und man sucht vergeblich nach den Angelschnüren, an denen jemand mechanisch die Flügel hoch- und runterzieht. Solche Szenen, wie aufwendig sie in Wirklichkeit gemacht sein mögen, wirken unecht und das Geflügel über der Landschaft, mit wahnsinniger Tiefenschärfe aufgenommen, erinnert unvorteilhaft an die Viecher in dem Computerspiel mit den Moorhühnern. Die Ungrazie der herangezoomten Flugenten wird erst aufgelöst, wenn man sie aus der Ferne, in ihren Formationen fliegen sieht. Vielleicht sind sie gar nicht geschaffen, so einzeln und mechanisch betrachtet zu werden? Goethe wußte schon, warum er ein Feind aller Brillen, Ferngläser und Mikroskope selbst bei der Naturbetrachtung war.

Eines der Probleme bei diesen Nahaufnahmen war allerdings auch, wie wir hören, daß die abgerichteten Vögel mitunter zu nahe an die Leichtmetallflugzeuge herankamen und von den Kamerateams weggestoßen werden mußten. Hier saßen die Friesennerze in ihren fliegenden Kisten, auf die die Gänse Konrad-Lorenz-mäßig schon vom Schlüpfen an geeicht worden waren: Hinterherwatscheln hinter gelben Regenmänteln wie im Lehrbuch der Verhaltensforschung, diese Methode hat sich hier bis in die Lüfte erhoben. Das Motorgeräusch hatten die Tiere sogar schon pränatal appliziert bekommen – sagt man pränatal bei Kücken im Ei? Ein raffinierter Aufwand, eine Technik, die Bewunderung zu erwecken vermag. Was aber ist die Botschaft? Wir kommen überall hin, wenn wir wollen. Was kommt dabei heraus? Etwas, das Authentizität vermitteln soll, nachgestellte Natur, um heideggermäßig zu sprechen: Natur im Gestell.



Das Versprechen der Wiederkehr

Wie auch im Vorjahr verirrte sich – oder vielleicht auch nicht? – ein Eistaucher am 18.11.2000 bis nach Norditalien (nach einer Mitteilung von L.Ruggieri, EBN). Zwischen dem 07.11. und 17.12.2000 wurden etwa fünf Eistaucher in Schweden beobachtet (E.V.Jirle, EBN). Nur ein Vogel wurde für die Niederlande gemeldet (siehe dazu http://www.Dutchbirding.nl).
Am Bodensee halten sich wohl momentan mindestens vier verschiedene Eistaucher auf, wobei mir allerdings genauere Angaben fehlen.(Internetseite Vogelruf.de, „Hier finden Sie Berichte rund um den Vogel“, heißt es dort))

Am dicksten trägt der Film auf, wenn er als Leitmotiv oder vielmehr in einer mit wenigen Sätzen angedeuteten Rahmenerzählung von einem „Versprechen der Wiederkehr“ spricht. Einige Vögel gingen freilich auf der weiten Reise verloren erfahren wir zwischendurch. Dazu kommt auch gleich die Illustration mit einer flügellahmen Strandmöwe, die von Krabben umzingelt und schließlich scheinbar aufgefressen wird. Der Filmemacher versichert in einem Interview, daß die Möwe in Wirklichkeit gerettet wurde und das unerkennbare Wesen, das die Krabben schließlich zerfleischen ein hingeworfener Fisch sei. Na Gott sei Dank, das dies kein Film über die Geschöpfe des Meeres ist, da hätte man den Fisch retten und einen toten Vogel hinwerfen müssen.

Wieso versprechen die Vögel irgend etwas? Wem? Und wieso gerade Wiederkehr? Nur eine schlampige, irgendwie poetisch sein sollende Metapher? Hoffentlich kommen sie wieder, die Vögel. Die Flugzeuge kommen gewiß wieder. Und die Ornithologen. Nur die Vögel bleiben zusehends aus auf ihren angestammten Routen, abgelenkt von den gewaltigen Magnetströmen der Elektroenergiefelder, behindert durch die kleinen Privatflugzeuge, mit denen die Friedensstifter über die Berge fliegen oder den zweimal schallgeschwindigkeitsbrechenden Silberpfeilen der Antiterrorallianz. Die Sehnsucht, daß alles bleiben möge, wie es ist und daß andererseits die Tierfilme immer perfekter werden ist ein eigentümlicher Widerspruch. Wer kann denn noch, wie der kleine Junge, der wie der erste Mensch in den Garten der Natur tritt zu Beginn des Filmes, hinaustreten und so viele Vögel mit einmal beobachten, wie sie das Filmteam hier an diese Stelle gelockt hat? Man muß doch wahrscheinlich erstmal ein Stück mit dem Auto in „die Natur“ fahren. Oder ins nächste Kino.

Schließlich möchte ich noch die andere eingangs gestellte Frage beantworten. Natürlich hat es sich für mich gelohnt, diesen Film zu sehen. Etwas ist geschehen, was man gerne so dahinsagt: der Film hat zum Nachdenken angeregt und alte Sehgewohnheiten mit neuem Filmmaterial gefüttert. Angereichert mit hochaktivierten Archetypen verließ ich das Kino. Bilder, die wir nie vergessen werden, weil wir sie schon immer in uns hatten (Menschen, die im Traum fliegen können, erinnern sich vielleicht noch besser): der Flug des Vogels im Sturm, die Weite der Erde, Sumpflöcher, Wiesen und Geysire, das Meer und die Lüfte, Adler und Ente, herabstürzende Berge – seit Anbeginn der Menschheit hat sich der Mensch in seine Mitgeschöpfe hineingedacht, hat sie gejagt, gezähmt und ausgestopft. Alles dies tut dieser Film auch – mit modernsten Mitteln: unhistorisch und flatterhaft. Da nützt auch nicht die Silhouette von Manhattan oder der Vorbeiflug am Eiffelturm: notdürftige Verknüpfungen von Vogel- und Menschenwelt. Vögel sind fliegende Metaphern, metaphysische Geschöpfe, lebende Widersprüche, wie alles was lebt, voller Widersprüche ist, der Mensch, der solche Filme macht und zugleich Enten ißt, so Jaques Perrin in einem Interview. (Als Vegetarier wird man öfter gefragt „Aber Geflügel essen sie doch?“)

Die Beziehung zwischen Vögeln und Menschen ist unendlich vielgestaltiger, als es dieser Film zeigen kann. Doch es lohnt sich immer, den Vögeln nachzusinnen. Daran erinnert der Film. Deswegen bereue ich nicht, ihn gesehen zu haben.