Der Band "Epikur" von Malte Hossenfelder hat es sich zur nicht leichten Aufgabe gemacht, 2300 Jahre alte Vorurteile über einen der wichtigsten Denker des Hellenismus zu beseitigen und nebenher noch das philosophische Werk Epikurs als einheitliches Gedankengebäude darzustellen. Dabei ist es wohl nicht allein der schwierigen Quellenlage anzulasten (der allergrößte Teil der Werke Epikurs ist lediglich in seinen Titeln bekannt), dass sich das Vorurteil, er propagiere einen "positiven Hedonismus", der ausschließlich die animalischen Gelüste der Menschen anspreche, über die Jahrtausende entwickeln konnte. Es fehlt eine vollständige Geschichte des Epikurismus als Bestandteil einer Philosophiegeschichte überhaupt. Hinzu treten vorsätzliche Verzerrungen seiner Lehren, wie sie ihre Blüte im europäischen Mittelalter hatten und erst mit Beginn der Neuzeit relativiert wurden - zuweilen dann auch hier in einem "Begrüßen der Völlerei ".
Aus philosophischer Perspektive reißt Hossenfelder ein fast unlösbares Problem an: Er versucht aus den überlieferten Fragmenten ein logisch kohärentes Philosophiegebäude des epikureischen Hedonismus zu entwerfen. Nach einer recht ausfühlichen biografischen und bibliografischen Darstellung widmet er sich im Hauptteil des Bandes der Genealogie des hellenistischen Lustbegriffs und seiner vollendung im Epikurismus. In ihr bildet die Unlustvermeidung (Ataraxie) als höchstes Prinzip den Kern, aus dem sich dann weitere Güter, wie Tugend, Staat, Freundschaft u. a. ableiten. Ihre Basis, die Naturlehre, die Epikur fast vollständig der Atomlehre Demokrits entlehnt, enthält Widersprüche, die es Hossenfelders mit großer Sympathie und Wohlwollen geschriebenen Darstellung nicht aus dem Wege zu räumen gelingt. Trotzdem werden von ihm eigene Deutungen nicht gescheut und Spekulationen angestellt, wie sich wohl z. B. die von Epikur postulierte "Atomabweichung" (der Grundlage für die Willensfreiheit) mit seinen "Fallgesetzen" (einer wichtige Prämisse für die Atomtheorie) in Übereinstimmung bringen lassen.
Der Einfluss und die Aktualität von Epikurs Gedankengut werden in einem dritten Teil hervorgehoben. Hossenfelder sieht hier deutliche Bezüge Rousseaus, Kants und Darwins zu den Lehren Epikurs und einen spürbaren Einfluss seines Denkens auf nahezu alle Philosoph(i)en des Abendlandes. Die Aktualität des Gedankengebäudes Epikurs sieht er in ihrem Kontrast zum neuzeitlichen ("verbrauchenden") Naturbegriff. Nach Epikur sei es die Aufgabe der Wissenschaft, den direkten Weg zum Glück zu zeigen und von Ängsten zu befreien. Seine Lehre richtet sich an den Einzelnen, um ihm den Weg zum Glück zu zeigen, einem Glück, das nicht transzendiert werden muss oder in der Gemeinschaft liegt, sondern leicht und jederzeit - nämlich durch Unlustvermeidung - zu erreichen ist. Auf diese Weise entsteht ein Programm, das konkret eine Lebensform entwirft: "Leer ist jenes Philosophen Rede, durch die kein Affekt des Menschen geheilt wird. Denn wie die Heilkunde unnütz ist, wenn sie nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch die Philosophie nichts, wenn sie nicht die Erregung aus der Seele vertreibt." (Epikur)
Eine umfangreiche Bibliografie und eine Sprache, die in Argumentationstechnik und Stil sowohl dem Laien als auch dem philosophisch Geschulten zu gefallen weiß, runden den Gesamteindruck Hossenfelders Buch ab.
Malte Hossenfelder. Epikur. Beck'sche Reihe Denker (BSR 520), 2. Auflage 1998, 24,80 DM.