Martin Stiebert

"Der Redner Gottes" - Betrachtungen eines heutigen Lesers über den Prediger und Seelsorger Herder

1. Der Redner Gottes als Lehrer

Zur Zeit der deutschen Aufklärung, gerade um die Mitte des 18. Jahrhunderts, waren Probleme der rhetorica ecclesiastica Probleme der literarischen Öffentlichkeit: Es war Wieland, der "die Deutschen aufforderte, sich - was die Beredsamkeit der Kanzel angehe - nicht länger von den Franzosen, den Bossuets und Massillons beschämen zu lassen." Lessing wiederum hat "in einer Replik auf die Wielandsche These den Unterschied zwischen der Virtuosität des Deklamators und dem Lehramt der Predigt" akzentuiert.

Damit, mit der Betonung des Lehramtes, steht Lessing ganz in der Nähe Herders, wenn der fragt: Wo finde ich den "Redner Gottes"? (in seiner Schrift "Der Redner Gottes" von 1765):

"Wo ist der große und seltne Mann, den ich suche? ich durchgehe die erhabnen Dichter, denen man Altäre bauet, und die großen Redner vor den rostris, welche mit einem Wort Krieg und Frieden, Leben und Tod geben: ich staune und gehe vorüber! -

Ich wandre durch die großen Schauspieler, von Roscius bis zu Garrick, mit denen jedermann weint und erbebt, und erblasset, und ergrimmet und zerschmilzt: ich bewundre und gehe vorüber! -

Ich komme an die Weltweisen, die mich mit Schöpfersgeist in eine neue Welt, jetzt ist sie politisch, jetzt philosophisch, entzücken: ich bewundre und gehe weiter. Wo ist der, den ich mit den Augen suche? Mein Herz schlägt, ich erhebe das Haupt, fliege umher, stehe stille, und horche, eile, wo ich einen Schall höre, lausche, vergesse alles und suche - 'Nach wem suchest du, denn, verwirrter Fremdling?' - Ach! ihr verspottet den Mann: ich suchte ihn unter Dichtern, und Ciceronen und Schauspielern, und Weltweisen und Staatsmännern: und fand ihn nicht: - den Redner Gottes! - Wo ist er, daß ich ihn umarme, an mein Herz drücke, daß ich ihn bringe in meiner Mutter Haus, und nie ihn von mir lasse. -

... Gottlob! ich habe nicht umsonst gesucht - gefunden - auch unter uns - mehr als einen - wenige zwar gefunden; aber desto theurer sollen sie mir sein! theurer als blendende Nachbarn, die mich blos lebhaft unterhalten - Redner Gottes! groß im Stillen, ohne poetische Pracht feierlich, ohne Ciceronianische Perioden beredt, mächtig ohne dramatische Zauberkünste, ohne gelehrte Vernünftelei weise und ohne politische Klugheit einnehmend! -"

Hier wird, zunächst e contrario, in raffinierter Steigerung das Bild des vernünftig lehrenden, des gewinnenden Predigers entworfen. (Unübersehbar, bei aller Gefühlsintensität, die rhetorische Technik: Klimax und Bezeichnung e contrario: Wenngleich Herder das Kleben an den Schemata der Schulrhetorik verwirft und obwohl er davor warnt, eine christliche Gemeinde mit römischen Bürgern, Hörern Ciceros, zu verwechseln: er kennt die Mittel einer über zweitausendjährigen Tradition und weiß sie dort zu verwenden, wo sie seinem Anliegen dienen können.)

Aber nicht nur vom falschen weltlichen Vorbild, auch von unguten geistlichen Redeformen hält der Redner Gottes Abstand. Es gibt bei ihm (wieder wird das Ideal e contrario entwickelt):

- kein Pathos von "Donner und Blitz",

- keinen unterhaltenden "geistlichen Diskurs" (es lohnte, all diese Negativbeschreibungen ins Heutige zu übersetzen: der "unterhaltende Diskurs" wäre dann etwa das allzu flotte "Sie kennen das doch sicher auch ...", dieses allzu sichere "Guckt mal - wie lebensnah, genau das wollte Jesus uns auch schon sagen" à la "Wort zum Sonntag"),

- "kein Gerippe einer gründlichen Disposition",

- "keine weitschweifige hermeneutische Gelehrsamkeit",

- "keine fünffachen Nutzanwendungen",

- keine "Ausrufungen und Beteurungen an Gott, voll O und Ach, als wenn der Mann eben aus dem Himmel käme und denselben wieder stürmen wollte".

Nein, der Redner Gottes - und nun wird positiv beschrieben - legt "einige Erfahrungen, eine Beobachtung, einen Vorfall aus dem menschlichen Leben zu Grunde", aber eben nicht in jenem anbiedernden Sinne des "unterhaltenden Diskurses", sondern gewissermaßen verfremdet:

"[...] das Phänomenon war mir nicht unbekannt, aber ich hatte es nicht genau genug, nicht auf einer solchen Seite erblickt: ich dankte dem Mann in meinem Sinn für diese Entdeckung: jeder seiner Zuhörer auch, denn die Erscheinung war recht vor unser aller Augen und wir hatten sie doch nicht gesehen! Dem müssen wir zuhören, denn er sieht mehr, als wir!

Aber er schalt uns nicht, daß wir das nicht gesehen hätten oder hätten suchen wollen! Er machte es, wie ein Lehrer, der seinem Schüler die Freude läßt, selbst eine Entdeckung zu tun. Er führte uns bloß in unsre kleine Welt, in unsern Kreis von Handlungen, und in unser Herz: zeigte uns etwas, als wenn er's nicht gezeigt hätte: mit dem Mann wollen wir gehen, denn mit ihm sind wir glücklich."

Der Redner Gottes - ein Lehrer, der mit sokratischer Technik den Hörer, den Schüler Neues entdecken läßt, ein Lehrer, dem das geschickte Bewegen von Herz und Verstand über alle Redekunst und alles Redehandwerk geht - die werden nur in Dienst genommen: dieser Lehrer-Redner ist das Pastorenideal deutscher Aufklärer. Noch einmal, Herder bekräftigend, Lessing (im 13. Literaturbrief): "Der wahre Gottesgelehrte weiß, daß er auf der Kanzel den Redner mit dem Lehrer zu verbinden habe, und daß die Kunst des erstern ein Hülfsmittel für den letztern, nie aber das Hauptwerk sein müsse."

Im Text des "Redners Gottes" heißt es nach dem Lob des geschickten Lehrers: "Nun zeigen wir uns einander unser Gefundenes: es ist kostbar [...]." Der Pfarrer, der den lutherisch-pragmatischen Gedanken ernst nimmt, daß in der arbeitsteiligen Gesellschaft das allgemeine Priestertum nur von wenigen im Vollsinne wahrgenommen werden kann, der Pfarrer, der also mehr Zeit zum Meditieren der Texte, zum Nachdenken über das menschliche Leben haben muß, als die meisten seiner Gemeindeglieder, will diesen Gemeindegliedern helfen, die Erfahrungen des Alltags und die Texte der Bibel in einem neuen, unbekannten Lichte zu sehen, will ihren Horizont erweitern - aber er will sich von seiner Gemeinde, von ihrer Alltagserfahrung und ihrer Begegnung mit dem Bibeltext auch korrigieren lassen, er will lehren und belehrt werden, er will ein Anreger des Gesprächs der Gemeinde sein. Könnte es so gemeint sein, dies: "Nun zeigen wir uns einander unser Gefundenes", könnte es gemeint sein im Sinne einer "dialogischen Gemeinde", im Sinne eines Ideals, von dem auch heutige kirchliche Praxis oft genug weit - zu weit - entfernt ist?

Man ist - aus der Kenntnis vieler Herderscher Predigten und aus dem Kontext der Schrift vom Redner Gottes - versucht zu antworten: nichts weniger als das ist gemeint. Freilich: daß ein solcher Satz solche Assoziationen auslösen kann, zeigt, wie in Herders ja nicht immer präziser Sprache Keime anderer - oft gegenläufiger - Denkweisen verborgen liegen. Im Text vom Redner Gottes aber geht es - allein auf den Lehrer fixiert - weiter: "Ich freue mich, daß ich den Mann zur Seite habe, der mir, was ich nicht weiß, auflöset, mir allen Unterricht gibt, was es ist, und wozu ich's brauchen kann [...]".

Wir müssen - auch anhand von Predigten Herders - unseren Einspruch bekräftigen. Dieser Lehrer ist ein Aufklärer mit allem Für und Wider der Aufklärung: mit dem Für der sokratischen Methode, der Erhellung des Ungewohnten, Ungewußten, der Lust am Entdecken; mit dem Wider autoritärer Weise des Verkündens, mit dem Mangel der Erziehung des Erziehers (um den Gedanken aus Marx' dritter Feuerbachthese aufzunehmen). Sichtbar wird die problematische Kehrseite der Aufklärung: der Mensch, auf daß er zum Subjekt seines Handelns werde, muß erst einmal zum Erziehungsobjekt gemacht werden. Daß damit immer auch eine Überforderung des Lehrers, des Erziehers verbunden, wird wohl deutlich aus den folgenden Sätzen der Rigaer Abschiedspredigt:

"[...] da wir also, Menschlich und moralisch zu reden, würklich in einem Zeitalter der Entartung leben, wie es so viel unedle und niedrige lasterhafte Seelen zeigen, die doch den größten Theil der Menschheit ausmachen - aus allen diesen Ursachen, die ich so oft meinen Zuhörern ans Herz zu legen gesucht habe, ist noch immer ja ein Stand nöthig, der der edlen Sache der Menschheit wieder emporhelfe, der die vortreffliche Menschliche Seele aus dem tiefen Schlamm in den sie geraten kann und so oft geräth, errette, ihr ihre beste, schöne glänzende, gute Gestalt und ihr ursprüngliches Glück wieder gebe. Und dies ist das Amt, mit dem Worte, das menschliche Seelen glücklich machen kann: in dem großen Gesichtspunkte für den Nutzen der Menschheit habe ichs betrachtet, und mich würdig zu machen gesucht, diesen großen Zweck von meiner Seite zu erreichen, Menschliche Seelen glücklich zu machen."

Kein Zweifel - auch heute -, daß mit dem Beruf des Predigers eine hohe Verpflichtung verbunden ist, Werte zu bewahren und die Gebote Gottes bewußt zu machen. Gleichwohl wird der heutige Leser einwenden wollen: eine Oktave tiefer, lieber Redner Gottes, etwas weniger crescendo und nicht ganz so viel Gewißheit vom Vollbesitz der Wahrheit, nicht nur Lob der Tugend und Tadel des Lasters - das kann nicht vergessen machen, daß du selbst ein fehlbarer, irrender Mensch bist.

In der Rede bei der Einführung eines Geistlichen in Stadthagen aus dem letzten Bückeburger Jahr heißt es:

"[...] o Lehrer, du bist Seelsorger, du bist ein Bild, ein Nachfolger Jesu. Du sollt Menschliche Seelen suchen wie der Hirt seine Schaafe, wie das Weib seinen verlohrnen Groschen: wie der Vater ein verlohrnes Kind. Du sollt, wenn Alles schläft und schliefe, die weckende Stimme seyn, die sie aus der Schlaftrunkenheit heraufrüttle, an Gott, Gewissen, Ewigkeit erinnre, die eine Stimme wird: der Herr kommt! der Richter ist da! wir ziehen mit jedem Schritt der Ewigkeit näher, die ewig unser Wohl und Weh entscheidet."

Mußt du dich nicht selbst suchen und wecken lassen, Redner Gottes? Gibt es für dich und deine Gemeinde neben dem gewissen "Maran ata - Der Herr kommt!" (1. Korinther 16, 22) nicht auch das verzweifelte "Komm bald, beeil dich, Herr Jesus" (Offenbarung 22, 20) - oder das fragende: Was bedeutet das - der Herr kommt?

Muß nicht gerade in geistlichen Dingen auch das Prinzip des e contrario gelten? Allein "e contrario" hat Walter Jens einmal formuliert, "gewinne das Lichtreich der Gnade Profil - durch Negationen, die das Anderssein des Transzendenten sachgemäßer verdeutlichten als ein crescendo, das auf die Dauer unangemessen erschiene - und langweilig dazu."

Damit sind wir bei theologischen Fragen - das lehrhafte crescendo ist eben nicht nur ein Problem der Form: Herders Predigten ermangeln weitgehend der Spannung zwischen dem tradierten Text und der Erfahrung der Gegenwart, zwischen dem verborgenen Gott und dem Gott suchenden Menschen, zwischen dem von Gott getrennten Menschen und der erhofften Gnade... Erlösung versteht Herder oft als Erlösung vom falschen Verständnis unseres Lebens, von den "falschen Vorspiegelungen unserer Vernunft" zur Erkenntnis unserer Aufgabe als Menschen, als Erlösung zur Nachfolge gewiß, einer Nachfolge, die aber recht problemlos als vollkommenes Menschsein und vollkommenes Christsein beschrieben wird. - Freilich, viele "Menschen liegen in Ketten", heißt es in der Weimarer Antrittspredigt :

"[...] sie können nicht, wenn sie gleich wollten; sie wollen nicht, weil sie fühlen, daß sie nicht können, weil ihnen ihr Acker und ihre Nahrung und Hantierung, ihr Joch Ochsen und ihr neugenommenes Weib zu lieb ist: tot in Sünden! - Wem' s aber Gott gibt, Sinn und Gefühl des Bessern, Glaube an das Unsichtbare und das entfernte Glück, einen Sinn für das, was ihm fehlt und was er haben kann, Gefühl des besseren Menschen im freien, reinen, frohen Sinne Jesu Christi, - o, ihm wird alles nichts sein gegen die Gabe Gottes in Christo; für gering wird er alles achten gegen die freie, edle, christusgleiche Hoheit und Ruhe, die ihm bevorsteht; [...]. Und [...] wie anders wird uns denn auch in unsrer Zeit, unsrem Leben und unserm Gottesdienste werden, wenn wir so fühlen! Wir werden Religion und Tugend nicht für Pflichten, für ein geerbtes Joch, sondern für Seligkeit, höchste Würde der Menschennatur und für ein Ziel ansehen, zu dem wir nicht um Gottes, sondern um unser selbst willen streben."

"Wem's aber Gott gibt - welche Seligkeit hat der" - nein, das klingt zu leicht, zu harmonisch, um ganz glaub-würdig zu sein. Nach der Lektüre solcher Predigtpassagen ist man geneigt, Karl Barth recht zu geben, der gemeint hat, man könne von Herder "nur unter schwersten Vorbehalten sagen, [...] daß er verstanden habe, was Kirche und Gnade ist."

In den Jahren 1780/81 veröffentlicht Herder die "Briefe, das Studium der Theologie betreffend"; der vierzigste dieser Briefe enthält ein Plädoyer für die "biblische Predigt". Das ist keine Predigt, welche die biblische Sprache nachahmt, sondern Predigt, die Luthers am Ende des Briefes zitierter Weisung folgt: "Einfältig zu predigen, ist eine große Kunst. Christus thuts selber: er redet allein vom Ackerwerk, vom Senfkorn und braucht eitel gemeine Gleichnisse. Wer seine Gleichniß in Predigten herfürbringen kann, solches behält der gemeine Mann. Der beste Prediger ist der, von dem man sagen kann, wenn man ihn gehört hat, das hat er gesagt." Der Redner Gottes als Lehrer, welcher - mit Herders Worten - aus "Vorfällen und Gelegenheiten Parabeln und Gleichnisse" hebt und immer '` ', also zum Menschen, spricht - diese positive, für uns noch nachahmenswerte Seite von Herders Ideal stehe - nach aller Kritik - am Ende dieses Abschnitts. Wie sehr Herder selbst an lebendiger biblischer Gleichnisrede geschulter Prediger ist, möge eine Passage aus der Weimarer Antrittspredigt zeigen:

"Wer hat sich je ärger gegen Wahrheit gesträubt als das sogenannte Volk Gottes im A. und N.T. und noch bis jetzt und zu ewigen Zeiten! 'Die Hochzeit, klagt Jesus, war bereitet; aber sie verachten das.' Wer fühlt sich in den Eingeweiden Gottes, wo alles Wahrheit, Liebe und Gabe ist, und klagte nicht mit bei dieser Klage? Welch rührendes Bild ist im A. und N.T. ungebraucht geblieben, die Empfindung Gottes auszudrücken, wenn er seine Mühe und Hülfe vergebens angewendet fühlt und statt des genossenen Gastmahls eine flammende Stadt und Mord gewahr wird? Es war die Empfindung Jesu, da er weinte und sagte: 'Wenn du wüßtest, was zu deinem Frieden dient!' Es war die Empfindung des Paulus, da er sagte: 'Ich wünschte verbannt zu sein für meine Brüder.' Es ist die Empfindung aller Propheten, wenn Gott durch sie über seinen aus der Art geschlagenen Erstgeborenen, über seine verlorene geliebte Braut und Schwester, über seine Freunde und Gesellen der Freude und des Lebens klagt. Je mehr oder weniger wir Gefühl göttlichen Sinnes haben, wird die Klage in uns übergehen: 'Auch mir war die Hochzeit bereitet, und leider bin ich' s nicht wert!'"

2. Der Redner Gottes hat den Ton der Seele

Aus der im vergangenen Abschnitt zuletzt herangezogenen Textstelle erhellte es schon: Empfindung und Gefühl sind für den Prediger Herder entscheidende Stichworte. Er will uns nicht nur Neues entdecken und erkennen lassen, er will uns auch an seinen Erlebnissen teilhaben lassen, mit uns das Göttliche empfinden. Um wieder die Schrift vom Redner Gottes zu zitieren:

"Die Andacht muß nicht höchste Anstrengung und Leidenschaft, sondern bloß Ton der Seele sein: und dies ist selbst dem sinnlichsten Menschen in einem kleinen Grade möglich. Wenn zwei Brüder sich vor den Augen des Vaters nach einer langen Trennung umarmen, so gibt seine Gegenwart ihrem ganzen Gespräche Ton: wie wenn nicht zwei oder drei, sondern zehn, hundert, tausende wie Brüder vor den Herrn treten und ein Herz und eine Seele werden: sich vereint hinknien und beten - und er, der Allgegenwärtige, alles durchströmt und in die Seele schauet und wirket - so öffnet sich die Seele, und wenn eine mystische Entzückung Schwärmerei, Selbstbetrug und Schade wird: so ist dieser stille Ton der Seele, da sie sich untadelhaft vor dem Auge der schauenden Gottheit erhält, gleich einem stillen See, der auf einen belebenden sanften Hauch des Abendzephyrs wartet."

Während wir im ersten Teil in Herder den Aufklärer erkannten, zeigt er sich hier als Vertreter des Zeitalters der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. Freilich, an der Diktion konnte man es immer schon bemerken: Wie redet Lessing über den Lehrer und wie Herder.

Stellenweise berührt uns Heutige die Authentizität, die Wahrhaftigkeit des Gefühls außerordentlich. Einige dieser Passagen laden ein zum Weiterdenken, Meditieren, Variieren. Manchmal möchten wir allerdings auch wieder bitten: eine Oktave tiefer, etwas weniger crescendo bitte, Herr Generalsuperintendent... Auch hier werden wir zu oft geführt, fehlt uns zu oft die Einladung, mit unseren eigenen Empfindungen zu antworten. Aller gefühlvolle Aufschwung des Einzelnen in der Rede hat ja die Gefahr, wenig kommunikabel zu sein, da ist als Korrektiv der Dialog mit anderen Empfindungs- und Denkweisen vonnöten. Lessing hat davon gewußt, in seinem 49. Literaturbrief heißt es - zu Klopstock - : "Die Wahrheit läßt sich nicht so in dem Taumel unserer Empfindungen haschen! ... [Die] kalte metaphysische Art über Gott zu denken [...] muß gleichsam der Probierstein [...] aller unsrer Empfindungen von Gott sein."

Weniger in den Predigten als vielmehr in theologischen und philosophischen Schriften der frühen Zeit (die ja aber auch als Anrede, als Belehrung und Seelsorge im weiteren Sinne gedacht sind) gibt es Abschnitte, in denen der Strom der Empfindungen den Autor so weit davonträgt, in denen der "deklamatorische Elisions- und Interjektionsstil" (Rudolf Haym) so heftig wird, daß man schlechterdings gar nichts versteht. Viele andere, gerade "weltliche" Schriften enthalten wiederum große Entwürfe voll prophetischer Rede, die auch den heutigen Redner und Prediger anregen und beflügeln können. So sind die "Sieben Gesinnungen der großen Friedensfrau" aus den Humanitätsbriefen ein in weltliche Rede übersetztes "Selig sind die Friedfertigen" und ein Glanzstück deutscher Prosa.

Doch zurück zum Kanzelredner Herder, zu Herder als lehrendem Redner, als Redner Gottes, der den Ton der Seele trifft - viel Faszinierendes hat er zu bieten und viel Befremdliches, viel Anregendes, Vorbildhaftes und vieles, was unsere Kritik herausfordert. Es ist an der Zeit, daß ein von Walter Jens schon vor Jahren angeregtes Handbuch publiziert wird, das "die Predigten der Meister zitiert" - zum kritischen Gebrauch für Prediger und Gemeinde, zum Kennenlernen der großen Tradition, der Herder angehört.

3. Die Grazie des Redners Gottes

Dieses Stichwort hat nun gar keinen Anhalt in der Schrift vom Redner Gottes. Es ist einer Rigaer Schulrede entnommen: "Die Grazie? Welch ein ungewohnter Ausdruck! Verzeihen Sie, meine Herren, dieses Wort, das in der neuern schönen Literatur schon das Bürgerrecht erhalten; nennen Sie es Reiz, Anstand, Schönheit, Anmut, Annehmlichkeit, Holdseligkeit - alles dies sind Teile, sind Grade, sind Charaktere der Grazie, aber kein Wort einzeln erschöpft ihren Begriff ganz. [...] ich will zeigen, wie sie ihre Reize über den Unterricht und Methode, über den Charakter und die Sitten des Lehrers ausgießen muß."

Mit dem Wort Grazie (darin schwingt natürlich die theologische Bedeutung von gratia - Gunst und Gnade - mit) ist vielleicht der eigentliche Hauptzug Herderscher Beredsamkeit getroffen. Denn alles, was wir bisher bemerkten, gilt wohl für die überlieferten Texte; doch aus ihnen allein ist kein vollständiges, gültiges Urteil über den Prediger Herder zu gewinnen. Abgesehen davon, daß viele Texte nur Entwurfs- und Stichwortcharakter tragen, daß nur ein Teil der vorhandenen Manuskripte in die Suphansche Ausgabe aufgenommen wurde - Herder hat auch eigentlich keine Veröffentlichung seiner Predigten gewollt, "nur einige wenige von den Predigten, die er bei besonderen Anlässen gehalten hat, sind mit seiner Zustimmung gedruckt worden." Er setzte auf die Unmittelbarkeit der Begegnung von Redner und Hörer und sprach - trotz ausführlichen schriftlichen Vorbereitungen - meistens frei.

Alle aber, die ihn gehört haben, waren sich darin einig, daß Herder die von ihm geforderte Grazie selber besessen habe. Die pietistische Gräfin zu Schaumburg-Lippe lobt genauso wie Wieland oder Schiller das Gewinnende, den Reiz und die Natürlichkeit seiner Rede.

Durch den Zauber seiner Person ist Herder vielen Predigthörern dann auch mehr geworden als ein Lehrer, er wurde zum Begleiter, Freund und Zuhörer. Caroline Herder hat geschrieben: "Sein zartfühlendes Gemüt ging bei jedem Anlaß leicht in das Gefühl anderer ein, und in jedem, ohne Unterschied, der seiner Hilfe bedurfte, sah er seinen Nächsten. Belehrung, Rat und Trost gab er gerne mündlich jedem, der ihn suchte, ungern aber schriftlich."

So können wir aus nur wenigen Zeugnissen die eigentliche Wirkung und Bedeutung des Predigers und Seelsorgers Herder mehr erahnen als erfahren. Beispiel einer durchaus dialogischen Praxis, einer - psychologisch gesprochen - "nichtdirektiven Therapie" sind die Gespräche mit dem Schweizer Theologiestudenten Johann Georg Müller, der am 7. Oktober 1780 in sein Tagebuch schrieb: "Ich konnte frei von der Brust reden; [...] Ich fühlte mich im geringsten nicht gedruckt. Seine Worte - o, so voll Huld und lächelnder, lieblicher Grazie - flößten mir immer mehr Zutrauen ein."