Buchbesprechung: Otfried Höffe (Hrsg.), 'Klassiker Auslegen', Bd. 2: Aristoteles - Die Nikomachische Ethik, Berlin (Akademie Verlag) 1995

Die großen Bücher, die zum Kanon der philosophischen Schlüsseltexte gezählt werden, haben unter anderem deshalb solche Bedeutung weil sie immer wieder in neuen Problemzusammenhängen zu Beiträgen im aktuellen Kontext inspirieren. Mit Erstaunen nimmt man dann bei der erneuten Lektüre wahr, wie die klassischen Autoren scheinbar auf Fragen antworten, die man selbst eben erst aus der gegenwärtigen Problemsituation entwickelt zu haben glaubt.

So verhält es sich auch mit den Texten des Aristoteles. Auch er wurde in verschiedenen Epochen als 'Zeitgenosse' und Mitdenker erkannt und anerkannt. Schon in der nachklassischen Ära der Wiederaufnahme seines Denkens durch Averroes (in der arabischen Welt) beziehungsweise Maimonides (im jüdischen Kulturraum) wird er 'aktuell' weil er eine plausible Grundlage für den Wissenserwerb bei gleichzeitiger Stabilisierung des Weltbildes zu bieten schien.

So verhält es sich auch mit der Aristoteles-Rezeption der Gegenwart, die besonders in den angelsächsischen Ländern für die Herausarbeitung eines neuen Tugendethik-Begriffes und kommunitaristischer Theoreme eine große Rolle spielt.

Hierbei erscheint der Kommunitarismus oft als gegenläufige Bewegung zu universalistischem Denken kantianischer Provenienz. Gegen eine abstrakte Moral soll die Anerkennung der Herkommens, der Tradition und der Verbindlichkeiten konkreter, historisch gewachsener Gemeinschaften gesetzt werden. Wie auch immer man die Konfliktlinien zwischen Kommunitarismus und Liberalismus einschätzen mag, und ob man nicht die ganze Debatte oft nur als einen Streit um Worte sieht, da auch im klassischen Liberalismus kommunitäre Elemente durchaus eine Rolle spielten und nur wenige Kommunitaristen die Errungenschaften liberaler Bürgergesellschaften wirklich zur Disposition stellen möchten, das sei dahingestellt. Zu denen, die sich jenseits griffiger Schlagworte um eine differenzierte Darstellung von Trennendem und Gemeinsamem zwischen beiden Lagern bemüht haben, gehört jedenfalls Otfried Höffe. Bei ihm wurden schon mehrfach in Interpretationen Kantischer Theorien zu Politik und Moral ungewohnte Aspekte sichtbar, die auch einer schnellen Verrechnung Kantischer Theorie als einer 'logozentrischen' widersprechen.

Im Band über Aristoteles' Nikomachische Ethik, den er als Teil der Reihe 'Klassiker Auslegen' des Akademie-Verlages vorlegt, wird das Problemfeld nun von einer anderen Seite angegangen. In seinem einleitenden Beitrag, aber auch in dem Schlußkapitel 'Ausblick: Aristoteles oder Kant - wider eine plane Alternative' nimmt er Korrekturen am herkömmlichen Bild vor, die in folgenden Thesen gipfeln:

"...(1) Nach der Intention der Ethik als einer praktischen Philosophie ist Kant ein Aristoteliker. (2) In den Grundelementen seiner Ethik ist Aristoteles Universalist. (3) Dort, wo Aristoteles angeblich über Kant hinausreicht, bei der Urteilskraft, gibt er eine Analyse vor, die Kant in der Sache sowohl anerkennt als auch moralphilosophisch weiterführt. (4) Hinsichtlich der Handlungstheorie weisen einige der Aristotelischen Analysen über den eigenen, nur strebenstheoretischen Ansatz hinaus. Und (5) in der Lehre vom Glück gelingt ihm, wogegen Kants These der begrifflichen Unbestimmtheit eine grundsätzliche Skepsis äußert: er entwickelt einen objektiven und erstaunlich weit wohlbestimmten Begriff." (S. 303)

Innerhalb des von Höffe vorgegebenen Rahmens versammelt der Band unterschiedliche Beiträge, die jeweils Teilaspekte oder Abschnitte des Werkes behandeln. Die Autoren sind John L. Ackrill, Hellmut Flashar, Ursula Wolf, Christof Rapp, Günther Bien, Theodor Ebert, Richard Robinson, Friedo Ricken, Anthony Price und Wolfgang Kullmann. Illustre Namen also, von denen Originalbeiträge und Wiederabdrucke nebeneinander stehen.

Nun folgen aber diese Autoren nicht einfach den Höffeschen Vorgaben, sondern zu verschiedenen Aspekten des Werkes wird ein je unterschiedlicher Zugang eröffnet, wenngleich die Arbeiten verhältnismäßig oft die Darstellung einzelner Tugenden und deren Beziehung zur Handlungstheorie in den Mittelpunkt stellen. Dennoch entsteht der Eindruck einer gewissen Uneinheitlichkeit, vor allem wo der Band als Einführung auch für Nichtphilosophen gedacht ist.

Wenngleich also die konzeptionellen Vorgaben vielleicht noch schärfer gefaßt werden sollten, machen das hohe Niveau der Beiträge und die sorgfältige Machart (mit verschiedenen Glossaren deutscher und griechischer Begriffe sowie hilfreichen Literaturhinweisen) die Veröffentlichung durchaus attraktiv.

B. Villhauer

  
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